Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

199

Um vier Uhr nachmittags rückten die Truppen Murats in Moskau ein. Hinter einer Abteilung Husaren ritt der König von Neapel mit großer Suite. Am Eingang der Stadt hielt der König, um Nachricht von der Vorhut zu erhalten, in welchem Zustand sich die im Zentrum Moskaus gelegene Burg, der Kreml, befinde. Einige in Moskau zurückgebliebene Einwohner sammelten sich um Murat und starrten mit schüchterner Neugierde die seltsame Erscheinung des langhaarigen, mit Federn und Gold geschmückten Königs an.

»Ist er das selbst, ihr Kaiser?« fragten einige.

»Die Mützen ab!« sprachen die Leute unter sich.

Murat ließ durch einen Dolmetscher fragen, wo die russischen Truppen seien, und ob es weit bis zum Kreml sei. Mit Mühe verstanden einige Leute diese Fragen und beantworteten sie. Ein Offizier kam von der Vorhut und meldete Murat, die Türen des Kreml seien geschlossen.

»Gut«, sagte Murat und beauftragte einen der Herren seiner Suite, vier leichte Geschütze aufstellen und das Tor beschießen zu lassen.

Die Artilleristen fuhren im Trabe aus der Kolonne hervor, welche Murat folgte, und stellten sich auf dem Platz vor dem Kreml auf. Einige Offiziere beobachteten den Kreml mit Fernrohren. Im Kreml wurde zur Abendmesse geläutet, und dies hielten die Franzosen für ein Alarmzeichen. Einige Infanteristen liefen zur Kutafjewschen Pforte. Der Torweg war verrammelt. Zwei Flintenschüsse krachten aus dem Torweg heraus, sobald ein Offizier mit einigen Soldaten sich näherte. Der General, der bei den Kanonen stand, rief dem Offizier noch ein Kommando zu, und dieser kam mit den Soldaten im Lauf zurück.

Dann hörte man noch drei Schüsse vom Kreml her, ein Schuß traf einen französischen Soldaten am Bein, und man hörte hinter der Barrikade hervor ein seltsames Geschrei verschiedener Stimmen. Auf den Gesichtern des französischen Generals, der Offiziere und der Soldaten verschwand gleichzeitig wie auf Kommando der frühere Ausdruck ruhiger Heiterkeit und wurde durch den Ausdruck hartnäckiger Kampfbereitschaft ersetzt. Inzwischen waren die Rufe von der Pforte her verstummt, die Kanonen wurden vorgeschoben, die Artilleristen bliesen die Lunten an, ein Offizier kommandierte Feuer und zwei Schüsse donnerten nacheinander. Die Kartätschenkugeln prasselten auf den Steinen, Mauern, Balken, und zwei Rauchwolken verbreiteten sich über den Platz. Eine einzelne Menschenstimme antwortete von der Pforte her, und in den Rauchwolken erschien die Gestalt eines Mannes in einem Kaftan, ohne Mütze. Er hielt ein Gewehr und zielte auf die Franzosen.

»Feuer!« kommandierte der Artillerieoffizier, und zu gleicher Zeit ertönten zwei Kanonenschüsse und ein Flintenschuß. Wieder hüllte der Rauch die Mauern ein.

Im Kreml rührte sich jetzt nichts mehr, und französische Soldaten mit Offizieren näherten sich der Pforte. Im Torweg lagen drei Verwundete und vier Tote, zwei Männer in Kaftanen liefen längs der Mauern nach der Snamenkastraße hinab.

»Nehmt das weg!« sagte der Offizier und deutete auf die Balken und Leichen. Wer diese Leute waren, hat niemand erfahren, es hieß nur: »Nehmt das weg!« Nur Thiers hat ihnen einige hochtrabende Zeilen gewidmet.

Murat wurde gemeldet, daß der Weg frei sei. Die Franzosen marschierten ein und errichteten ein Lager auf dem Senatsplatz. Die Soldaten warfen Stühle zu den Fenstern des Senatsgebäudes auf den Platz hinaus und machten Feuer an. Andere Abteilungen marschierten am Kreml vorüber und verbreiteten sich in die Stadt. Überall richteten sich die Franzosen, da sie keine Einwohner vorfanden, nicht wie in einem städtischen Quartier ein, sondern wie in einem Lager, das sich in einer Stadt befindet. Obgleich abgerissen, hungrig und erschöpft und bis zu einem Drittel ihrer früheren Zahl reduziert, marschierte die Armee in Moskau noch in guter Ordnung ein, sie war noch eine kriegerische, drohende Macht. Aber es waren nur so lange Soldaten, bis sie sich in ihre Quartiere zerstreuten. Als diese Leute nach fünf Wochen Moskau verließen, waren sie schon keine Armee mehr, sondern ein Haufen Marodeure, von denen jeder eine Menge Sachen mit sich schleppte, die er für wertvoll hielt, ähnlich jenem Affen, welcher die Hand in einen engen Korb gesteckt hatte und eine Handvoll Nüsse erfaßte, die Hand aber nicht loslassen wollte, um nicht die Nüsse zu verlieren, und daran zugrunde ging. So mußten auch die Franzosen beim Abmarsch von Moskau zugrunde gehen, weil sie Beute mit sich schleppten. Zehn Minuten, nachdem ein Regiment in einem Stadtviertel einmarschiert war, blieb nicht ein Soldat oder Offizier mehr übrig, man sah nur Leute in Mänteln, die durch die Zimmer gingen, in den Küchen kochten und brieten. Solche Leute gab es überall viele, aber Soldaten waren sie nicht mehr.

Die Offiziere wollten die Soldaten aufhalten, wurden aber unwillkürlich mitgerissen. In der Stellmacherstraße waren Läden mit Equipagen zurückgeblieben, und dort drängten sich jetzt Generale, um sich Kutschen und Kaleschen auszuwählen. Reichtümer gab es in großer Menge, überall gab es noch undurchsuchte Stellen, in welchen die Franzosen noch große Reichtümer vermuteten. Ganz ebenso, wie das Wasser im trockenen Boden verschwindet, so verbreiteten sich die hungrigen Soldaten in der weiten, öden Stadt, und so verschwand die Armee und verschwand die Stadt, und nichts blieb übrig als Schmutz, Feuersbrünste, Trümmer und Marodeure.


 << zurück weiter >>