Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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255

Lange konnte Peter nicht einschlafen und ging im Zimmer auf und ab, bald mit trüber Miene, bald mit glücklichem Lächeln. »Was ist zu machen? Wenn es nicht anders geht! Was soll ich tun? Es muß so sein!« sagte er, als er sich um sechs Uhr hastig zu Bett legte in glücklicher Erregung, aber ohne Zweifel und Unschlüssigkeit.

»Es muß sein! Alles muß geschehen, um sie zur Frau zu gewinnen«, sagte er zu sich selbst.

Er hatte schon vor einigen Tagen seine Abreise nach Petersburg auf Freitag bestimmt, und als er am Donnerstag erwachte, fragte ihn Saweljitsch nach seinen Befehlen in betreff der Reisevorbereitungen.

»Nach Petersburg? Wo ist Petersburg? Wer ist in Petersburg?« fragte er. »Ja, ja; früher, ehe dies vorfiel, wollte ich nach Petersburg fahren«, erinnerte er sich. »Gut, gut, ich werde auch reisen, vielleicht! Wie gut und aufmerksam er ist und an alles denkt«, dachte er mit einem Blick auf das Gesicht des alten Saweljitsch, »und was für ein angenehmes Lächeln! Höre, Saweljitsch, wünscht du dir immer noch nicht die Freiheit?« fragte Peter.

»Was soll ich mit der Freiheit, Erlaucht? Bei dem verstorbenen Grafen, ihm sei das Himmelreich! haben wir gelebt, und auch bei Ihnen ist uns keine Beleidigung widerfahren.«

»Nun, aber die Kinder?«

»Auch die Kinder werden leben, Erlaucht! Bei solchen Herren ist gut leben!«

»Aber mein Nachfolger?« fragte Peter. »Vielleicht heirate ich einmal plötzlich, das kann vorkommen«, fügte er lachend hinzu.

»Das wäre sehr gut, mit Erlaubnis zu sagen, Erlaucht.«

»Wie ihm dieser Gedanke leicht fällt«, dachte Peter. »Er weiß nicht, wie schrecklich, wie gefährlich das ist! Es ist immer zu früh oder zu spät . . . schrecklich!«

»Belieben Sie morgen zu reisen?« fragte Saweljitsch.

»Nein, ich werde es noch aufschieben. Entschuldige, daß ich dir Mühe machte! – Wie sonderbar, daß er nicht weiß, daß mir jetzt nichts an Petersburg liegt, und daß vor allem das entschieden werden muß! Aber wahrscheinlich weiß er es und verstellt sich nur. Soll ich mit ihm reden und ihn fragen, was er meint?« dachte Peter. »Nein, später einmal!«

Zu Tisch fuhr Peter wieder zur Fürstin Marie. Bei der Fahrt wunderte er sich über die Schönheit der Ruinen. Die Schornsteine, die zerfallenen Mauern erinnerten ihn an den Rhein und an das Kolosseum in Rom. Die Fuhrleute, Zimmerleute und Krämer, alle, die ihm entgegenkamen, blickten ihn mit strahlenden Gesichtern an, als ob sie sagten: »Da ist er! Wir wollen sehen, was daraus werden wird.«

Als er in das Haus trat, befielen ihn Zweifel daran, ob er wirklich gestern abend hier gewesen sei und mit Natalie gesprochen habe. »Vielleicht ist das nur Täuschung!« Aber kaum war er ins Zimmer eingetreten, so fühlte er schon ihre Anwesenheit. Sie trug dasselbe schwarze Kleid mit weichen Falten und dieselbe Frisur wie gestern, aber sie war doch ganz anders. Hätte sie gestern so ausgesehen, als er ins Zimmer trat, so hätte er sie sofort erkannt.

Sie war jetzt dieselbe, wie er sie als Kind und als Braut des Fürsten Andree gekannt hatte. Ein heller, fragender Glanz schimmerte in ihren Augen, auf ihrem Gesicht lag ein freudiger, seltsam mutwilliger Ausdruck. Peter speiste und wäre den ganzen Abend sitzengeblieben, aber Fürstin Marie fuhr zur Messe.

Am anderen Tage kam Peter frühzeitig, speiste und verbrachte den ganzen Abend bei ihnen. Obgleich Marie und Natalie augenscheinlich erfreut darüber waren, und obgleich das ganze Lebensinteresse Peters sich jetzt in diesem Hause konzentrierte, hatten sie sich doch gegen Abend ganz ausgesprochen, und oft brach das Gespräch ab. Marie und Natalie lächelten und schienen seinen Aufbruch zu erwarten. Peter bemerkte dies, konnte aber doch nicht gehen. Er fühlte sich gedrückt, blieb aber doch sitzen, weil er nicht vermochte, sich zu erheben und zu gehen.

Die Fürstin Marie, die kein Ende absah, stand zuerst auf, klagte über Migräne und verabschiedete sich. »Sie reisen also morgen nach Petersburg?« fragte sie.

»O nein«, erwiderte Peter verwundert und wie beleidigt. »Nach Petersburg? Nun ja, morgen, aber ich nehme noch nicht Abschied. Ich werde kommen und nach Ihren Befehlen fragen«, sagte er, blieb vor der Fürstin stehen und ging doch nicht.

Natalie reichte ihm die Hand und verließ das Zimmer. Anstatt zu gehen, ließ sich Marie in einen Lehnstuhl nieder und sah Peter mit ihren traurigen, tiefen Blicken ernst und aufmerksam an. Ihre Ermüdung war jetzt ganz verschwunden; sie seufzte schwer, als ob sie sich auf ein langes Gespräch vorbereitete. Alle Verwirrung war von Peter gewichen, nachdem sich Natalie entfernt hatte. Mit aufgeregter Lebhaftigkeit rückte er seinen Stuhl nahe zu Marie.

»Ich wollte mit Ihnen sprechen, Fürstin«, sagte er als Antwort auf ihren Blick. »Helfen Sie mir! Was soll ich tun? Kann ich hoffen, Fürstin? Hören Sie mich an! Ich weiß alles. Ich weiß, daß ich ihrer nicht würdig bin, ich weiß, daß es jetzt unmöglich ist, davon zu sprechen, aber ich möchte ihr Bruder sein, nein, nicht das . . . ich kann nicht . . .« Er stockte und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. »Nun, sehen Sie«, fuhr er mit sichtlicher Anstrengung fort, »ich weiß nicht, seit wann ich sie liebe, aber in meinem ganzen Leben habe ich nur sie geliebt und kann mir ohne sie kein Leben vorstellen. Ich wage es jetzt nicht, sie um ihre Hand zu bitten, aber der Gedanke, daß sie vielleicht mein sein, und daß ich diese Möglichkeit verscherzen könnte . . . ist entsetzlich! Sagen Sie mir, kann ich hoffen? Was soll ich tun, teuerste Fürstin?« fragte er nach kurzem Schweigen und berührte ihren Arm, da sie nicht antwortete.

»Ich denke an das, was Sie mir gesagt haben«, erwiderte die Fürstin Marie. »Sie haben recht . . . daß . . . jetzt von Liebe zu sprechen . . .«

Sie wollte sagen, es sei unmöglich, aber sie stockte, weil sie gesehen hatte, daß Natalie nicht dadurch beleidigt würde, wenn Peter ihr seine Liebe erklärte, und daß sie das sogar wünschte.

»Aber was soll ich tun?« fragte Peter.

»Überlassen Sie das mir, ich weiß . . .«

»Nun, nun?« mahnte er.

»Ich weiß, daß sie Sie liebt . . . lieben wird«, verbesserte sich die Fürstin. Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als Peter aufsprang und mit erschrockener Miene ihre Hand erfaßte. »Warum glauben Sie das? Sie glauben, ich könnte hoffen?«

»Ja«, erwiderte die Fürstin Marie lachend. »Schreiben Sie an die Eltern und vertrauen Sie mir! Ich werde es ihr sagen, sobald es angeht. Ich wünsche das, und ich fühle voraus, daß es so kommen wird.«

»Nein, das kann nicht sein! Wie glücklich bin ich! Aber es kann nicht sein . . . Wie glücklich ich bin! Nein, es kann nicht sein!« sagte Peter und küßte die Hand der Fürstin Marie.

»Reisen Sie nach Petersburg, das ist besser. Ich werde Ihnen schreiben.«

»Nach Petersburg? Gut, ich werde reisen. Aber morgen kann ich zu Ihnen kommen?«

Am andern Tag kam Peter, um sich zu verabschieden. Natalie war weniger lebhaft als an den vorhergehenden Tagen. Peter fühlte, wenn er ihr in die Augen sah, daß er verschwand, daß er und sie nicht mehr existierten, sondern nur ein einziges Gefühl des Glückes. Als er beim Abschied ihre feine, dünne Hand ergriff, hielt er sie unwillkürlich etwas länger in der seinigen.

»Soll wirklich diese Hand, dieses Gesicht, diese Augen, dieser ganze Schatz weiblicher Schönheit, das alles ewig mein sein, wie ich mir selbst gehöre? Nein, es ist unmöglich!«

»Leben Sie wohl, Graf!« sagte sie laut, »ich werde Sie sehr erwarten«, fügte sie flüsternd hinzu.

Und diese einfachen Worte, dieser letzte Blick begleiteten ihn und waren zwei Monate lang der Gegenstand unerschöpflicher Erinnerungen und glücklicher Träume für Peter. »Ich werde Sie sehr erwarten! Ja, ja. Wie hat sie gesagt? Ich werde Sie sehr erwarten! Ach, wie glücklich bin ich!«


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