Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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2.

Zu Anfang des Winters kam die Fürstin Marie nach Moskau. Durch Stadtgespräche erfuhr sie die Lage, in der sich Rostows befanden, und wie der Sohn sich für die Mutter aufopferte, wie man in der Stadt sagte. »Ich habe nichts anderes von ihm erwartet«, sagte die Fürstin Marie zu sich selbst. Bei ihren freundschaftlichen, fast verwandtschaftlichen Beziehungen zur ganzen Familie hielt sie sich für verpflichtet, einen Besuch zu machen, zögerte jedoch längere Zeit. Einige Wochen nach ihrer Ankunft aber erschien sie bei Rostows.

Nikolai kam ihr zuerst entgegen, da man zur Gräfin nur durch sein Zimmer kommen konnte. Beim ersten Blick, den er ihr zuwandte, bemerkte sie anstatt des erwarteten Ausdrucks der Freude nur kalte Zurückhaltung. Nikolai fragte nach ihrem Befinden, begleitete sie zu seiner Mutter und verließ nach fünf Minuten wieder das Zimmer. Als die Fürstin die Gräfin verließ, fand sie wieder Nikolai, der sie besonders feierlich und kühl bis ins Vorzimmer begleitete. Er antwortete kein Wort auf ihre Bemerkung über die Gesundheit der Gräfin. »Was geht es Sie an? Lassen Sie mich in Ruhe!« sagte sein Blick. »Was schleppt sie sich hierher? Ich kann diese Damen mit all ihren Liebenswürdigkeiten nicht ausstehen«, sagte er laut zu Sonja, als der Wagen der Fürstin abgefahren war.

»Ach, wie kann man so reden, Nikolai!« erwiderte Sonja, die ihre Freude kaum verbergen konnte. »Sie ist so gut, und Mama liebt sie so sehr.«

Nikolai gab keine Antwort, aber seit diesem Besuch sprach die alte Gräfin jeden Tag mehrmals von ihr, lobte sie und verlangte, Nikolai solle ihr einen Besuch machen. Nikolai schwieg, wenn seine Mutter von der Fürstin sprach, aber dieses Schweigen reizte die Gräfin.

»Sie ist ein sehr ehrenwertes, vortreffliches Mädchen«, sagte sie, »und du mußt bei ihr einen Besuch machen. Du wirst wenigstens andere Gesichter sehen, und bei uns ist es dir langweilig.«

»Ich habe gar kein Verlangen danach, Mama.«

»Ich verstehe dich wirklich nicht! Bald beklagst du dich über Langeweile, bald willst du niemand sehen.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich mich langweile.«

»Wie? Du hast doch selbst gesagt, du wollest sie nicht sehen! Sie hat dir doch früher gefallen, was sind das jetzt für Launen? Du verschweigst mir alles!«

»Durchaus nicht, Mama.«

»Als ob ich dich gebeten hätte, etwas Unangenehmes zu tun! Ich bitte dich ja nur, einen Besuch zu machen, das verlangt ja die Höflichkeit. Ich habe dich darum gebeten, aber jetzt werde ich mich nicht mehr einmischen, wenn du Geheimnisse vor deiner Mutter hast.«

»Gut, ich werde gehen, wenn Sie es wollen.«

»Mir ist es gleichgültig, ich wünsche es nur deinetwegen.«

Nikolai seufzte, biß sich auf den Schnurrbart und legte Karten, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter abzulenken. Am folgenden, am dritten und vierten Tage wiederholte sich dasselbe Gespräch.

Nach ihrem Besuch bei der Gräfin und dem unerwartet kalten Empfang von seiten Nikolais gestand sich Marie, daß sie recht gehabt hatte, als sie Rostow nicht besuchen wollte.

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte sie zu sich selbst und rief ihren Stolz zu Hilfe. »Ich habe nichts mit ihm zu schaffen und wollte nur die alte Gräfin sehen, die immer gut gegen mich war.«

Aber mit diesem Gedanken konnte sie sich nicht beruhigen, ein Gefühl wie Reue quälte sie, wenn sie an diesen Besuch dachte. Obgleich sie fest entschlossen war, ihren Besuch nicht zu wiederholen und das alles zu vergessen, fühlte sie sich beständig in einer unklaren, unbehaglichen Stimmung. Sie wußte, daß sein kalter höflicher Ton nicht aus seiner Gesinnung gegen sie entsprang, sondern etwas verbarg. Dieses Etwas mußte sie aufklären, eher konnte sie nicht ruhig sein, das fühlte sie.

An einem Wintermorgen saß sie im Zimmer ihres Neffen bei seinen Arbeiten, als man ihr die Ankunft Rostows meldete. Mit dem festen Entschluß, ihr Geheimnis nicht zu verraten und ihre Verwirrung nicht merken zu lassen, bat sie Mademoiselle Bourienne, sie zu begleiten, und ging mit ihr in den Salon.

Beim ersten Blick sah sie, daß Nikolai nur gekommen war, um eine Pflicht der Höflichkeit zu erfüllen, und war sogleich fest entschlossen, denselben Ton zu beobachten, in dem er sie anreden werde.

Sie sprachen von der Gesundheit der Gräfin, von gemeinschaftlichen Bekannten und den letzten kriegerischen Neuigkeiten, und als die von dem Anstand verlangten zehn Minuten vorüber waren, nach denen es dem Gast erlaubt ist, aufzustehen, erhob sich Nikolai, um sich zu verabschieden.

Die Fürstin hatte mit Hilfe von Mademoiselle Bourienne das Gespräch sehr gut unterhalten, aber im letzten Augenblick, als er sich schon erhob, war sie es müde geworden, von Dingen zu sprechen, die sie nichts angingen, und der Gedanke, daß ihr allein so wenig Freude im Leben beschieden sei, drückte sie so sehr, daß sie in einem Anfall von Zerstreutheit, mit starren Augen vor sich hinblickend, nicht bemerkte, daß er sich schon erhoben hatte.

Nikolai stellte sich, als ob er ihre Zerstreutheit nicht bemerke, sagte einige Worte zu der Französin und blickte wieder nach der Fürstin. Sie saß noch ebenso unbeweglich, mit kummervoller Miene da. Plötzlich empfand er Mitleid mit ihr. Er hatte eine unklare Vorstellung davon, daß er vielleicht die Veranlassung ihrer Betrübnis sei und wollte ihr helfen, ihr etwas Angenehmes sagen, konnte aber nichts erdenken.

»Leben Sie wohl, Fürstin!« sagte er.

Sie fuhr zusammen und seufzte schwer.

»Ach, entschuldigen Sie«, sagte sie, »Sie wollen schon gehen, Graf? Nun, leben Sie wohl! Aber das Kissen für die Gräfin!«

»Warten Sie, ich werde es sogleich bringen!« sagte Fräulein Bourienne und verließ das Zimmer. Beide schwiegen und blickten einander zuweilen an.

»Ja, Fürstin«, sagte endlich Nikolai mit trübem Lächeln, »es ist, als wäre es vor kurzem gewesen, aber wieviel Wasser ist seit der Zeit ins Meer geflossen, seit wir uns zum ersten Male in Bogutscharowo gesehen haben! Wie unglücklich schienen wir alle, und doch würde ich viel darum geben, um diese Zeit zurückzurufen.«

Die Fürstin sah ihm durchdringend in die Augen mit ihrem leuchtenden Blick. Sie schien sich Mühe zu geben, um den geheimen Sinn seiner Worte zu begreifen.

»Ja, ja«, sagte sie, »aber Sie haben keine Ursache, die Vergangenheit zu bedauern. Wie ich Ihr Leben jetzt verstehe, werden Sie sich immer mit Befriedigung der Vergangenheit erinnern, weil die Selbstverleugnung, die Sie jetzt . . .«

»Ich nehme Ihr Lob nicht an«, unterbrach er sie hastig, »im Gegenteil, ich mache mir immer Vorwürfe. Aber das ist durchaus kein interessantes und kein heiteres Gespräch.«

Wieder nahm sein Blick den früheren kalten, abweisenden Ausdruck an, aber die Fürstin hatte in ihm schon jenen Mann wiedergesehen, den sie gekannt und geliebt hatte, und sprach jetzt nur mit jenem Manne.

»Ich dachte, Sie werden mir erlauben, Ihnen das zu sagen. Ich stehe Ihnen . . . Ihrer Familie so nahe und dachte, Sie werden meine Teilnahme nicht unpassend finden, aber ich habe mich geirrt!« Ihre Stimme begann zu zittern. – »Ich weiß nicht warum«, fuhr sie fort – »früher waren Sie anders, und . . .«

»Es gibt tausend Gründe für dieses Warum. Ich danke Ihnen, Fürstin!« sagte er leise. »Zuweilen ist es schwer . . .«

»Das ist's! Das ist's!« sprach eine innere Stimme in Marie. »Nein, ich habe nicht nur diesen guten, heiteren, offenen Blick, nicht nur sein schönes Äußere an ihm geliebt, ich hatte seine edle, starke Seele erkannt«, sagte sie zu sich selbst. »Jetzt ist er arm, ich aber bin reich, das ist's allein. Wenn das nicht wäre . . .« Als sie sich seiner früheren Zärtlichkeit erinnerte und jetzt in sein gutes, kummervolles Gesicht blickte, begriff sie ganz den Grund seiner Kälte.

»Warum das, Graf? Warum?« rief sie plötzlich fast laut und trat ihm unwillkürlich näher. »Warum? Sagen Sie mir! Sie müssen es sagen«!

Er schwieg.

»Ich kenne nicht Ihr Warum«, fuhr sie fort, »aber es ist mir schwer zumute, das gestehe ich Ihnen. Sie wollen mich Ihrer früheren Freundschaft berauben und das schmerzt mich!« In ihren Augen und in ihrer Stimme waren Tränen. »Ich hatte so wenig Glück im Leben, daß mich jeder Verlust betrübt! . . . Entschuldigen Sie, verzeihen Sie mir!« Sie brach in Tränen aus und wollte das Zimmer verlassen.

»Fürstin, ich bitte Sie!« rief er und suchte sie zurückzuhalten, »Fürstin!«

Sie blickte sich um, einige Augenblicke sahen sie einander schweigend in die Augen, und was fern und unmöglich gewesen war, wurde plötzlich nahe, möglich und unvermeidlich – – – –


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