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Die Geschichte von dem ungetreuen Verwahrer

Ein Kaufmann, der im Begriffe stand, auf Reisen zu gehen, ließ bei einem seiner Freunde, einem Derwische, einen goldgespickten Geldbeutel zurück; nach beendeter Reise bat er sich sein ihm anvertrautes Gut wieder aus, jedoch leugnete der treulose Derwisch, etwas erhalten zu haben. Der entrüstete Kaufmann trug seine Klagen Moavie, dem Kadi von Bagdad, vor. Wenn unser Kaufmann weniger vertrauensselig gewesen wäre, als er dem Derwisch sein Gold überließ, und einen Zeugen dazu genommen hätte, wäre die Angelegenheit schnell zu entscheiden gewesen; aber er hatte diese Vorsichtsmaßregel außer acht gelassen. Der Kadi merkte wohl, daß es ein Ding der Unmöglichkeit sein würde, den ungetreuen Verwahrer zu überführen, sagte aber trotzdem zum Kaufmann, er solle anderen Morgens zurückkommen, und ließ auf der Stelle den Derwisch vor sich führen.

Der Kadi empfing ihn gütig und bezeigte ihm eine Achtung, die er nicht fühlte, um dadurch sein Vertrauen zu gewinnen. Nach einer ziemlich langen Unterhaltung sagte er zu ihm: »Wichtige Angelegenheiten zwingen mich, für einige Zeit außer Landes zu gehen. Ich habe eine beachtliche Summe in Gold, die ich nicht mit mir zu nehmen wage, ich würde dich nicht zu meinem Verwahrer machen, wenn ich in der Stadt hier einen rechtschaffeneren Mann als dich kennte. Da es geheimgehalten werden muß, so will ich dir mein Gut morgen in der Nacht schicken!« Der hocherfreute Derwisch versicherte den Kadi seiner Redlichkeit, die zu brechen er fest entschlossen war, und kehrte in seine Wohnung zurück.

Anderen Morgens versäumte es der Kaufmann nicht, zum Kadi zurückzukehren; sobald der ihn erblickte, sprach er zu ihm: »Gehe zu deinem Derwisch, und wenn er sich weigert, dir dein ihm anvertrautes Gut zurückzugeben, so drohe ihm, du wolltest mir deine Klagen vorbringen!« Der gehorchte ihm eifrig. Wie nun der Derwisch von dem Kadi sprechen hörte, dessen Vertrauen zu bewahren in seinem Nutzen lag, gab er sofort das Gut zurück; der überaus zufriedene Kaufmann eilte zum Kadi und bezeigte ihm seine Dankbarkeit.

Indessen wartete der Derwisch voller Ungeduld auf die Erfüllung der Zusage, die ihm gegeben worden war: überrascht, keinerlei Nachrichten zu empfangen, begab er sich zu dem Kadi; wie groß jedoch war seine Überraschung, als ihm von diesem seine schlechte Aufführung vorgeworfen wurde. Ganz verstört zog er ab und war verzweifelt, daß ihn seine Vertrauensseligkeit so genarrt hatte.


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