Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

180

In einer geräumigen Bauernhütte versammelte sich um zwei Uhr der Kriegsrat. Die kleine Enkelin des Bauern, Malascha, ein sechsjähriges Mädchen, dem Kutusow ein Stück Zucker gab, blieb in der großen Hütte auf dem Ofen und blickte schüchtern herab auf die glänzende Uniform des Großväterchens, wie Malascha Kutusow nannte. Dieser saß besonders in einer dunklen Ecke hinter dem Ofen auf einem Feldstuhl und zog beständig an dem Kragen seines Mantels, der ihn zu drücken schien. Einigen der eintretenden Generale drückte er die Hand, anderen nickte er mit dem Kopf zu. Kaissarow wollte den Vorhang vom Fenster zurückziehen, aber Kutusow winkte ihm ärgerlich mit der Hand, und Kaissarow begriff, daß er sein Gesicht nicht sehen lassen wollte. Man erwartete noch Bennigsen, der sein Mittagsmahl beendigte unter dem Vorwand, die Stellung noch einmal zu besichtigen. Man wartete von vier bis sechs Uhr, ohne in die Beratung einzutreten, und sprach nur leise. Erst als Bennigsen ins Zimmer trat, rückte Kutusow aus seiner Ecke an den Tisch, der mit Karten, Plänen und Bleistiften bedeckt war. Bennigsen eröffnete die Beratung durch die Frage: »Sollen wir ohne Kampf die geheiligte Residenz Rußlands aufgeben oder sie verteidigen?« Ein langes Schweigen folgte, alle blickten nach Kutusow. Auch Malascha sah nach Großväterchen, sie war ihm am nächsten und sah, wie sein Gesicht sich verzog, als ob er weinen wollte. Aber das dauerte nicht lange.

»Die geheiligte, alte Residenz Rußlands«, wiederholte er plötzlich mit zorniger Stimme die Worte Bennigsens und zeigte dadurch die falsche Note darin. »Erlauben Sie mir zu bemerken, Erlaucht, daß diese Frage für einen Russen keinen Sinn hat! Eine solche Frage kann man nicht stellen, aber die Frage, wegen der ich diese Herren berufen habe, ist eine militärische Frage und lautet: ›Da die Rettung Rußlands in der Armee liegt – ist es vorteilhaft, den Verlust der Armee und Moskaus zu riskieren, indem man eine Schlacht annimmt, oder Moskau ohne Schlacht aufzugeben?‹ Das ist die Frage, über die ich Ihre Meinung zu hören wünsche.«

Die Beratung begann. Bennigsen gab sein Spiel noch nicht verloren. Indem er die Meinung Barclays und anderer von der Unmöglichkeit, eine Verteidigungsschlacht in der neuen Stellung anzunehmen, anführte, schlug er vor, in der Nacht die Truppen von dem rechten auf den linken Flügel überzuführen und am anderen Tage den rechten Flügel der Franzosen zu überfallen. Die Meinungen waren geteilt, man sprach für und gegen diesen Plan, aber die meisten begriffen, daß dieser Kriegsrat den unvermeidliche Verlauf der Dinge nicht ändern konnte und daß Moskau bereits aufgegeben war. Malascha, welche mit Spannung verfolgte, was vorging, faßte die Bedeutung dieser Beratung anders auf, ihr schien es, daß es sich nur um einen persönlichen Kampf zwischen dem Großväterchen und dem Langschößigen handelte, wie sie Bennigsen nannte. Sie sah, daß sie sich erbosten, wenn sie miteinander sprachen, und innerlich trat sie dem Großväterchen zur Seite. Während des Gesprächs bemerkte sie einen raschen, listigen Blick des Großväterchens nach Bennigsen und darauf sah sie zu ihrer Freude, daß Großväterchen dem Langschößigen etwas sagte, was diesen ärgerte.

»Ich kann dem Plan des Grafen nicht beistimmen«, sagte Kutusow. »Eine Bewegung der Truppen in solcher Nähe des Feindes ist immer gefährlich.«

Die Beratung wurde erneuert, aber es traten häufige Pausen ein und es war ersichtlich, daß weiter nichts mehr zu sprechen war.

»Ich sehe, meine Herren, ich muß für die zerschlagenen Töpfe bezahlen«, sagte Kutusow und trat zum Tisch. »Meine Herren, ich habe Ihre Meinung gehört, von welchen einige nicht mit mir übereinstimmen. Ich aber« – er hielt an –, »kraft der Gewalt, die mir von Kaiser und Vaterland anvertraut wurde, befehle ich den Rückzug!«

Darauf trennten sich die Generale feierlich und schweigend, wie nach einem Begräbnis. Einige derselben machten dem Oberkommandierenden Meldungen in ganz anderem Tone als während des Kriegsrats.

Als Kutusow allein geblieben war, dachte er lange über die schreckliche Frage nach: »Wann? Wann fiel die Entscheidung, daß Moskau aufgegeben werden muß, und wer ist schuld daran?«

»Das habe ich nicht erwartet«, sagte er zu dem Adjutanten Schneider, welcher mitten in der Nacht eintrat.

»Sie müssen ausruhen, Durchlaucht«, sagte Schneider.

»Nein«, schrie Kutusow und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie müssen auch Pferdefleisch fressen wie die Türken! Wartet nur!«


 << zurück weiter >>