Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

123

Graf Rostow führte die Mädchen zur Gräfin Besuchow. Es waren ziemlich viele Gäste zugegen, die aber Natalie fast alle unbekannt waren. Der alte Graf bemerkte mit Mißvergnügen, daß die ganze Gesellschaft fast ausschließlich aus Herren und Damen bestand, die durch ihre freie Lebensweise bekannt waren. In einer Ecke stand Mamsell Georges, umgeben von jungen Leuten, und noch einige Franzosen waren zugegen, darunter auch Metivier. Der Graf beschloß, sich nicht an den Kartentisch zu setzen und die Mädchen nicht zu verlassen, und nach Hause zu fahren, sobald die Vorstellung von Mamsell Georges zu Ende sein werde.

Anatol hatte augenscheinlich bei der Tür Rostows Eintritt erwartet. Er begrüßte sogleich den Grafen, trat auf Natalie zu und folgte ihr nach. Natalie empfand wieder, wie im Theater, Vergnügen darüber, daß sie ihm gefiel. Helene empfing Natalie strahlend und rühmte laut ihre Schönheit und ihre Toilette. Bald darauf verließ Mamsell Georges das Zimmer, um sich umzukleiden.

Es wurden Stühle in Reihen aufgestellt und die Gesellschaft nahm Platz. Anatol brachte für Natalie einen Stuhl herbei und wollte sich neben sie setzen. Aber der Graf, der keinen Blick von Natalie abwandte, kam ihm zuvor, und Anatol setzte sich hinter sie.

Bald erschien Mamsell Georges mit entblößten, dicken Armen mit Grübchen. Sie hatte einen roten Schal über die eine Schulter geworfen und blickte streng und düster die Zuhörer an. Dann deklamierte sie einige französische Verse, worin von ihrer verbrecherischen Liebe zu ihrem Sohne die Rede war. Zuweilen erhob sie die Stimme, an andern Stellen flüsterte sie und erhob feierlich den Kopf, zuweilen verstummte sie, keuchte und riß die Augen auf.

»Entzückend! Wunderbar!« riefen alle Zuhörer. Natalie sah die dicke Dame an, hörte und sah, verstand aber nichts von allem, was vorging. Sie fühlte sich wieder ganz in jener fremden Welt, in der man nicht wissen konnte, was gut und böse, was vernünftig, was unsinnig ist.

»Wie schön sie ist!« sagte Natalie zu ihrem Vater, welcher mit den andern aufstand und durch die Menge sich nach der Schauspielerin drängte.

»Wenn ich Sie sehe, finde ich das nicht«, sagte Anatol, welcher Natalie nachfolgte. Er sprach so, daß niemand seine Worte hören konnte. »Sie sind bezaubernd! Vom ersten Augenblick an, wo ich Sie sah, habe ich nicht aufgehört . . .«

»Komm, komm, Natalie!« sagte der Graf, als er zu seiner Tochter zurückkehrte. »Wie schön!«

Natalie trat schweigend zu ihrem Vater und sah ihn mit fragenden, verwunderten Blicken an. Nach einigen andern Deklamationen fuhr Mamsell Georges davon, und die Gräfin bat die Gesellschaft in den Saal.

Der Graf wollte nach Hause fahren, aber Helene bat ihn, ihren improvisierten Ball nicht zu verderben. Sie blieben. Anatol forderte Natalie zum Walzer auf und während des Tanzes drückte er zuweilen ihre Gestalt und ihre Hand, sagte ihr, sie sei verführerisch und er liebe sie. Während der Ecossaise, die sie wieder mit ihm tanzte, sah Anatol sie nur schweigend an. Natalie war im Zweifel, ob sie nicht nur im Traum vernommen, was er ihr während des Walzers gesagt hatte. Am Ende der ersten Figur drückte er wieder ihren Arm. Natalie schlug ihre erschreckten Augen auf, aber in seinem freundlichen Gesicht und Lächeln lag ein so zuversichtlich zärtlicher Ausdruck, daß sie nicht auszusprechen vermochte, was sie sagen wollte. Sie senkte die Augen.

»Sprechen Sie nicht solche Dinge! Ich bin verlobt und liebe einen andern!« sagte sie hastig.

Anatol war weder verlegen noch erzürnt über das, was sie ihm sagte.

»Sprechen Sie nicht davon! Was geht das mich an?« sagte er. »Ich sage nur, ich bin wahnsinnig verliebt in Sie! Bin ich etwa schuld, daß Sie so entzückend sind? . . . An uns ist die Reihe.«

Natalie sah sich mit glänzenden Augen um und schien heiterer als gewöhnlich zu sein. Sie begriff fast nichts von den Vorgängen dieses Abends. Es wurde Ecossaise und Großvater getanzt, und als ihr Vater sie aufforderte, nach Hause zu gehen, bat sie, noch bleiben zu dürfen. Wo sie auch war, mit wem sie auch sprach, immer fühlte sie seinen Blick auf sich. Dann erinnerte sie sich, daß sie ihren Vater um die Erlaubnis bat, in das Toilettenzimmer zu gehen, um ihr Kleid zu ordnen, daß Helene ihr nachfolgte und lachend von der Liebe ihres Bruders sprach, daß sie in dem kleinen Nebensalon wieder Anatol begegnete, worauf Helene verschwand, daß sie mit Anatol allein blieb, welcher ihre Hand ergriff und mit zärtlicher Stimme sagte: »Ich kann Sie nicht besuchen, aber soll ich Sie wirklich nie wiedersehen? Ich liebe Sie wahnsinnig!« Er vertrat ihr den Weg und näherte sein Gesicht dem ihrigen.

Seine glänzenden großen Augen waren den ihrigen so nahe, daß sie nichts anderes als diese Augen sah.

»Natalie?« flüsterte er mit fragender Stimme und drückte stark ihre Hände – »Natalie!«

»Ich verstehe nichts und habe nichts zu sagen«, antwortete ihr Blick.

Heiße Lippen drückten sich auf ihre Lippen, und in demselben Augenblick schon fühlte sie sich wieder frei. Im Zimmer hörte man Schritte und das Rauschen von Helenes Kleid. Natalie blickte sich um, dann sah sie ihn errötend, zitternd und fragend an und ging zur Tür.

»Ein Wort! Nur ein Wort! Ich bitte Sie!« rief Anatol. Sie blieb stehen. Sie wünschte so sehr dieses Wort zu hören, das ihr erklären sollte, was geschehen war, und auf das sie ihm antworten sollte.

»Natalie! nur ein Wort! . . . Ein einziges!« wiederholte er. Er wußte offenbar nicht, was er sagen sollte, und wiederholte es, bis Helene sich ihnen näherte.

Helene trat mit Natalie wieder in den Salon. Ohne das Abendessen abzuwarten, fuhr Rostow mit den Mädchen nach Hause.

Natalie konnte die ganze Nacht nicht schlafen, gequält von der unlöslichen Frage, wen sie liebe, Anatol oder den Fürsten Andree. Den Fürsten Andree liebte sie, sie erinnerte sich deutlich, wie sehr sie ihn geliebt hatte, aber Anatol liebte sie auch, das war unzweifelhaft. »Wie hätte sonst das alles geschehen können?« dachte sie. »Was soll ich tun, wenn ich den einen liebe und den andern auch?« fragte sie sich, fand aber keine Antwort auf diese schreckliche Frage.


 << zurück weiter >>