Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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12

Als Natalie mit ihrem Mann allein geblieben war, unterhielten sie sich auch so, wie nur Mann und Frau sich unterreden können, das heißt, indem sie mit ungewöhnlicher Klarheit und Schnelligkeit einander verstanden und ihre Gedanken mitteilten auf einem allen Regeln der Logik widersprechenden Wege, ohne Vermittlung der Überlegung und Schlußfolgerung, sondern auf ganz eigentümliche Weise. Natalie war sehr daran gewöhnt, auf diese Weise mit ihrem Manne sich zu unterhalten, daß ein logischer Gedankengang Peters ein untrügliches Anzeichen dafür war, daß zwischen ihr und ihrem Manne etwas nicht richtig war. Wenn er etwas behauptete, überzeugend und ruhig sprach, so wußte sie, daß dies unfehlbar zum Zank führte.

Als sie allein geblieben waren, trat Natalie mit weitgeöffneten glänzenden Augen leise auf ihn zu, ergriff rasch seinen Kopf, drückte ihn an ihre Brust und sagte: »Jetzt, jetzt bist du ganz mein, ganz mein, du kannst mir nicht entgehen!« Damit begann jenes Gespräch, das allen Regeln der Logik widersprach – schon deshalb, weil zu gleicher Zeit von ganz verschiedenen Gegenständen die Rede war. Diese gleichzeitige Betrachtung von Verschiedenem hinderte nicht nur keineswegs die Klarheit des Verständnisses, sondern war im Gegenteil das sicherste Anzeichen dafür, daß sie einander vollkommen verstanden. Wie in einem Traumgesicht alles unwahr, unsinnig und widersprechend ist außer dem Gefühl, welches das Traumgesicht lenkt, so ist auch in einer Mitteilung, die den Gesetzen der Vernunft widerspricht, nicht die Rede folgerichtig und klar, sondern nur das Gefühl, das die Rede lenkt.

Natalie erzählte Peter von dem Leben und Treiben ihres Bruders, wie sie in seiner Abwesenheit sich gegrämt, und wie sie Marie noch mehr lieben gelernt habe, und daß Marie in allen Beziehungen besser als sie selbst sei. Diese Worte Natalies waren aufrichtig, aber indem sie sie aussprach, verlangte sie auch von Peter, daß er sie dennoch Marie und allen anderen Frauen vorziehen, und daß er ihr das wiederholen solle, besonders jetzt, nachdem er viele Damen in Petersburg gesehen hatte.

Indem Peter auf Natalies Worte antwortete, erzählte er ihr, wie unerträglich ihm in Petersburg die Abendgesellschaften und Diners mit Damen gewesen seien.

»Ich habe verlernt, mit Damen zu sprechen«, sagte er.

Natalie blickte ihn durchdringend an und fuhr fort: »Marie ist so entzückend! Und wie sie die Kinder versteht! Sie scheint in ihrer Seele zu lesen! Gestern zum Beispiel war Mitja eigensinnig . . .«

»Ach, wie er seinem Vater gleicht« unterbrach sie Peter.

Natalie begriff, warum er diese Bemerkung von der Ähnlichkeit zwischen Mitja und Nikolai machte. Die Erinnerung an den Zank mit seinem Schwager war ihm unangenehm und er wollte darüber die Meinung Natalies hören.

»Nikolai hat eine Schwäche«, sagte sie »wenn ihm nicht alle beistimmen, so hört er nichts mehr an.«

»Ja, und was die Hauptsache ist, für Nikolai sind Gedanken und Überlegungen nur Zeitvertreib. Er stellt sich eine Bibliothek zusammen und liest alles durcheinander. Du kennst ihn, wie ich . . .« Er wollte seine Worte mildern, aber Natalie unterbrach ihn, wodurch sie andeutete, daß das nicht nötig sei.

»Du sagtest also, Gedanken seien für ihn nur Zeitvertreib.«

»Ja. Für mich aber ist alles übrige nur Zeitvertreib. Ich habe die ganze Zeit über in Petersburg alles wie im Traum gesehen, wenn mich ein Gedanke fesselte, so ist mir alles übrige nur Zeitvertreib, Spielerei.«

»Ach, wie schade, daß ich nicht sah, wie du da vorhin die Kinder begrüßt hast! Welches hat sich am meisten gefreut? Wahrscheinlich Lisa!«

»Ja«, erwiderte Peter und fuhr mit dem fort, was ihn beschäftigte. »Nikolai sagt, wir sollen nicht denken, aber das kann ich nicht. Ich will nicht davon sprechen, daß in Petersburg – dir kann ich das sagen – in meiner Abwesenheit alles zerfiel und jeder nach seiner Seite zog, aber es gelang mir, alle zu vereinigen. Und dann ist auch mein Gedanke so einfach und klar. Ich sage ja nicht, wir sollen diesem oder jenem Widerstand leisten, wir können uns ja irren, sondern ich sage, geht alle Arm in Arm, ihr, die ihr das Gute liebt, und es soll nur eine Fahne geben, die werktätige Jugend. Fürst Fedor ist ein vortrefflicher Mensch und geistreich.«

Natalie zweifelte nicht daran, daß Peters Gedanke großartig sei, aber eins bezweifelte sie, nämlich die Frage, ob er ihr Mann sei. »Kann wirklich ein so wichtiger und für das allgemeine Wohl so notwendiger Mann dabei zugleich mein Mann sein? Wie ist das gekommen?«

»Ich liebe dich schrecklich!« sagte sie plötzlich. »Schrecklich! Schrecklich!«

»Du sprichst von der Trennung, aber du kannst dir nicht vorstellen, welch eigentümliches Gefühl für dich mich nach der Trennung befällt.«

»Nun ja, aber . . .« begann Natalie.

»Nein, nicht das. Ich werde niemals aufhören, dich zu lieben und mehr lieben kann man nicht, aber das ist besonders . . . nun ja . . .« er sprach nicht zu Ende, weil ihre Blicke das übrige sagten.

»Welcher Unsinn«, sagte Natalie plötzlich, »von dem Honigmonat und vom höchsten Glück in der ersten Zeit der Ehe zu sprechen, im Gegenteil, jetzt ist die beste Zeit, wenn du nur nicht verreisen würdest. Erinnerst du dich, wie wir uns gezankt haben? Und immer war ich schuld. Ich erinnere mich noch meiner Aufregung und Widersprüche.«

»Immer über dasselbe«, sagte Peter. »Eifers . . .«

»Sprich nicht davon, ich kann das nicht ertragen!« rief Natalie, und ein kalter, böser Glanz flackerte in ihren Augen auf. »Du hast sie gesehen?« fragte sie nach kurzem Schweigen.

»Nein, und wenn ich sie auch gesehen hätte, hätte ich sie auch nicht erkannt.«

Sie schwiegen.

»Ach, weißt du, im Kabinett, als du sprachst, habe ich dich angesehen«, sagte Natalie, sichtlich bemüht, die aufsteigende Wolke zu zerstreuen. »Du gleichst ihm wie ein Wassertropfen dem anderen!« Sie meinte damit ihren Sohn. »Es ist Zeit, zu ihm zu gehen, aber es tut mir leid, zu gehen.« Sie schwiegen einige Augenblicke, dann plötzlich wandten sie sich gleichzeitig einander zu. Peter begann mit Eifer und Selbstzufriedenheit, Natalie aber mit ihrem ruhigen, glücklichen Lächeln, dann aber schwiegen sie beide, um einander den Vortritt zu lassen.

»Was wolltest du sagen? Sprich!«

»Nein, sprich du!«

»Nichts Wichtiges«, erwiderte Natalie.

Peter sprach aus, was er begonnen hatte. Es war die Fortsetzung seiner selbstzufriedenen Erinnerungen an seine Erfolge in Petersburg. Er glaubte sich in diesem Augenblick berufen, der ganzen russischen Gesellschaft und der ganzen Welt eine neue Richtung zu geben. »Ich wollte nur sagen, daß alle Gedanken, die große Folgen haben, immer einfach sind. Mein Gedanke besteht darin, daß, wenn die lasterhaften Menschen miteinander verbunden sind und eine Gewalt vorstellen, so müssen die ehrlichen Menschen nur dasselbe tun. Das ist doch einfach?«

»Ja.«

»Aber was wolltest du sagen?«

»Nichts Besonderes.«

»Nun, sprich doch!«

»O, nichts Wichtiges«, widerholte Natalie mit einem strahlenden Lächeln, »ich wollte nur von Petja sprechen. Heute, als die Kinderfrau kam, um ihn mir abzunehmen, lächelte er und schmiegte sich an mich, wahrscheinlich glaubte er, er habe sich versteckt! – Furchtbar niedlich! – Nun schreit er wieder, ich muß gehen!« Und sie verließ das Zimmer.


Zu derselben Zeit brannte im Schlafzimmer von Nikolai Bolkonsky, wie immer, eine Nachtlampe, weil er sich in der Dunkelheit fürchtete. Desalles schlief auf seinen vier Kissen, und seine römische Nase ließ ein gleichmäßiges Schnarchen hören. Nikolai war in kaltem Schweiß erwacht und saß mit weit geöffneten Augen auf seinem Bette. Ein schrecklicher Traum hatte ihn erweckt. Er sah sich selbst und Onkel Peter mit Helmen, wie er sie in einer Ausgabe von Plutarch abgebildet gesehen hatte. Er ging mit Onkel Peter einer ungeheuren Masse Truppen voraus. Diese Truppen bestanden aus weißen, schiefen Linien, welche die Luft erfüllten wie jene Fäden, die im Herbst in der Luft umherfliegen. Vor ihnen lag der Ruhm, ebenso wie diese Fäden, nur etwas stärker. Er und Onkel Peter schwebten freudig näher und näher zum Ziel. Plötzlich wurden die Fäden, die sie fortbewegten, schwächer und verwirrten sich, und Onkel Nikolai stand vor ihnen mit drohender, strenger Gebärde.

»Habt ihr das gemacht? Ich liebe euch, aber Araktschejew hat's befohlen, und ich schlage den ersten nieder, der sich weiterbewegt.« Der kleine Nikolai blickte sich nach Onkel Peter um, aber dieser war verschwunden. Peter war sein Vater, der Vater hatte keine Gestalt und Form, aber er war, und bei seinem Anblick fühlte der kleine Nikolai die Schwäche der Liebe, er fühlte sich kraftlos, knochenlos und flüssig. Der Vater liebkoste und bedauerte ihn, aber Onkel Nikolai kam immer näher und näher. Entsetzen erfaßte den kleinen Nikolai und er erwachte.

»Der Vater«, dachte er, »der Vater war bei mir und hat mir seine Zufriedenheit ausgedrückt mit mir und mit dem Onkel Peter. Was er auch sagte, ich werde alles tun, doch Mucius Scävola hat seine Hand verbrennen lassen, warum wird in meinem Leben nicht dasselbe sein? Ich weiß, man will, ich solle lernen, und ich werde lernen, aber später einmal werde ich aufhören, und dann werde ich es tun. Nur darum bitte ich Gott, daß ich sei wie die Menschen Plutarchs, und ich werde dasselbe tun, ich werde noch Besseres vollbringen. Alle werden mich lieben und verehren! –« Und plötzlich fühlte Nikolai, wie die Tränen in seiner Brust aufstiegen und er weinte.

»Sind Sie nicht gesund?« rief die Stimme Desalles'.

»Nein«, erwiderte Nikolai und legte sich auf das Kissen. »Er ist gut, und ich liebe ihn«, dachte er über Desalles. »Aber Onkel Peter! O, was für ein wundervoller Mensch!«

»Und der Vater? Der Vater! Der Vater! Ja, ich werde so Großes vollbringen, daß selbst er zufrieden sein wird!«

 


 


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