Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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225

Am 6. Oktober frühmorgens trat Peter aus der Baracke heraus, blieb unter der Tür stehen und spielte mit einem kleinen Hund mit kurzen, krummen Beinen. Dieses Hündchen wohnte bei ihnen, übernachtete bei Karatajew, ging zuweilen in die Stadt, kehrte aber immer wieder zurück. Wahrscheinlich gehörte es niemand. Die Franzosen nannten es Azor, und seine krummen Beine dienten ihm so gut, daß es oft graziös ein Hinterbein aufhob und gewandt auf drei Beinen lief.

Peters Kleidung bestand jetzt aus einem schmutzigen, zerrissenen Hemd, Soldatenhosen, welche der Wärme wegen auf den Rat Karatajews unten zusammengebunden wurden, ferner aus einem Kaftan und einer Bauernmütze. Peter hatte sich sehr verändert und schien nicht mehr dick zu sein. Ein dichter Bart bedeckte den unteren Teil seines Gesichts und struppige, verwirrte Haare, voll von Ungeziefer, den Kopf. Der Ausdruck seiner Augen war ruhig und fest, wie er früher niemals gewesen war, seine frühere Zerfahrenheit, die sich auch in seinem Blick ausgesprochen hatte, war jetzt einem Ausdruck von Tatkraft gewichen. Peter blickte bald auf das Feld hinaus, auf welchem heute Fuhren und Reiter erschienen waren, bald in die Ferne über den Fluß hinüber, bald auf das Hündchen, das ihn zum Scherzen aufforderte, bald auf seine bloßen Füße, deren Anblick ihn an alles erinnerte, was er in dieser Zeit durchgemacht hatte. Diese Erinnerung war ihm angenehm. Das Wetter war still und hell mit leichten Nachtfrösten, ein richtiger Altweibersommer. Im Sonnenschein war es noch warm, auf allen Gegenständen in der Nähe und Ferne lag jener zauberhafte Glanz, der nur in dieser Zeit des Herbstes erscheint. In der Ferne erblickte man die Sperlingsberge mit einer Kirche und einem großen Waisenhaus.

Ein französischer Korporal mit einer Feldmütze und einer kurzen Pfeife im Mund kam aus einer Ecke der Baracke hervor und nickte Peter freundlich zu.

»Was für ein Wetter, Monsieur Kirill, wie im Frühjahr!« Er lehnte sich an die Tür und bot Peter seine Pfeife an, obgleich dieser immer dafür dankte.

Peter fragte ihn, was es Neues gebe, und der Korporal erzählte, daß fast alle Truppen ausmarschieren und daß jetzt auch bald ein Befehl wegen der Gefangenen kommen werde. Einer der Soldaten in der Baracke war todkrank, und Peter sagte dem Korporal, man müsse für diesen Sterbenden sorgen. Der Korporal erwiderte, Peter könne ruhig sein, dafür habe man mobile Lazarette und Spitäler. »Und dann, Monsieur Kirill, brauchen Sie nur dem Kapitän ein Wort zu sagen, Sie wissen, er vergißt nichts und tut alles für Sie!«

Der Kapitän, von dem der Korporal sprach, hatte oft mit Peter gesprochen und sich immer sehr höflich gegen ihn benommen.

»›Siehst du, Thomas‹, sagte mir der Kapitän, ›Kirill ist ein gebildeter Mensch, spricht Französisch, ein russischer Herr, der Unglück gehabt hat, aber er ist doch ein Mensch. Wenn er etwas nötig hat, so soll es ihm nicht verweigert werden.‹ Ja, Monsieur Kirill, neulich wäre es schlimm geworden, wenn Sie nicht gewesen wären.«

Es war nämlich Streit zwischen den Gefangenen und Franzosen entstanden, wobei Peter seine Genossen zur Ruhe brachte. – Als der Korporal gegangen war, fragten Peter einige Landsleute, was er gesagt habe. Während ihnen Peter darüber Mitteilung machte, erschien in der Tür ein hagerer, gelber, abgerissener, französischer Soldat und fragte Peter, ob in dieser Baracke ein Soldat Karatajew sei, dem er Leinwand zu einem Hemd übergeben habe.

Vor einer Woche hatten die Franzosen Material zu Stiefel und Leinwand erhalten und ließen sich von Gefangenen Stiefel und Hemden anfertigen.

»Fertig, mein Falke!« rief Karatajew. Der Wärme und der Bequemlichkeit bei der Arbeit wegen trug Karatajew nur Beinkleider und ein kohlschwarzes Hemd. Die Haare hatte er mit einem Bindfaden über der Stirn zusammengebunden, und sein rundes Gesicht erschien noch runder und niedlicher. Lachend hielt er ein fertiges Hemd in die Höhe.

Der Franzose blickte sich unruhig um, dann schien er plötzlich seine Unschlüssigkeit überwunden zu haben, warf hastig die Uniform ab und legte das Hemd an. Unter seiner Uniform hatte der Franzose kein Hemd und trug auf dem bloßen, hageren, gelben Körper eine lange, schmutzige, seidene Weste mit Blumenstickerei. Er fürchtete deshalb ausgelacht zu werden und steckte hastig den Kopf in das Hemd, aber niemand sprach ein Wort.

»Siehst du, das sitzt vortrefflich«, sagte Karatajew, indem er das Hemd betrachtete. »Das ist hier keine Schneiderwerkstatt und richtiges Werkzeug gibt es hier auch nicht. Was sagt das russische Sprichwort? Ohne Gerät kann man keine Laus totschlagen.«

»Gut, gut, danke! Aber wo ist die Leinwand, die übrigblieb?« sagte der Franzose.

»Es wird noch weiter werden, wenn du es auf dem Leibe hast«, sagte Karatajew, indem er noch immer sein Werk bewunderte.

»Ich danke sehr, aber wo sind die Reste?« wiederholte der Franzose lachend, indem er Karatajew ein Stück Papiergeld reichte. »Gib die Reste her!«

Peter sah, daß Karatajew nicht verstehen wollte, was der Franzose sagte, und sah zu, ohne sich einzumischen. Karatajew dankte für das Geld und rühmte noch immer seine Arbeit, aber der Franzose bestand auf den Resten, und bat Peter, zu übersetzen, was er sagte.

»Wozu braucht er die Reste?« sagte Karatajew. »Wir könnten sie gut brauchen zu Fußlappen. Nun, meinetwegen!« Und mit betrübter Miene nahm Karatajew ein Knäuel von Abschnitzeln aus der Brusttasche und reichte sie dem Franzosen.

Der Franzose sah die Leinwand an, überlegte und blickte fragend Peter an. »Karatajew!« rief er plötzlich errötend mit kreischender Stimme.

»Nimm das!« sagte er, reichte ihm die Reste, wandte sich um und ging.

»Sieh doch«, sagte Karatajew, den Kopf wiegend, »man sagt, sie seien Heiden, aber sie haben doch eine Seele!«


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