Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

Es war ein Uhr vorüber, als Peter seinen Freund verließ. Es war eine Juninacht, eine jener Petersburger Nächte fast ohne Dämmerung. Er stieg in eine Droschke, mit der Absicht, nach Hause zu fahren, aber während der Fahrt erschien es ihm immer unmöglicher, während einer solchen Nacht zu schlafen. Sein Blick schweifte durch die öde Straße. Dann dachte er daran, daß die gewöhnliche Spielgesellschaft sich jetzt bei Anatol Kuragin versammelte. Nach dem Spiel begann das Trinkgelage und das Ganze endigte mit einem Lieblingsvergnügen Peters.

»Soll ich nicht hingehen?« fragte er sich und dachte daran, daß er dem Fürsten Andree sein Wort gegeben hatte.

Aber wie es bei charakterlosen Leuten gewöhnlich ist, erfaßte ihn eine so unüberwindliche Lust, noch einmal dieses leichtsinnige Leben zu genießen, daß er beschloß, zu Anatol zu gehen. Er sagte sich, sein Versprechen habe keinen Wert, weil er Anatol versprochen hatte, zu kommen, ehe er dem Fürsten sein Wort gegeben hatte. Durch seine Wankelmütigkeit wurden oft seine dem Anscheine nach festen Entschlüsse umgestoßen. Peter gab wieder nach und ging zu Kuragin. Vor einem großen Hause neben der Kaserne der Chevaliergarde ließ er anhalten und stieg die erleuchtete Treppe hinauf. In dem leeren Vorzimmer herrschte Weingeruch; leere Flaschen, Mäntel und Galoschen lagen umher und in der Ferne hörte man ein Stimmengewirr und Rufen. Nachdem Peter den Mantel abgenommen hatte, trat er in das Zimmer ein, wo die Reste des Abendessens umherstanden, und ein Diener, der Straflosigkeit sicher, heimlich die halbvollen Gläser leerte. Weiterhin im dritten Zimmer hörte man unter allgemeinem Gelächter und Lärm das Brummen eines Bären. An einem offenen Fenster standen acht junge Leute, drei von ihnen spielten mit einem jungen Bären, welchen einer von ihnen an einer Kette hielt und auf seine Genossen hetzte.

»Ich wette auf Stevens«, rief der eine.

»Aber nicht helfen«, sagte ein zweiter.

»Ich wette auf Dolochow!« schrie eine dritte Stimme. »Kuragin, trinken Sie!«

»Nun, laßt Mischka beiseite, es handelt sich um eine Wette.«

»Aber mit einem Wurf, sonst hat er verloren«, rief eine fünfte Stimme.

»Heda, die Flasche!« brüllte der Herr des Hauses, ein großer, schöner, junger Mann in der Mitte der Gruppe, ohne Rock und mit vorn offenem Hemd.

»Stille, meine Herren, da ist Petruschka«,Petruschka = Peterchen. wandte er sich an Peter.

Ein hochgewachsener junger Mann mit hellblauen Augen, dessen ruhige, nüchterne Stimme in seltsamem Kontrast zu den anderen stand, rief ihn ans Fenster.

»Komm her, ich will dir die Wette erklären.«

Das war Dolochow, ein Offizier vom Semenowschen Regiment, ein bekannter Raufbold und Spieler, der bei Anatol wohnte. Peter lächelte und blickte vergnügt um sich.

»Um was handelt es sich?«

»Einen Augenblick, er ist noch nüchtern! Schnell eine Flasche her!« rief Anatol. Dann nahm er ein Glas vom Tische und näherte sich ihm.

»Vor allem mußt du trinken.«

Peter trank Glas auf Glas, doch dies hinderte ihn nicht daran, der Unterhaltung zu folgen und alle Gäste zu beobachten, welche sich wieder beim Fenster versammelt hatten. Anatol goß ihm Wein ein und erklärte ihm die Wette Dolochows mit dem Engländer Stevens, einem Seemann. Der erstere hatte sich verpflichtet, eine Flasche Rum auszutrinken, auf einem Fenster der dritten Etage sitzend, die Beine zum Fenster hinaushängend. »Da trink«, wiederholte Anatol, indem er Peter das letzte Glas anbot, »ich lasse dich nicht früher los.«

»Nein, ich will nicht mehr«, sagte Peter. Dolochow hielt den Engländer am Arm und wiederholte ihm nochmals deutlich die Bedingungen der Wette. Dolochow war von mittlerer Größe und etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Er hatte blaue Augen und trug, wie alle Infanterieoffiziere, keinen Schnurrbart. Die Linien seines Mundes waren merkwürdig fein, die Oberlippe trat etwas über die Unterlippe hervor, in beiden Mundwinkeln spielte beständig ein Lächeln, man hätte fast sagen können zwei Lächeln, welches in Verbindung mit seinem festen, zuversichtlichen und intelligenten Blick die Aufmerksamkeit anzog. Er hatte kein Vermögen, keine Verbindungen, wohnte bei Anatol, gab Tausende von Rubeln aus und verstand es bei alledem, sich so zu stellen, daß seine Bekannten mehr Achtung für ihn als für Anatol hatten. Er spielte alle Spiele, gewann immer wieder und trank enorm, ohne jemals die Selbstbeherrschung zu verlieren. Kuragin und er waren damals Berühmtheiten in der leichtsinnigen Welt der Petersburger Lebemänner.

Man brachte eine Flasche Rum. Zwei Diener, welche von dem Lärm und den widersprechenden Befehlen schon ganz konfus geworden waren, bemühten sich, den Fensterrahmen herauszureißen, welcher dabei hinderlich war, sich auf den äußeren Rand der Fensteröffnung zu setzen.

Anatol näherte sich. Vom Verlangen getrieben, etwas zu zerbrechen, stieß er den Diener zurück und rüttelte an dem Rahmen, welcher Widerstand leistete, wobei eine Fensterscheibe zerbrach.

»Nun, du Herkules«, sagte er zu Peter. Peter faßte den Rahmen und riß ihn mit Krachen heraus.

Dolochow hatte die Rumflasche ergriffen, trat an das offene Fenster und sprang auf die Brüstung.

»Hört!« rief er, das Gesicht nach dem Innern des Zimmers gewendet.

Alles schwieg. Dann begann er französisch, damit der Engländer ihn verstehen konnte: »Ich wette fünfzig Imperials, oder wollen Sie hundert?«

»Nein, fünfzig«, erwiderte der Engländer.

»Gut, ich wette fünfzig Goldstücke, daß ich diese Flasche Rum austrinken werde, ohne abzusetzen, und daß ich sie hier außerhalb des Fensters sitzend austrinken werde, ohne mich an irgend etwas festzuhalten. Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte der Engländer.

Anatol hielt denselben am Rockknopf fest und wiederholte ihm auf englisch die Bedingungen.

»Das ist nicht alles«, rief Dolochow, indem er mit der Flasche auf die Fensterbank schlug, um sich Gehör zu verschaffen. »Kuragin, paß auf! Wenn jemand dasselbe tut, bezahle ich ihm hundert Goldstücke. Verstanden?«

Der Engländer nickte, machte aber keine Miene, diese neue Wette anzunehmen. Ein junger Gardehusar, welcher den ganzen Abend Unglück im Spiel hatte, kletterte auf das Fenster und blickte hinab.

»Oh! Oh!« murmelte er.

»Still!« rief Dolochow und zog den Offizier zurück, welcher an seinen Sporen hängenblieb und linkisch ins Zimmer stolperte.

Dolochow stellte die Flasche in die Fensteröffnung und kletterte langsam und vorsichtig hinauf. Dann stützte er sich mit beiden Händen gegen die beiden Seiten des Fensters und maß mit dem Auge seine Breite. Dann setzte er sich langsam nieder, ließ die Hände los, neigte sich etwas zur Linken, dann zur Rechten und ergriff die Flasche.

Anatol brachte zwei Kerzen und stellte sie in die Fensteröffnung. Es war jedoch schon heller Tag, Kopf und Rücken Dolochows, in Hemdsärmeln, waren von beiden Seiten beleuchtet. Alle drängten sich ans Fenster, der Engländer vor den anderen. Peter lächelte still. Plötzlich drängte sich einer der jungen Leute mißbilligend und erschreckt vor, in der Absicht, Dolochow am Hemd zurückzuziehen.

»Meine Herren, das sind Torheiten, er wird ums Leben kommen!« rief dieser weise Herr, der sicherlich vernünftiger war als die anderen.

Anatol hielt ihn zurück.

»Rühre ihn nicht an, du wirst ihn erschrecken, und er fällt hinab. Was dann?«

Dolochow stützte sich auf die Hände und suchte sich ein zuversichtliches Ansehen zu geben.

»Wenn noch einmal jemand sich untersteht, sich einzumischen, so werfe ich ihn da hinab!« sagte er. Dann wandte er sich um, setzte die Flasche an den Mund, warf den Kopf zurück und erhob den Arm, der noch frei war, um sich ein Gegengewicht zu sichern. Einer der Diener, welche die Gläser auf dem Tische zusammenräumten, blieb unbeweglich in halb gebückter Haltung stehen und wandte keinen Blick von dem Fenster und Dolochows Kopf ab.

Der Engländer blickte mit zusammengepreßten Lippen zur Seite. Derjenige, welcher vergebens versucht hatte, diese Torheit zu hintertreiben, hatte sich in einer Ecke des Zimmers auf einen Diwan geworfen und kehrte das Gesicht nach der Wand. Peter bedeckte sich die Augen, und es trat eine tiefe Stille ein.

Als Peter die Augen öffnete, sah er Dolochow in derselben Stellung im Fenster sitzend, nur der Kopf war noch stärker zurückgeneigt, während der Arm, der die Flasche hielt, sich immer höher hob und bei der Anstrengung etwas schwankte. Die Flasche wurde sichtbar leerer.

»Wie lange das dauert!« dachte Peter; er glaubte, es sei eine halbe Stunde verflossen. Dolochow machte plötzlich eine Bewegung, und sein Arm zitterte stark. Da er auf der nach abwärts geneigten Fensterbrüstung saß, konnte diese nervöse Bewegung ihn hinabstürzen. Unwillkürlich erhob er eine Hand, wie um sich an dem Fensterkreuz anzuklammern, ließ sie aber sogleich wieder sinken. Peter schloß die Augen in der Absicht, sie nicht wieder zu öffnen, aber eine allgemeine Bewegung, die einen Augenblick darauf entstand, veranlaßte ihn, aufzublicken, und er sah Dolochow bleich, aber vergnügt in der Fensteröffnung sitzen.

»Sie ist leer!« Er warf die Flasche dem Engländer zu, der sie im Fluge auffing. Dolochow sprang ins Zimmer in einer Wolke von Branntweinduft.

»Bravo! Bravo! Das ist eine Wette!« riefen alle zugleich.

Der Engländer hatte seine Börse gezogen und rechnete mit Dolochow ab, der schweigsam und mürrisch geworden war. Peter stürzte an das Fenster. »Meine Herren, wer wettet mit mir, daß ich dasselbe tun werde? Und selbst ohne Wette! Schnell eine Flasche, schnell!«

»Bist du wahnsinnig geworden? Was fällt dir ein? Das darf nicht sein, hörst du? Du wirst ja schon auf einer Treppe schwindelig«, riefen mehrere Stimmen durcheinander.

»Eine Flasche her«, rief Peter, »ich werde sie austrinken!« Und er schlug heftig auf den Tisch. Einer der jungen Leute stürzte auf ihn zu, aber Peter schob ihn leicht zur Seite.

»Nein, so werden Sie ihn nicht halten«, sagte Anatol. »Höre!« rief er Peter zu, »ich werde die Wette halten, aber nicht früher als morgen! Jetzt gehen wir alle zu . . .«

»Gut, gut, gehen wir«, rief Peter vergnügt, »und Mischka nehmen wir mit!« Er ergriff den jungen Bären, umfaßte ihn mit seinen Armen, hob ihn auf und tanzte mit ihm durchs Zimmer.


 << zurück weiter >>