Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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216

Vom Hause des Fürsten Schtscherbatow wurden die Gefangenen auf das Jungfernfeld, links vom Jungfernkloster, geführt. Man stellte sie an einem Zaun auf, an welchem eine Säule stand. Hinter der Säule war eine große Grube ausgegraben und rings um dieselbe stand eine dichte Volksmenge, die zum kleineren Teil aus Russen, meist aber aus französischen Soldaten bestand. Rechts und links von der Säule standen französische Soldaten in Reihe und Glied.

Die Verbrecher wurden nach dem Verzeichnis aufgestellt, Peter war der sechste. Plötzlich ertönte Trommelwirbel von beiden Seiten, Peter verlor die Fähigkeit zu denken und konnte nur noch hören und sehen. Er hatte nur einen Wunsch, daß recht bald das Schreckliche geschehe, was kommen mußte. Er betrachtete seine Genossen. Der erste in der Reihe war ein hochgewachsener, hagerer Mensch, der zweite war ein stark behaarter, muskulöser Mensch mit aufgestülpter Nase, der dritte ein wohlgenährter Mensch von etwa fünfundvierzig Jahren mit ergrauenden Haaren. Neben diesem stand ein sehr schöner Bauer mit starkem rötlichen Bart und schwarzen Augen, der fünfte war ein gelber, schmächtiger Fabrikarbeiter von etwa achtzehn Jahren.

Peter hörte, wie die Franzosen sich berieten, ob man sie einzeln oder zu zweien erschießen solle.

»Zu zweien«, entschied der älteste Offizier mit kühler Ruhe. In den Reihen der Soldaten entstand eine Bewegung, ein französischer Beamter mit einer Schärpe trat vor und las auf französisch und auf russisch ein Urteil vor.

Dann gingen zwei Paar Franzosen auf die Verbrecher zu und führten die beiden ersten auf Befehl des Offiziers an den Pfosten. Während man Säcke holte, blickten sie sich schweigend um, wie gejagtes Wild dem Jäger entgegensieht. Der eine bekreuzigte sich fortwährend, der andere kratzte den Rücken und versuchte zu lächeln. Die Soldaten verbanden ihnen hastig die Augen, zogen die Säcke über und banden sie an die Säule. Zwölf Mann traten mit gemessenen, festen Schritten aus den Reihen hervor und blieben acht Schritte vor dem Pfahl entfernt stehen. Peter wandte sich ab, um nicht zu sehen, was kommen sollte. Plötzlich hörte er ein Krachen, das ihm lauter als der schrecklichste Donner vorkam. Als er sich umblickte, erhob sich eine Rauchwolke, und die Franzosen waren mit bleichen Gesichtern und zitternden Händen an der Grube beschäftigt. Man führte zwei andere herbei, sie blickten ebenso schweigend und hilfesuchend um sich und schienen nicht zu begreifen und nicht daran zu glauben, was vorging.

Peter wandte sich ab, aber wieder hörte er ein entsetzliches Krachen. Eine Rauchwolke erhob sich, wieder sah er die bleichen, erschrockenen Gesichter der Franzosen, welche hastig bei der Säule einander drängten. Auf allen Gesichtern der Russen, der französischen Soldaten sowie der Offiziere las er dasselbe Entsetzen, das in seinem Herzen herrschte. »Wer tut das?« fragte er sich. »Alle leiden darunter ebenso wie ich! Wer, wer aber tut das?«

»Die Schützen des sechsundachtzigsten Regiments vor!« wurde gerufen. Man führte den fünften, der neben Peter stand, an die Säule, aber allein. Peter begriff nicht, daß er gerettet sei, daß er und alle übrigen hierhergeführt worden waren, nur um bei der Hinrichtung zugegen zu sein. Er beobachtete immer noch mit Entsetzen, ohne Freude oder Beruhigung zu empfinden, das, was vorging. Der fünfte war der Fabrikarbeiter. Als man auf ihn zukam, sprang er entsetzt zurück und hielt sich an Peter fest. Peter fuhr zusammen und riß sich los von ihm. Der Fabrikarbeiter konnte nicht gehen, sie hielten ihn unter den Armen, und er rief etwas. Aber als er an die Säule geführt wurde, verstummte er, als ob er plötzlich begriffen hätte, daß es vergeblich sei, zu schreien, oder daß es unmöglich sei, daß man ihn töten werde. – Er stand wartend bei dem Pfahl und blickte sich mit funkelnden Augen um.

Peter vermochte nicht, sich umzuwenden und die Augen zu schließen, die Neugierde und Aufregung erreichten bei ihm und allen Zuschauern bei diesem fünften Mord die höchste Stufe. Wie die anderen benahm sich auch dieser fünfte ruhig. Er zog die Schöße seines langen Rocks zusammen und rieb mit dem einen bloßen Fuß den anderen. Als man ihm die Augen verband, zog er selbst den Knoten im Genick zur Seite, der ihn einschnitt. Als man ihn an die blutige Säule stellte, suchte er selbst eine bequeme Stellung und lehnte sich ruhig zurück. Peter konnte keinen Blick von ihm abwenden.

Wahrscheinlich ertönte ein Kommando, wahrscheinlich folgten auf das Kommando die Schüsse aus acht Gewehren, aber Peter vermochte sich nicht mehr daran zu erinnern. Er sah nur, wie der Fabrikarbeiter sich in den Stricken fing, wie an zwei Stellen Blut hervortrat, wie die Stricke wegen der Schwere seines Körpers nachgaben, und der Fabrikarbeiter mit tief herabhängendem Kopf und untergebogenen Beinen in eine sitzende Stellung hinabglitt. Peter eilte an die Säule, und niemand hielt ihn zurück. Um den Fabrikarbeiter waren Leute mit bleichen, entsetzten Gesichtern beschäftigt. Einem alten, bärtigen Franzosen zitterte die Kinnlade, als er die Stricke losband. Die Leiche fiel nieder, und die Soldaten zogen sie hastig zur Grube. Alle wußten augenscheinlich, daß sie Verbrecher waren und so schnell wie möglich die Spuren ihres Verbrechens beseitigen mußten. Peter blickte in die Grube und sah, daß der Fabrikarbeiter dort mit den Knien nach oben, nahe zum Kopf heraufgezogen lag, die eine Schulter zuckte krampfhaft. Aber schon wurde Erde hineingeschaufelt. Einer der Soldaten schrie Peter zornig an, er solle sich packen, aber Peter verstand ihn nicht und blieb an der Säule stehen, von wo ihn niemand vertrieb.

Als die Grube zugeschaufelt war, hörte er ein Kommando. Peter wurde an seinen Platz geführt, und die französischen Soldaten, die in zwei Reihen zu beiden Seiten der Säule standen, machten eine halbe Wendung und gingen mit gemessenen Schritten an dem Pfahl vorüber. Vierundzwanzig Schützen, welche in der Mitte des Kreises standen, kehrten im Lauf an ihre Stellen zurück, während die Abteilung an ihnen vorüberging.


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