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Die Geschichte Moradbaks

Hudschadsch, einen der berühmten Perserkönige, befiel eine so hartnäckige Schlaflosigkeit, wie sie noch niemals ein Beispiel gegeben hatte; sie regte sein Blut so erstaunlich auf, daß er grausam und wild wurde nach Sanftmut und Menschlichkeit, welche er bezeigt hatte, als er sich der Ruhe wie andere Menschen erfreute.

Er hatte zwar seit zwanzig Jahren alle Heilmittel der Weisen und der berühmten Ärzte des Orients angewandt, doch waren alle ihre Ratschläge und Heilmittel nutzlos gewesen. Endlich wußte er nicht mehr, welches Mittel er gebrauchen sollte, um den Schlaf wiederzufinden, und gab seinem Wesire, der gewöhnlich bei ihm wachte, Befehl, einen Mann mit Namen Fitead vor sich zu führen, der die Wache des Palastes und eines besonderen Gefängnisses versah, das diesem angeschlossen war. Hudschadsch hatte sich eingeredet, daß ein so seßhafter Mann, der ein Pförtner und Kerkermeister alles in einem war, gewiß vieler Menschen Geschichte und Unglück habe erzählen hören, und daß diese Erzählungen ihm vielleicht den Schlaf wiederbringen könnten. Als Fitead nun vor ihm stand, sprach er zu ihm: »Ich kann keine Ruhe finden und will, daß du mir Geschichten erzählst!« »Ach, o erlauchter Gebieter,« verwahrte sich Fitead dagegen, »ich kann weder lesen, noch habe ich Gedächtnis; und ich habe mich immer damit begnügt, die Tore deines königlichen Palastes genau zu schließen und die Gefangenen, die du mir anvertraut hast, sorgfältig zu bewachen; und ich habe niemals an andere Dinge gedacht!« »Ich glaube, daß du die Wahrheit sprichst,« sagte Hudschadsch dawider, »doch wenn du mir niemand ausfindig machst, der mir Geschichten erzählt, die mich einschlafen lassen oder mich unterhalten, wenn ich schlaflos daliege, so lasse ich dich des Todes sterben. Gehe nun; ich gebe dir drei Tage, um meinen Befehl auszuführen; kommst du ihm nicht nach, halte ich dir mein Wort.«

Beim Weggehen sagte Fitead zu sich selbst: ›Niemals werde ich Ärmster ausführen können, was mir der König befiehlt, und weiß mir keine andere Rettung, als das Land zu verlassen und mein Heil anderswo zu versuchen!‹ Indessen ging er durch die Stadt und befragte alle, die ihm begegneten, ob sie keinen Menschen kennten, der Geschichten oder Märchen wüßte, die Schlaf bewirken könnten; doch machte sich jedermann über seine Frage lustig und ließ ihn in seiner Erregung. Er kehrte sehr traurig und sehr niedergeschlagen heim. Fitead aber war Witwer und hatte eine Tochter im ungefähren Alter von zwölf Jahren, die sehr schön war und auch viel Witz hatte; die hieß Moradbak oder Erfüllung des Wunsches. Sie bemerkte gleich den Kummer, der ihren Vater drückte; sie stellte daher so flehentliche Fragen an ihn, daß er ihrer Neugierde bald Genüge tat. Moradbak beschwor ihn, sich nicht weiter zu betrüben und auf Allah sein Vertrauen zu setzen, indem sie versicherte, daß sie bereits morgigen Tages zu finden hoffte, was der König erst in drei Tagen von ihm forderte; und Fitead wartete ungeduldig auf die Erfüllung des töchterlichen Wortes.

Als die Nacht angebrochen war, ging Moradbak in ihr Gemach, zog die Matte fort, die zwischen ihrem Bette und der Wand war, und schlüpfte in das Erdgeschoß, trat an das Eisengitter und begann den Weisen Abumelek über eine solch schwierige Lage um Rat zu fragen.

Zum Verständnis unserer Geschichte muß man wissen, daß der König Hudschadsch einst diesen berühmten Mann hatte einkerkern lassen, mit dem Befehle, ihm nur Brot und Wasser zur Leibesnahrung zu geben und ihn zu verhindern, mit jedem, wer es auch sein möchte, zu sprechen. Der Fürst hatte jedoch den Weisen und die Befehle, die er – es mochten schon fünfzehn Jahre her sein – gegeben hatte, vollkommen vergessen. Der Weise, der kaum einer war, dieweil er einen König bessern wollte, war an den Hof des Fürsten in der Hoffnung gerufen worden, seine Schlaflosigkeit zu heilen; und um sie zu heben, hatte er ihm auseinandergesetzt, wie sehr die Grausamkeit das Blut erbitterte und den Schlaf fernhalten mußte; doch wurde er für diesen heilsamen Rat mit einer Gefangenschaft, die grausamer denn der Tod war, bestraft.

Es waren nun bereits drei Jahre vergangen, daß die junge Moradbak in dem Zimmer, das sie bewohnte, beim Spiele mit einem Vogel, der seit einigen Tagen ihre ganze Unterhaltung ausmachte, hinter ihrem Bette eine Matte gefunden hatte und hinter dieser Matte eine schlecht verschlossene Stelle der Mauer, die einige Öffnungen ließ, in die sich der Vogel, der ihre Freude war, versteckt hatte. Ihre Rufe, um ihn zur Rückkehr zu bewegen, waren nutzlos, und vom Verlangen nach dem kleinen Tiere bewegt, lockerte sie einige Steine mit solcher Leichtigkeit, daß sie sehr bald in einen Geheimgang eindringen konnte, dessen Türe sehr schlecht vermauert war. Moradbak fing ihr Vögelchen; und aus Furcht, gescholten zu werden, weil sie die Mauer eingerissen hatte, trug sie Sorge, die Türe zum Geheimgang derart mit der Matte zu verdecken, daß man sie nicht bemerken konnte. Jugend ist neugierig. Der Geheimgang, so schrecklich wie er auch beim ersten Sehen schien, war hinreichend breit und hoch, um einen Menschen durchgehen zu lassen. Moradbak gewöhnte sich nach und nach daran, ihn ohne Grauen zu sehen. Einige Seufzer, die sie aus dem äußersten Ende des Geheimganges vernahm, verursachten ihr anfangs Schrecken, der sich aber bald gab; sie wollte wissen, von wo sie kämen; zwanzigmal ging sie vorwärts, zwanzigmal kehrte sie wieder um; aber endlich fand sie, daß der Geheimgang zu dem Gefängnisse führte, das den Weisen Abumelek barg, und daß sie nur von ihm getrennt war durch zwei schreckliche Eisengitter, die das Gefängnis abschlossen. »Wer du auch bist,« sagte der Weise zu ihr, »habe Mitleid mit meinem Unglück!« »Ach,« erwiderte ihm Moradbak, »was kann ich für dich tun ? Ich bin Fiteads Tochter und nur neun Jahre alt, mein Vater wird mich vielleicht ausschelten, weil ich mit dir gesprochen habe! Bist du vielleicht der Gefangene,« fuhr sie fort, »dem er alle Tage Brot und Wasser bringt und den ich nicht sehen soll?« »Der bin ich«, sagte Abumelek darauf; dann trat Moradbak, kühner geworden, an die Eisengitter, und bald trug sie alles dorthin, was in ihrer Macht stand, auch die kleinen Erquickungen, derer sie sich oft beraubte, um die harte Gefangenschaft des Weisen zu lindern. Um sich für ein so gutes Gemüt dankbar zu bezeigen, beschloß er seinerseits, ihre Seele durch Tugend und erhabene Kenntnisse zu bereichern. Zur Ausführung dieses Planes hatte er ihr, um diese geistigen Lehrstunden angenehmer zu machen, mehrere Geschichten erzählt. So hatte denn Moradbak, als sie ihrem Vater versprach, ihm einen Mann, wie er ihn suchte, zu finden, anfangs nur daran gedacht, ihm den Weisen Abumelek vorzuschlagen; und sie hatte selbst das Verlangen Hudschadschs für ein Mittel gehalten, ihm die Freiheit zu verschaffen, und für eine Gelegenheit, derer sie sich bedienen könnte, sich ihm für die Verbindlichkeiten, die sie ihm dankte, erkenntlich zu zeigen. Indessen wollte sie ihn um Rat fragen, ehe sie ihrem Vater irgendeinen Vorschlag machte, um in Erfahrung zu bringen, wie sie, ohne ihm zu schaden, von ihm sprechen, oder wie sie schließlich Fitead bestimmen könnte, sich seiner in der gegenwärtigen Lage in einer Weise zu bedienen, die natürlich erschiene und weder den einen noch den andern in Verlegenheit brächte. Mit solchen Gedanken trat sie vor das Gitter des Gefängnisses und teilte dem Weisen ihr Erlebnis und ihre Pläne mit. Abumelek entgegnete ihr aber, daß sich Hudschadsch vielleicht noch der Drohungen entsänne, die er gegen ihn ausgestoßen hatte, ja daß ein solcher Vorschlag ihn gefährden könne; besser würde es sein, wenn sie sich selber erböte, die Geschichten, die man wünschte, zu erzählen. »Du hast Gedächtnis,« fügte er hinzu, »ich habe dir ihrer mehrere erzählt und will dir weiterhin noch, so viele du nur immer nötig hast, erzählen. Geh und vergiß nicht, daß du alles aufbieten mußt, um deinem Vater das Leben zu retten!« Die Rede machte Eindruck auf die junge Moradbak, die trotz ihrer Verdienste keine zu gute Meinung von sich hatte; und sie beschloß, sich am folgenden Morgen ihrem Vater in Vorschlag zu bringen. »O mein Vater,« redete sie ihn an, »ich bin glücklich genug, dich aus der Verlegenheit, in der du bist, zu retten und so dein Leben vor der Grausamkeit Hudschadschs zu schützen!« »Ach, o meine Tochter, wie dankbar bin ich dir,« sprach er, indem er sie tränenden Auges umarmte, »wo finde ich die treffliche Persönlichkeit, der ich so verbunden sein muß? Ich will mich ihr zu Füßen stürzen und ihr die lebhaftesten Beweise meiner Dankbarkeit geben!« »Du hast nicht weit zu gehen,« sprach Moradbak darauf, »um ihr für etwas zu danken, das sie Pflicht und Gefühle mit Freuden unternehmen lassen. Ich bin es«, fuhr sie fort. »Du bist es,« rief Fitead mit einer Überraschung aus, in die sich Schmerz mischte, »ich weiß dir Dank für deinen guten Willen, aber wenn du mir keine andere Hilfe bieten kannst, sehe ich wohl ein, daß ich mich entschließen muß, außer Landes zu gehen. Bereite dich vor, mir auf der Flucht zu folgen; ich weiß mir keinen andern Rat, vielleicht werden wir anderswo glücklicher sein!« »Wenn du zur Flucht aus unserm Vaterland gezwungen würdest,« entgegnete ihm Moradbak, »so wollte ich dir mit Freuden folgen; aber du hast dich einer solchen Strafe nicht zu fügen. Sei ruhig, ich stehe dir für alles ein. Der König kann nicht schlafen, ich rechne wahrhaftig nicht damit, ihm beschwerliche Fragen zu stellen, die den Verstand anstrengen, wie es die indischen Philosophen tun, wie zum Beispiel:

Ein Weib ist in einem Garten, wo sie Äpfel erntet. Der Garten hat vier Tore, deren jedes von einem Manne bewacht wird. Das Weib gibt nun dem Hüter des ersten Tores die Hälfte dieser Äpfel; als sie beim zweiten anlangt, gibt sie dem zweiten Wärter die Hälfte der übriggebliebenen Äpfel; dasselbe tut sie beim dritten; endlich teilt sie noch mit dem vierten, so daß ihr schließlich nur zehn Äpfel bleiben: nun fragt man, wieviel Äpfel sie geerntet hat.«

Der erstaunte Fitead wollte erraten, wie viele die Frau tatsächlich geerntet hat; doch Moradbak unterbrach seine Rechnerei und sagte ihm: »Sie hat einhundertsechzig gepflückt. Sei versichert,« fuhr sie fort, »daß ich mich in den rechten Grenzen zu bewegen weiß, die mein Unternehmen verlangt; fürchte nicht, daß ich mich wie die Frau aufführen werde, der Ebuali Sina das Glück geschenkt hatte, die aber die Bestimmungen nicht einhalten konnte, die ihr der Weise vorgeschrieben hatte. Aber höre doch die Geschichte an!« Fitead stimmte zu, und Moradbak fuhr also fort:

»Ebuali Sina, der weise Derwisch, den der Prophet über die Maßen liebte, brachte eine Nacht bei einer armen Frau zu, die alle Pflichten der Gastfreundschaft ihm gegenüber ausgeübt hatte. Er war ob des traurigen Zustandes, in dem sie sich befand, gerührt, wollte ihr in ihrem Unglück helfen und löste einen Stein aus der Mauer ihres Hauses, sprach einige Worte über ihm; dann brachte er ihn wieder an seinen alten Platz und bohrte eine kleine Rinne hinein, an deren Ende er einen Hahn anzubringen nicht versäumte. Nun sprach er zu der Frau, indem er sich bedankte und verabschiedete, solcherart: ›O meine liebe Mutter, wenn du Permetzwein haben möchtest, so öffne den Hahn und ziehe so viel ab, wie du wünschest. Nimm das davon, das du für deinen Bedarf gebrauchst, und trage das übrige zum Markte. Sei gewiß, daß der Quell niemals versiegen wird. Alles, was ich verlange, ist: lockere niemals den Stein, um zu sehen, was ich hinter ihn gelegt habe!‹ Die gute Frau aber versprach ihm das, und eine Zeitlang befolgte sie das Gebot des heiligen Mannes. Sie bediente sich des Quells, und Wohlstand herrschte bald in ihrer bescheidenen Häuslichkeit; endlich erfaßte sie jedoch eine so starke Neugierde, daß sie ihr unterlag. Sie entfernte den Stein und fand dahinter nur eine Weinbeere. Sie brachte alles wieder an seinen Platz wie vorher, doch der Permetz rann nicht mehr und blieb für immer aus.

Sei überzeugt, o lieber Vater,« fuhr Moradbak fort, »daß ich den Stein in dem allzu heißen Wunsche, Gutes zu tun, keineswegs von seiner Stelle nehmen werde, sondern die Unterhaltungen, die ich mit dem Könige pflegen werde, benutzen will; und du sollst nicht bereuen, mich vor ihn geführt zu haben, um ihm zu erzählen!«

Fitead war entzückt über Moradbaks großen Geist, umarmte sie mehrere Male und begab sich mit der festen Zuversicht, daß ihn keine Vorwürfe treffen würden, an sein Geschäft; und er ging dann zum Morgenempfang des Königs – oder besser gesagt zu seiner ersten Audienz, die sehr früh am Morgen stattfand, denn er schlief ja nicht – und sprach zu ihm, sich vor ihm niederwerfend: »Deine Erhabenheit gab mir gestern drei Tage Frist, um einen Menschen zu finden der dir Geschichten erzählt; indessen bin ich in der Lage, dir schon heute einen zuführen zu können, mit dem du, wie ich hoffe, zufrieden sein wirst!« »Du tatest wohl daran, jemand zu finden,« nahm Hudschadsch das Wort, »dein Kopf haftete mir dafür. Aber wen willst du mir zuführen?« »O Gebieter,« entgegnete ihm Fitead, »meine Tochter!« »Deine Tochter?« fragte der König; »wie alt ist sie?« »Zwölf Jahre«, versetzte Fitead. »Du machst dich über mich lustig,« unterbrach ihn Hudschadsch voller Zorn; »was mag man in dem Alter erzählen können! O Wesir,« fuhr er fort, »laß diesen Unverschämten zur Stunde bestrafen.« Der Wesir machte ihn mit sehr viel Schonung darauf aufmerksam, daß man ihn ja immer bei der Hand habe, um ihn zu strafen, wenn er das Vertrauen seines Gebieters mißbrauche; zu Fiteads Glück sah Hudschadsch solches ein und sprach zu seinem Türhüter: »Komme also heute abend, bringe deine Tochter mit, wir, der Wesir und ich, wollen die schönen Geschichten eines Kindes anhören; und ich wünsche,« sagte er, sich nach Fiteads Seite wendend, »daß du selbst sein Verdienst beurteilst; und je nachdem solches ausfällt – ich schwöre es bei meinem Barte –, sollst du bestraft oder belohnt werden!«

Fitead zog sich zurück und ließ Moradbak um das Vorgefallene wissen, indem er sagte, daß sein Leben in ihrer Hand sei; doch hatte sie so viel Vertrauen auf die Worte des weisen Abumelek, daß sie alles tat, um ihren Vater zu beruhigen. Als der Abend hereingebrochen war, führte sie Fitead in die Gemächer des Königs, der sie mit Erstaunen kommen sah, die Größe ihrer Gestalt und ihre Schönheit dämpften Hudschadschs Grimm ein wenig; indessen sprach er zu ihr: »Erzähle mir etwas, so mich einschläfert oder unterhält; wir wollen sehn, ob du deinem Vater das Leben retten kannst.« Moradbak war nicht erstaunt über einen so wenig zuvorkommenden Anfang, Abumelek hatte sie über Hudschadschs Charakter aufgeklärt; mit Festigkeit nahm sie das Wort, nachdem sie vom Könige Befehl erhalten hatte, ebenso wie der Wesir und gar Fitead, Platz zu nehmen, und begann mit folgenden Worten:


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