Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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Das Duell Peters mit Dolochow wurde vertuscht. Der Zwist mit seiner Frau aber bildete den Gegenstand des Gesprächs in der Gesellschaft. Als natürlicher Sohn war Peter vernachlässigt und hochmütig behandelt worden, danach wurde er mit Schmeicheleien überhäuft, als er die beste Partie im russischen Kaiserreich geworden war, und dann wieder vernachlässigt, als nach seiner Hochzeit Mütter und Töchter nichts mehr von ihm zu erwarten hatten. Jetzt aber galt er für einen blutdürstigen Wüterich, und als nach seiner Abreise Helene nach Petersburg zurückkehrte, wurde sie freudig und mit einer Schattierung von ehrerbietiger Teilnahme für ihr Unglück empfangen. Wenn von ihrem Mann die Rede war, nahm Helene ein würdiges Aussehen an, das sie, ohne seine Bedeutung zu begreifen, mit dem ihr eigenen Takte sich aneignete.

Anna Pawlowna, die Hofdame, versammelte noch immer in ihren Abendgesellschaften die »Creme der vornehmen Gesellschaft und die Blüte der Intelligenz«, wie sie selbst sagte, und immer wieder hatte sie für ihre Gäste eine interessante Persönlichkeit, wie zum Beispiel den Fürsten Hippolyt Kuragin, den Herrn Krug, den dänischen Gesandten, »einen tiefen Geist«, und einen Herrn Schitow, »einen Mann mit großen Verdiensten«, wie sie ihren Gästen zuflüsterte. Heute aber war die vorzüglichste Neuigkeit, die sie für ihre Gäste bereit hielt, Boris Drubezkoi, welcher eben als Kurier von der preußischen Armee angekommen war. Es war am Ende des Jahres 1806 und die Nachrichten von der Niederlage der flüchtigen Armee bei Jena und von der Übergabe der meisten preußischen Festungen waren eben eingetroffen. Unsere Armee marschierte in Preußen ein und es begann unser zweiter Krieg mit Napoleon.

Boris trat in seiner stutzerhaften Adjutantenuniform frisch und rotwangig in den Salon ein, begrüßte die Tante und machte sich wieder mit der Gesellschaft bekannt. Boris hatte um diese Zeit durch die Bemühung seiner Mutter und durch seinen schmiegsamen Charakter schon eine sehr vorteilhafte Stellung im Dienst erreicht. Er war Adjutant einer sehr wichtigen Persönlichkeit und mit einem wichtigen Auftrag nach Preußen gesandt worden und eben erst von dort zurückgekehrt. Er hatte sich jene ungeschriebene Subordination, die ihm so sehr gefiel, ganz angeeignet, nach der ein Fähnrich unvergleichlicher höher stehen kann als ein General und nach welcher nicht Eifer und Mühe, Tapferkeit und Ausdauer zum Erfolg im Dienste nötig sind, sondern nur schlaue Gewandtheit in der Behandlung der Personen, welche auf ein Avancement Einfluß haben. Er änderte seine ganze frühere Lebensweise, seine letzten Mittel wandte er dazu an, sich besser als andere zu kleiden und verzichtete lieber auf Vergnügungen, als daß er in einer schlechten Equipage gefahren wäre oder sich in einer alten Uniform in den Straßen Petersburgs gezeigt hätte. Er suchte nur die Bekanntschaft solcher Leute, die über ihm standen und ihm nützlich sein konnten. Die Erinnerung an seine kindische Liebschaft mit Natalie war ihm unangenehm und er mied Rostows Haus.

Jetzt begriff er sofort seine Rolle und überließ es der Hofdame, ihn als Schaustück zu benutzen, beobachtete aber jede Persönlichkeit und erwog jeden Nutzen, welche dieselbe ihm gewähren konnte. Er saß auf dem ihm angewiesenen Platz neben der schönen Helene und horchte auf das allgemeine Gespräch. Die Hofdame sprach von dem Mut und der Festigkeit des preußischen Königs, um das Gespräch dadurch auf Boris überzuführen, der aufmerksam zuhörte und abwartete, bis er an die Reihe käme. Inzwischen aber hatte er seine Nachbarin mehrere Male angeblickt, die dem hübschen, jungen Adjutanten wiederholt zulächelte.

Indem die Hofdame über die Lage Preußens sprach, ersuchte sie auf ganz natürliche Weise Boris, von seiner Reise nach Glogau und der Lage, in der er das preußische Heer gefunden hatte, zu erzählen. Boris teilte ohne Übereilung in reinem, korrektem Französisch viele interessante Einzelheiten über das Heer und den Hof mit, vermied es aber sorgfältig, eine eigene Meinung darüber zu äußern. Für einige Zeit beherrschte er die allgemeine Aufmerksamkeit, und die Hofdame erkannte, daß ihr Schaustück bei allen Gästen Beifall fand. Am meisten Aufmerksamkeit zeigte Helene für die Erzählungen Boris', mehrmals fragte sie nach Einzelheiten und interessierte sich sehr für die Lage der preußischen Armee. Nachdem er geendigt hatte, wandte sie sich mit ihrem gewöhnlichen Lächeln an ihn.

»Sie müssen mich durchaus besuchen«, sagte sie in einem Ton, als ob das aus sehr wichtigen Gründen ganz unerläßlich wäre. »Dienstag zwischen acht und neun Uhr, es wird mir ein großes Vergnügen sein.«

Boris versprach ihrem Wunsch nachzukommen und wollte ein Gespräch mit ihr anknüpfen, aber Anna Pawlowna rief ihn zu sich unter dem Vorwand, die Tante wünsche ihn zu sprechen.

»Sie kennen doch ihren Mann?« sagte die Hofdame mit kummervoller Gebärde. »Ach, sie ist eine unglückliche, entzückende Frau! Sprechen Sie nicht von ihm in ihrer Gegenwart, es ist ihr zu peinlich.«

Fürst Boris und Anna Pawlowna kehrten zur Gesellschaft zurück. Das Gespräch wurde den ganzen Abend lebhaft fortgesetzt und betraf vorzugsweise politische Neuigkeiten. Als alle sich erhoben, um sich zu verabschieden, wandte sich Helene, welche den ganzen Abend sehr wenig gesprochen hatte, wieder an Boris mit der Bitte und einem freundlichen, bedeutsamen Befehl, sie am Dienstag zu besuchen.

»Es ist sehr notwendig«, sagte sie lächelnd. Sie schien an diesem Abend bei den Erzählungen Boris' über die preußische Armee plötzlich die Notwendigkeit entdeckt zu haben, ihn zu sprechen.

Am Dienstagabend trat Boris in den prachtvollen Salon Helenes. Er erhielt jedoch keine Erklärung über die Notwendigkeit seines Besuches. Es waren noch andere Gäste anwesend, die Gräfin sprach wenig mit ihm, und erst beim Abschied, als er ihre Hand küßte, flüsterte sie ihm zu: »Speisen Sie morgen bei mir! Morgen abend, Sie müssen durchaus kommen!«

Während seiner Anwesenheit in Petersburg stand Boris in intimem Verkehr mit dem Hause der Gräfin Besuchow.


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