Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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177

Das Regiment des Fürsten Andree stand in Reserve bei Semenowskoje untätig in starkem Artilleriefeuer. Um zwei Uhr hatte das Regiment schon mehr als zweihundert Mann verloren und wurde auf ein zertretenes Haferfeld vorwärts geführt, in jenen Abschnitt zwischen dem Dorf und der Hügelbatterie, auf welchem an diesem Tage Tausende verwundet wurden, und auf welchen um zwei Uhr das Feuer von einigen hundert Geschützen gerichtet war. Ohne einen Schuß zu tun, verlor das Regiment hier den dritten Teil seiner Leute. Von vorn und besonders von der rechten Seite her donnerten aus dem undurchdringlichen Rauch die Geschütze hervor. Mit jedem neuen Treffer verminderte sich für diejenigen, welche noch nicht getroffen waren, die Wahrscheinlichkeit, am Leben zu bleiben. Das Regiment stand in Bataillonskolonnen mit Abständen von dreihundert Schritten, aber dennoch befanden sich alle Leute des Regiments unter dem Einfluß derselben Stimmung. Alle beobachteten ein düsteres Schweigen, zuweilen hörte man einige kurze Worte und dann wieder den Ruf: »Tragbahren!« Die Leute saßen meist auf der Erde, nahmen die Tschakos ab oder gruben etwas trockenen Ton aus, ballten ihn in den Händen und reinigten die Bajonette damit. Andere zogen ihre Gürtel fester, einige bauten kleine Häuser aus Erde, oder flochten Kleinigkeiten aus Strohhalmen. Alle schienen ganz versunken in ihre verschiedenen Beschäftigungen zu sein. Wenn Leute verwundet wurden, Tragbahren aus der vorderen Linie zurückkamen, oder wenn durch den dichten Rauch große feindliche Massen sichtbar wurden, achtete niemand darauf, nur wenn Artillerie oder Kavallerie vorrückte, oder Bewegungen unserer Infanterie zu bemerken waren, hörte man beifällige Bemerkungen von allen Seiten. Aber am meisten fanden Nebendinge Beachtung, welche mit der Schlacht gar nichts zu tun hatten. Ein kleines, braunes Hündchen mit hoch erhobenem Schweif erschien und lief geschäftig die Reihen entlang. Wenn plötzlich eine Granate einschlug, eilte es winselnd beiseite. Überall wurde es mit Gelächter begrüßt. Aber dergleichen Zerstreuungen dauerten nicht lange. Die Leute standen schon acht Stunden untätig vor den Schrecken des Todes, und die erschöpften Gesichter wurden immer bleicher.

Ebenso bleich und erschöpft ging Fürst Andree auf der Wiese auf und ab, die Hände auf den Rücken gelegt. Er hatte nichts zu tun oder zu befehlen, alles ging wie von selbst. Tote wurden hinter die Front gebracht, Verwundete fortgetragen, und die Reihen schlossen sich wieder. Anfangs hielt er es für seine Pflicht, den Mut der Soldaten durch sein Beispiel aufrechtzuerhalten, und ging deshalb vor den Reihen auf und ab, bald aber überzeugte er sich, daß das überflüssig war. Alle seine Seelenkräfte waren ebenso wie die jedes einzelnen Soldaten unbewußt darauf gerichtet, sich selbst unter den Schrecken der gegenwärtigen Lage aufrechtzuerhalten. Er ging auf die Wiese, betrachtete seine staubigen Stiefel oder zählte seine Schritte und berechnete, wie oft er hin und her gehen müsse, um eine Werst zurückzulegen. Von all seiner Gedankenarbeit war nichts übriggeblieben, er dachte an gar nichts. Er horchte mit ermüdetem Gehör immer auf dieselben Laute, unterschied das Pfeifen der Geschosse vom Donner der Schüsse und wartete. »Da kommt wieder eine zu uns!« dachte er, auf das näherkommende Pfeifen horchend. »Noch eine, da ist sie niedergefallen!« Er blieb stehen und blickte nach den Reihen der Soldaten. »Nein, nichts getroffen!«

Ein Pfeifen und ein Schlag! Fünf Schritte von ihm wurde die trockene Erde aufgerissen und eine Kanonenkugel verschwand darin. Unwillkürlich lief ein Schauder über seinen Rücken. Wieder betrachtete er die Glieder des Bataillons. Wahrscheinlich waren viele getroffen. Eine große Gruppe sammelte sich beim zweiten Bataillon.

»Herr Adjutant«, rief er, »befehlen Sie den Leuten, sich zusammenzudrängen!«

Der Adjutant führte den Befehl aus und kehrte zum Fürsten Andree zurück. Von der anderen Seite her kam zu Pferde der Kommandeur des Bataillons.

»Achtung!« ertönte der erschreckte Ruf eines Soldaten, und wie ein Vögelchen, das sich zur Erde niederläßt, schlug zwei Schritte vom Fürsten Andree neben dem Pferde des Majors eine Granate ein. Das Pferd sprang schnaubend zur Seite und warf beinahe den Major ab.

»Niederlegen!« schrie die Stimme des Adjutanten, der sich selbst auf die Erde legte. Fürst Andree stand unentschlossen dabei. Die Granate drehte sich rauchend wie ein Kreisel zwischen ihm und dem auf der Erde liegenden Adjutanten.

»Ist das etwa der Tod?« dachte Fürst Andree. »Ich will nicht sterben! Ich liebe das Leben, die Erde, die Luft!« Dabei dachte er daran, daß man ihn beobachtete.

»Schämen Sie sich, Herr Offizier!« sagte er zu dem Adjutanten. »Ein solches . . .« Er konnte nicht zu Ende sprechen, in demselben Augenblick ertönte ein Schlag, Fürst Andree taumelte zur Seite, erhob den rechten Arm und fiel auf die Brust. Einige Offiziere liefen auf ihn zu. Auf der rechten Seite sammelte sich ein großer Blutfleck auf dem Rasen, die Landsturmleute mit der Tragbahre blieben hinter den Offizieren. Fürst Andree lag auf der Brust und atmete schwer röchelnd.

»Was steht ihr da? Vorwärts!«

Die Bauern ergriffen ihn an Schultern und Füßen, aber er stöhnte kläglich, worauf sie sich ansahen und ihn wieder niederlegten.

»Faßt an! Auf die Trage!« schrie eine Stimme. Wieder ergriffen sie ihn an den Schultern und legten ihn auf die Trage.

»Ach, mein Gott! Was ist das! Es ist aus mit mir!« rief eine Stimme unter den Offizieren. »Sie ist mir am Ohr vorübergeflogen!« sagte der Adjutant. Die Bauern hoben die Trage auf die Schultern und gingen hastig nach dem Verbandplatz.

»Geht doch im Schritt! . . . Heda, ihr Bauernvolk!« schrie ein Offizier und hielt die Bauern an, da durch ihre unregelmäßigen Schritte die Tragbahre erschüttert wurde.

»Erlaucht! Ach, Fürst!« sagte der herbeigeeilte Timochin mit zitternder Stimme. Fürst Andree öffnete die Augen und suchte den, der sprach, dann schloß er wieder die Augenlider.

Die Landsturmleute brachten den Fürsten in den Wald, wo der Verbandplatz lag. Dieser bestand aus drei Zelten am Rande eines Birkenwäldchens, in welchem Wagen und Pferde standen. Die Pferde fraßen Hafer, und Sperlinge flogen um sie her, um zerstreute Körner aufzupicken, Raben, welche Blut witterten, krächzten auf den Birkenbäumen. Um die Zelte herum auf einem Raume von zehn Morgen lagen, saßen und standen mehr als zweitausend blutende Leute. Um die Verwundeten mit ihren kläglichen und ängstlichen Mienen standen Gruppen von Trägern, welche von den an diesem Ort diensttuenden Offizieren weggejagt wurden. Aber die Soldaten hörten nicht auf die Offiziere und blickten gespannt nach dem, was vor ihren Augen vorging. Aus den Zelten hörte man bald lautes, böses Zanken, bald klägliche Töne. Zuweilen kam ein Feldscher nach Wasser herausgelaufen und deutete auf diejenigen, welche hineingetragen werden sollten. Die Verwundeten, welche vor den Zelten warteten, bis sie an die Reihe kamen, stöhnten, weinten, schrien, zankten, baten um Wasser, einige fieberten. Die Träger trugen ihren Regimentskommandeur an anderen, unverbundenen Verwundeten vorüber, näher an eines der Zelte, und blieben stehen, auf Befehl wartend.

Fürst Andree öffnete die Augen und konnte lange nicht begreifen, was um ihn her vorging. Er erinnerte sich nach und nach an die Wiese, das Ackerfeld, den schwarzen, kreisenden Ball, an seinen leidenschaftlichen Ausbruch von Lebenslust. Zwei Schritte vor ihm stand, auf einen Ast gestützt, mit verbundenem Kopf ein hochgewachsener, hübscher, schwarzhaariger Unteroffizier, welcher laut sprach. Er war am Kopf und am Fuß durch Kugeln verwundet. Eine Gruppe von Verwundeten und Trägern hatte sich um ihn gesammelt, welche aufmerksam zuhörten. »Dort haben wir den König selber gefangen!« erzählte er mit glänzenden Augen. »Wenn nur diesmal Reserve dagewesen wäre! . . . Ich sage dir, Brüderchen . . .«

Fürst Andree blickte wie alle anderen mit leuchtenden Augen nach dem Unteroffizier und empfand ein tröstliches Gefühl.

»Aber ist denn jetzt nicht alles gleichgültig?« dachte er. »Was wird dort geschehen? Und was war hier? Warum wollte ich mich nicht vom Leben trennen? Es lag etwas in diesem Leben, was ich nicht begriff und nicht begreife.«


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