Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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52

In dieser Nacht befand sich Rostow mit einer Abteilung Soldaten bei den Vorposten des Heeresteiles unter Bagration. Die Husaren standen paarweise in der Kette, er selbst ritt die Linie entlang und kämpfte mit dem Schlaf. Hinter sich sah er weit und breit im Nebel die brennenden Lagerfeuer unseres Heeres, vor ihm lag die Finsternis. Er dachte, wie im Traum, bald an den Kaiser, bald an Denissow, bald an Erinnerungen aus Moskau. Dann öffnete er wieder die Augen und sah vor sich den Kopf und die Ohren des Pferdes, auf dem er saß, weiterhin aber immer dieselbe nebelhafte Finsternis.

»Warum nicht?« dachte er. »Es ist sehr möglich, daß der Kaiser mir morgen begegnet und mir einen Auftrag gibt: ›Reite dorthin und erkundige dich, was da vorgeht!‹ Ich habe oft erzählen hören, daß auf diese Weise mancher Offizier ganz zufällig in seine Umgebung gekommen ist. Wenn er auch mich zu sich nehmen würde, wie würde ich ihn verehren und behüten! Wie würde ich ihm immer die Wahrheit sagen und die Betrüger entlarven!« Um sich seine Liebe und Ergebenheit für den Kaiser recht lebhaft auszumalen, stellte er sich einen Feind oder so einen deutschen Betrüger vor, den er mit Entzücken vor den Augen des Kaisers nicht nur töten, sondern auch ohrfeigen wollte. Plötzlich erweckte ihn ein Ruf aus der Ferne.

»Wo bin ich? Ich bin in der Kette! Losung und Parole? – ›Deichsel, Olmütz.‹ Wie schade, daß unsere Schwadron morgen in der Reserve stehen wird«, dachte er. Er trieb sein Pferd an, um noch einmal an seiner Abteilung entlang zu reiten. Es schien ihm, daß es heller geworden sei. Zur linken Seite sah er einen steilen, beleuchteten Abhang und diesem gegenüber einen dunklen, steilen Hügel. Auf diesem Hügel war ein weißer Flecken, den sich Rostow nicht erklären konnte. War es eine offene Steile, die vom Monde beschienen wurde? War es Schnee, oder weiße Häuser? Es schien ihm sogar, daß sich auf diesem weißen Flecken etwas rührte. Wieder überwältigte ihn beinahe der Schlaf. Als er die Augen wieder öffnete, hörte er vor sich, dort, wo der Feind war, ein Gewirr von tausend Stimmen. Die Pferde spitzten die Ohren, an der Stelle, von wo die Stimmen ertönten, flammte ein Feuer auf, dann ein zweites, und endlich erschienen Lagerfeuer die ganze französische Linie auf dem Berge entlang, und zugleich wurde es immer lauter. Rostow hörte einzelne französische Worte, am meisten vernahm er: »aaaa rrrr.«

»Was ist das? Was denkst du darüber?« fragte Rostow einen neben ihm stehenden Husaren, »das ist doch beim Feind?«

Der Husar gab keine Antwort.

»Nun, hast du nicht gehört?« fragte Rostow wieder.

»Wer kann's wissen, Eurer Wohlgeboren?« erwiderte der Husar widerwillig.

»Der Richtung nach muß es vom Feinde kommen«, wiederholte Rostow.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, erwiderte der Husar, »es ist eben Nacht. Ruhig da!« rief er seinem Pferd zu. Auch Rostows Pferd wurde unruhig, scharrte mit dem Fuß, horchte und blickte nach den Feuern. Die Stimmen wurden immer lauter, die Feuer dehnten sich immer weiter aus. Jetzt floh Rostow der Schlaf. Der Lärm und das Triumphgeschrei vom feindlichen Lager dauerten fort. »Vive l'empereur!« hörte Rostow jetzt deutlich. Plötzlich erschien im Nebel eine Gestalt wie ein ungeheurer Elefant, es war ein Unteroffizier.

»Euer Wohlgeboren, die Generale!« sagte er. Rostow ritt mit dem Unteroffizier einigen Reitern entgegen, von denen einer auf einem weißen Pferde saß. Es war Fürst Bagration mit dem Fürsten Dolgorukow und ihren Adjutanten, welche das seltsame Erscheinen der Lagerfeuer beobachten wollten.

»Glauben Sie«, sagte Dolgorukow zum Fürsten Bagration, »das ist nichts als eine Kriegslist, er hat sich zurückgezogen und läßt jetzt Lagerfeuer anzünden und Lärm machen, um uns zu täuschen.«

»Das glaube ich kaum«, erwiderte Bagration. »Schon am Abend sah ich sie auf jenem Hügel, wenn sie abgezogen sind, so haben sie sich nach dort zurückgezogen. Herr Offizier«, wandte er sich an Rostow, »stehen dort noch Franzosen?«

»Heute abend standen sie dort, jetzt kann ich's aber nicht wissen, Erlaucht! Wenn Sie befehlen, reite ich mit einigen Husaren hinüber.«

Bagration gab keine Antwort und suchte im Nebel Rostows Gesicht deutlicher zu sehen. »Nun gut, sehen Sie nach!« sagte er endlich.

Rostow rief den Unteroffizier Fedschenko und noch zwei Husaren, befahl ihnen, ihm nachzufolgen und trabte nach der feindlichen Stellung zu. Bagration rief ihm nach, er solle nicht weiter als bis zum Bach reiten, aber Rostow tat, als ob er das nicht gehört habe und ritt weiter und weiter. Als er im Trab den Bergabhang herabkam, sah er weder die unsrigen noch die feindlichen Feuer mehr, desto lauter aber hörte er das Geschrei der Franzosen. Bald näherte er sich der Stelle, wo am Abend ein französisches Pikett gestanden hatte.

»Euer Wohlgeboren, da ist er«, sagte hinter ihm ein Husar, und noch ehe Rostow sich umgesehen hatte, krachte ein Schuß und eine Kugel flog pfeifend hoch im Nebel dahin. Rostow wandte sein Pferd und galoppierte zurück, noch vier Schüsse wurden ihm nachgesandt, mit der Hand am Schirm ritt er Bagration entgegen. Dolgorukow beharrte noch immer auf seiner Meinung, die Franzosen seien abgezogen.

»Man sieht, sie sind noch nicht alle abgezogen, Fürst«, erwiderte Bagration, »morgen werden wir alles wissen.«

»Auf dem Berge steht ein Pikett, ganz so wie heute abend«, meldete Rostow.

»Gut, gut«, erwiderte Bagration, »ich danke Ihnen, Herr Offizier!«

»Erlaucht, erlauben Sie mir eine Bitte«, sagte Rostow.

»Was ist es?«

»Morgen ist unsere Schwadron zur Reserve bestimmt. Erlauben Sie mir die Bitte, mich zur ersten Schwadron zu kommandieren!«

»Wie ist Ihr Name?«

»Graf Rostow.«

»Ah, schön! Bleibe bei mir als Ordonnanzoffizier!«

»Ein Sohn von Ilja Andrejewitsch?« fragte Dolgorukow. Aber Rostow gab ihm keine Antwort.

»Ich darf also hoffen, Erlaucht?«

»Ich werde Befehl geben.«

»Es ist sehr möglich, daß ich morgen mit irgendeinem Befehl zum Kaiser gesandt werde«, dachte er. »Gott sei Dank!«


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