Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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36

Um vier Uhr abends kam Fürst Andree, der auf seiner Bitte beharrt hatte, in Grunt bei Bagration an. Der Adjutant Napoleons war bei Murat noch nicht eingetroffen, und die Schlacht hatte daher noch nicht begonnen.

Bagration kannte Bolkonsky als zuverlässigen Adjutanten und empfing ihn mit herablassender Auszeichnung. Er sagte, heute oder morgen werde es zur Schlacht kommen, und ließ ihm volle Freiheit, während derselben bei ihm zu bleiben, oder bei der Nachhut für einen geordneten Rückzug zu sorgen, was auch sehr wichtig sei.

»Ist er einer der gewöhnlichen Stutzer aus dem Hauptquartier, die sich nur auf leichte Weise ein Kreuz verdienen wollen, so kann er es auch bei der Nachhut verdienen, will er aber bei mir bleiben, so ist mir's recht, denn einen tapferen Offizier kann ich immer brauchen«, dachte Bagration. Fürst Andree erbat sich Erlaubnis, die ganze Stellung zu besichtigen, um zu wissen, wohin er sich zu wenden habe, wenn er einen Auftrag erhalte. Der dejourierende Offizier, ein hübscher, sorgfältig gekleideter Mann mit einem Diamantringe am Zeigefinger, der ebenso schlecht als gern Französisch sprach, erbot sich, den Fürsten Andree zu führen.

»Sehen Sie«, sagte der Adjutant, nach einem Marketenderzelt deutend, »da sitzen sie! Heute morgen habe ich alle hinausgejagt, und nun ist's wieder voll. Ich muß dahinreiten, Fürst, und sie einschüchtern.«

»Gut, ich werde mir bei der Gelegenheit Käse und Brot kaufen«, sagte Fürst Andree, der noch nichts gegessen hatte.

»Warum sagten Sie das nicht, Fürst? Ich hätte Ihnen meine Vorräte angeboten.« Sie stiegen ab und traten in das Zelt. Einige Offiziere mit geröteten Gesichtern saßen essend und trinkend an den Tischen.

»Was ist das, meine Herren?« rief der Generalstabsoffizier in vorwurfsvollem Ton. »Der Fürst hat befohlen, niemand dürfe sich hier aufhalten. Und Sie, Herr Stabskapitän«, wandte er sich an einen kleinen, schmutzigen, schmächtigen Artillerieoffizier, der ohne Stiefel, in bloßen Strümpfen vor den Eintretenden dastand und gezwungen lächelte. »Schämen Sie sich nicht, Kapitän Tuschin? Als Artillerist sollten Sie ein gutes Beispiel geben, und nun stehen sie ohne Stiefel da? Wenn Alarm geschlagen wird, werden Sie eine hübsche Figur machen. Begeben Sie sich an Ihre Stellen, meine Herren! Alle, alle!« schloß er in befehlendem Tone.

Fürst Andree lächelte unwillkürlich beim Anblick des Kapitäns Tuschin, der mit seinen großen, klugen, gutmütigen Augen fragend bald den Fürsten Andree, bald den Generalstabsoffizier ansah.

»Die Soldaten sagen, Eile mit Weile«, sagte der Kapitän Tuschin mit verlegenem Lächeln, in der Absicht, aus einer unangenehmen Situation durch einen Scherz herauszukommen.

Fürst Andree blickte noch einmal die zierliche Gestalt des Kapitäns an, welche etwas ganz Unkriegerisches, Komisches, aber doch sehr Einnehmendes hatte. Die beiden Offiziere setzten sich zu Pferde und ritten weiter. Jenseits eines Dorfes sahen sie eine neuerrichtete Schanze, an welcher noch immer einige Bataillone arbeiteten. Nachdem sie die Schanze besichtigt hatten, ritten sie weiter. Auf einer gegenüberliegenden Höhe, von welcher sie bereits die Franzosen sehen konnten, hielten sie an.

»Dort steht unsere Batterie«, sagte der Generalstabsoffizier, indem er auf den höchsten Punkt deutete, »sie steht unter diesem Spaßvogel, den wir vorhin in Strümpfen gesehen haben. Von dort kann man alles übersehen. Kommen Sie, Fürst!«

»Ich danke sehr, ich werde jetzt allein weiterreiten«, sagte Fürst Andree, der sich seines Begleiters zu entledigen wünschte. Dieser kehrte zurück, und Fürst Andree ritt allein weiter.

Je näher Fürst Andree dem französischen Vorposten kam, desto zuversichtlicher wurde das Aussehen unserer Truppen. Die Soldaten schleppten Holz herbei, bauten Hütten und lachten und schwatzten heiter dabei.

Fürst Andree ritt die äußerste Linie entlang. Unsere Kette war von der feindlichen auf der rechten und linken Flanke weit entfernt, in der Mitte aber, wo am Morgen die Parlamentäre erschienen waren, näherten sich die Ketten so sehr aneinander, daß die Leute sich sehen und miteinander schwatzen konnten. Die Soldaten, welche in der Kette standen, blickten nicht mehr nach den Franzosen, sondern machten unter sich ihre Bemerkungen über vorübergehende Neugierige und erwarteten gelangweilt die Ablösung. Fürst Andree hielt an, um die Franzosen zu betrachten.

»Sieh einmal«, sagte ein Soldat zu seinem Nebenmann und deutete auf einen russischen Soldaten, welcher mit einem Offizier sich der Kette näherte und hitzig mit einem französischen Grenadier sprach.

»Höre doch einmal«, sagte der eine, der für einen Meister im Französischen galt. Der Soldat, nach dem die Leute lachend deuteten, war Dolochow, welcher wegen seiner Streiche in Petersburg zum Gemeinen degradiert worden war. Fürst Andree erkannte ihn und horchte auf das Gespräch. Dolochow war mit seinem Hauptmann in die Kette gekommen, von der linken Flanke her, auf welcher sein Regiment stand.

»Nun, was sagt er?« fragte der Hauptmann, welcher auf die einzeln ihm verständlichen Worte lauerte.

Dolochow antwortete ihm nicht, er befand sich in hitzigem Streit mit dem französischen Grenadier. Sie sprachen von dem Feldzug. Der Franzose verwechselte die Österreicher mit den Russen und behauptete, die Russen hätten sich in Ulm ergeben. Dolochow bewies das Gegenteil und behauptete, die Russen hätten die Franzosen geschlagen. »Hier wurde befohlen, euch fortzujagen, und das wird auch geschehen«, sagte Dolochow.

»Nehmen Sie sich nur in acht, daß man Sie nicht mit allen Ihren Kosaken einsteckt!« erwiderte der Franzose. Die französischen Zuhörer lachten.

»Man wird euch tanzen lassen, wie euch Suwórow tanzen ließ«, sagte Dolochow, schüttete sein Herz in russischen Kraftworten aus, warf die Muskete auf die Schulter und ging.

»Kommen Sie, Iwan Lukitsch!« sagte er zu dem Hauptmann.

Die Soldaten trennten sich, aber die Gewehre blieben geladen, die Schießscharten in den Häusern und Schanzen sahen ebenso drohend aus wie zuvor, und die Geschütze blieben gegeneinander gerichtet.


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