Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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47

Außer Anatol vermochten alle in dieser Nacht lange nicht einzuschlafen.

»Soll er wirklich mein Mann sein, dieser fremde, schöne, gute Mann?« dachte Marie und eine Angst überfiel sie. Sie fürchtete sich. Hinter dem Bettschirm in der dunklen Ecke schien etwas zu stehen, und dieses Etwas war dieser Mann mit der weißen Stirn und den schwarzen Augenbrauen. Sie rief die Zofe und bat sie, bei ihr im Zimmer zu schlafen.

Mademoiselle Bourienne ging an diesem Abend lange im Wintergarten auf und ab und erwartete jemand. Bald lächelte sie jemand zu, bald vergoß sie Tränen bei den Worten »meine arme Mutter!«

Die kleine Fürstin war ärgerlich über ihre Zofe, weil das Bett schlecht gemacht war. Sie saß im Schlafrock mit der Haube in einem Lehnstuhl, während Mascha mit verschlafenem Gesicht und zerzaustem Zopf zum drittenmal das Bett aufschüttelte.

Auch der alte Fürst schlief nicht. Tichon hörte im Halbschlummer, wie er zornig pfiff und auf und ab ging. Der alte Fürst fühlte sich beleidigt in seiner Tochter, die er mehr als sich selbst liebte.

»Kaum kommt der erste beste, so wird der Vater und alles vergessen. Sie läuft hinauf, frisiert sich, freut sich, den Vater zu verlassen! Und sie wußte doch, daß ich das bemerken werde. Als ob ich nicht sehe, daß dieser Schlingel nur nach der Bourienne sieht! Soll ich sie fortjagen? Aber wenn Marie für sich keinen Stolz hat, sollte sie ihn wenigstens für mich haben! Man muß ihr beweisen, daß dieser Dummkopf nicht an sie denkt und nur nach der Bourienne sieht.«

Der alte Fürst wußte wohl, daß sein Spiel gewonnen war, wenn er der Tochter sagte, sie täusche sich, und Anatol wolle nur der Bourienne den Hof machen. Dabei beruhigte er sich, rief Tichon und begann sich auszukleiden.

Obwohl zwischen Anatol und Mademoiselle Bourienne nichts gesprochen worden war, hatten sie einander doch vollkommen verstanden. Sie wußten, daß sie einander viel im geheimen zu erzählen hatten und suchten vom frühen Morgen an sich heimlich zu treffen. Zu der Zeit, als Marie zur gewohnten Stunde zu ihrem Vater ging, fanden sich Mademoiselle und Anatol im Wintergarten. Die Fürstin Marie betrat an diesem Morgen mit besonderer Besorgnis das Kabinett ihres Vaters. Aber der alte Fürst war außerordentlich freundlich gegen sie. Es war jene Freundlichkeit, die Marie wohl kannte, die auf seinem Gesicht erschien, wenn seine trockenen Hände sich vor Ärger zu Fäusten ballten, weil Marie die arithmetische Aufgabe nicht begreifen konnte. Er kam sogleich zur Sache und redete sie mit »Sie« an.

»Man hat mir einen Antrag gemacht in bezug auf Sie«, sagte er mit gezwungenem Lächeln. »Ich denke, Sie werden erraten haben, daß Fürst Wassil nicht meiner schönen Augen wegen mit seinem Zögling hierhergekommen ist? Gestern hat man mir einen Antrag gemacht, und da Sie meinen Grundsatz kennen, habe ich alles Ihnen vorbehalten.«

»Wie soll ich das verstehen, Väterchen?« sagte Marie erbleichend und errötend.

»Verstehen?« rief zornig der Alte. »Fürst Wassil hielt dich für eine Schwiegertochter nach seinem Geschmack, und macht dir einen Heiratsantrag für seinen Zögling! Was ist da zu verstehen? Und jetzt will ich hören, was du darüber sagst.«

»Ich weiß nicht, Väterchen, wie Sie denken«, flüsterte Marie.

»Ich? Ich? Was habe ich damit zu tun? Lassen Sie mich ganz beiseite; ich will ihn nicht heiraten! Aber was Sie sagen, das möchte ich wissen.«

Die Fürstin sah, daß ihr Vater die Sache nicht günstig ansah, aber der Gedanke erwachte in ihr, daß jetzt oder niemals ihr Lebensschicksal sich entscheiden werde. Sie vermied den Blick ihres Vaters, unter dessen Einfluß sie nicht denken, sondern nur sich unterwerfen konnte.

»Ich wünsche nur eins, Ihren Willen zu erfüllen«, sagte sie.

»Prächtig«, unterbrach sie der Fürst, »er nimmt dich mit der Mitgift und erwischt dabei auch noch Mamsell Bourienne! Diese wird Frau sein, und du . . .« Der Fürst schwieg, als er den Eindruck bemerkte, welchen diese Worte auf seine Tochter hervorbrachten. Sie hatte den Kopf gesenkt und war dem Weinen nahe.

»Nun, nun, ich scherze nur«, sagte er, »aber du weißt, Fürstin, es ist mein Grundsatz, daß ein Mädchen volle Freiheit, zu wählen, haben muß! Nur bedenke, daß von deiner Entscheidung dein Lebensglück abhängt. Von mir ist nichts zu sprechen.«

»Aber ich weiß nicht – Väterchen.«

»Wenn man es ihm befiehlt, so wird er jede andere heiraten, du aber bist frei, zu wählen. Gehe in dein Zimmer, überlege alles und nach einer Stunde komme zu mir und sage mir in seiner Gegenwart ja oder nein. Ich weiß, du wirst wieder beten. Nun, meinetwegen, bete, aber es wäre besser, du würdest überlegen. Jetzt gehe!«

»Ja oder nein! Ja oder nein! Ja oder nein« schrie er noch immer, während Marie wie betäubt aus dem Kabinett schwankte. Ihr Schicksal hatte sich entschieden, und glücklich entschieden! Aber die Anspielung auf Mademoiselle Bourienne war schrecklich. Wenn sie auch unbegründet war, so klang sie doch schrecklich und erschütterte Marie. Sie ging mit gesenkten Blicken nachdenklich durch den Wintergarten, ohne zu sehen und zu hören, als sie plötzlich das wohlbekannte Flüstern von Mademoiselle Bourienne vernahm.

Sie erhob den Blick und zwei Schritte vor sich erblickte sie Anatol, der die Französin im Arm hielt und ihr etwas zuflüsterte.

Anatol blickte sich mit rotem Gesicht erschrocken nach der Fürstin Marie um, ohne die Taille der Französin loszulassen, welche sie noch nicht sah. »Wer ist da? Was gibt es? Warten Sie!« schien Anatols Gesicht zu sagen. Marie blickte beide schweigend an und war nicht sogleich imstande, zu begreifen, was sie sah. Endlich schrie Mademoiselle Bourienne auf und entfloh. Anatol verbeugte sich mit vergnügtem Lächeln vor der Fürstin Marie, als ob er sie einladen wollte, über diesen seltsamen Zwischenfall zu lachen, und ging achselzuckend nach der Tür.

Eine Stunde später kam Tichon, um die Fürstin Marie zum Fürsten zu rufen, und sagte ihr, auch Fürst Wassil sei dort. Als Tichon ins Zimmer trat, saß Marie auf dem Diwan, hielt die weinende Mademoiselle in ihren Armen und glättete zärtlich ihr Haar. Die schönen Augen der Fürstin blickten mit ihrer früheren strahlenden Ruhe und mit zärtlicher Liebe und Mitleid auf das hübsche Gesichtchen der Französin herab.

»Nein, Fürstin, ich habe auf immer Ihr Wohlwollen verscherzt«, sagte Fräulein Bourienne.

»Warum? Ich liebe Sie mehr als jemals«, erwiderte Marie, »ich werde für Ihr Glück alles tun, was in meinen Kräften steht.«

»Aber Sie verachten mich, Sie sind so rein und werden nie diese Verirrungen der Leidenschaft begreifen! Ach, ach, ma pauvre mère!«

»Ich begreife alles«, erwiderte Fürstin Marie mit kummervollem Lächeln. »Beruhigen Sie sich, ich gehe jetzt zu meinem Vater!«

Fürst Wassil saß mit mildem Lächeln in einem Lehnstuhl mit der Tabaksdose in der Hand und nahm hastig eine Prise.

»Ach, meine Liebe«, sagte er aufstehend und ergriff ihre beiden Hände, »das Geschick meines Sohnes liegt in Ihrer Hand! Entscheiden Sie, meine liebe, teure Marie, die ich immer wie eine Tochter geliebt habe!« Mit einem Seufzer trat er beiseite, wirkliche Tränen erschienen in seinen Augen.

Der alte Fürst schnaubte. »Der Fürst macht dir im Namen seines Zöglings . . . seines Sohnes einen Antrag! Willst du die Frau des Fürsten Anatol Kuragin sein oder nicht? Sprich! Ja oder nein?« schrie er. – »Ich behalte mir vor, meine Meinung nachher zu sagen! Ja, meine Meinung und nur meine Meinung«, fügte er hinzu, gegen den Fürsten Wassil sich wendend. – »Ja oder nein?«

»Es ist mein Wunsch, Väterchen, Sie niemals zu verlassen, niemals mein Leben von dem Ihrigen zu trennen! Ich will nicht heiraten!« sagte sie entschlossen und blickte mit ihren schönen Augen die alten Herren offen an.

»Unsinn! Dummheiten! Unsinn! Unsinn!« schrie der alte Fürst mit ärgerlichem Gesicht. Dann legte er seine Stirn an ihre Stirn und drückte ihre Hand so stark, daß sie aufschrie. Auch Fürst Wassil stand auf.

»Meine Liebe, ich sage Ihnen, ich werde diese Minute niemals vergessen! Aber ich bitte Sie, geben Sie uns wenigstens eine kleine Hoffnung, dieses gute, großmütige Herz zu rühren, sagen Sie wenigstens: vielleicht! Die Zukunft ist groß, sagen Sie: vielleicht!«

»Fürst, was ich gesagt habe, ist alles, was in meinem Herzen liegt. Ich danke für die Ehre, aber niemals werde ich die Frau Ihres Sohnes sein!«

»Nun ist's aus, mein Lieber! Ich bin sehr erfreut, dich zu sehen! Sehr erfreut, dich zu sehen! Geh in dein Zimmer, Fürstin, geh! Sehr, sehr erfreut, dich zu sehen!« wiederholte er, indem er den Fürsten Wassil umarmte.

»Meine Bestimmung ist eine andere«, dachte die Fürstin Marie, »meine Bestimmung ist es, auf andere Weise glücklich zu sein, durch das Glück der Liebe und Selbstaufopferung! Und was es mich auch kostet, ich werde das Glück der armen Amélie machen!« So wurde zuweilen Mademoiselle Bourienne genannt. »Er liebt sie so leidenschaftlich, und sie ist so reuevoll! Ich werde alles tun, um ihr die Heirat zu ermöglichen, den Vater für sie bitten. Ich werde so glücklich sein, wenn sie seine Frau sein wird, und, mein Gott, wie leidenschaftlich sie ihn lieben muß, wenn sie sich so vergessen konnte! Vielleicht hätte ich ebenso gehandelt.«


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