Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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10

Bald darauf kamen die Kinder, um gute Nacht zu sagen. Auch Desalles mahnte seinen Zögling flüsternd, es sei Zeit, nach unten zu gehen.

»Nein, Monsieur Desalles, ich werde die Tante um Erlaubnis bitten, hierzubleiben«, flüsterte Nikolai. »Tantchen, erlauben Sie mir, zu bleiben?« fragte er mit bittender, entzückter Miene.

»Wenn Sie da sind, kann er sich nicht losreißen«, sagte Gräfin Marie zu Peter.

»Ich werde ihn bald selbst zu Ihnen bringen, Monsieur Desalles! Gute Nacht!« sagte Peter und reichte dem Schweizer die Hand. »Wir haben uns noch gar nicht gesehen«, sagte er zu dem kleinen Nikolai. »Wie ähnlich er geworden ist!« sagte er zu Marie.

»Meinem Vater?« fragte der Knabe hocherrötend und mit glänzenden Augen.

Peter nickte ihm zu und setzte das unterbrochene Gespräch fort.

Marie war mit einer Handarbeit beschäftigt, Natalie aber wandte keinen Blick von ihrem Manne ab, während Sonja betrübt und einsam am Samowar saß. Nikolai und Denissow standen auf, zündeten ihre Pfeifen an und befragten Peter. Der schmächtige Knabe mit seinen glänzenden Augen saß, von niemand beachtet, in einer Ecke.

Das Gespräch drehte sich um jene Neuigkeiten und Klatschgeschichten aus den höchsten Kreisen, in denen die meisten Menschen gewöhnlich den wichtigsten Teil der inneren Politik sehen. Denissow, der mit der Regierung nach seinem Mißerfolg im Dienst sehr unzufrieden war, erfuhr mit Genugtuung alle Dummheiten, die nach seiner Ansicht jetzt in Petersburg gemacht wurden, und begleitete Peters Erzählungen mit starken und scharfen Ausdrücken.

»Früher waren die Deutschen notwendig, jetzt muß man tanzen mit der Tatarinow und Madame Krüdener! Ach, wenn Bonaparte wiederkäme, wie würde er alle diese Narrheiten wegfegen! Ist es erhört, dem Soldaten Schwartz das Semenowsche Regiment zu geben?«

Nikolai war weniger geneigt, alles schlecht zu finden, interessierte sich aber auch für alle diese Nichtigkeiten, weil er dies für notwendig hielt. Aber Natalie, die alle Gewohnheiten und Gedanken ihres Mannes kannte, sah, daß Peter schon lange dem Gespräch eine andere Wendung zu geben wünschte, um von seinem Lieblingsgedanken, seiner Reise nach Petersburg, zu sprechen, und sie kam ihm durch eine Frage nach seinem Freund, dem Fürsten Fedor, zu Hilfe.

»Was ist das für eine Geschichte?« fragte Nikolai.

»Immer dasselbe«, sagte Peter. »Alle sehen, daß die Sachen so schlecht gehen, daß es nicht so bleiben kann, und daß es Pflicht jedes ehrlichen Menschen ist, nach seinen Kräften entgegenzuwirken.«

»Was können denn ehrliche Menschen tun?« fragte Nikolai.

»Nun sieh . . .«

»Kommt ins Kabinett!« sagte Nikolai.

Natalie wußte schon, daß sie bald abgerufen werden würde, um das Kind zu stillen, und ging in das Kinderzimmer, begleitet von Marie. Die Herren gingen in das Kabinett, und der kleine Nikolai folgte dem Onkel unbemerkt nach und setzte sich in den Schatten beim Fenster, neben den Schreibtisch.

»Nun, was willst du also machen?« fragte Denissow.

»Immer Phantasien!« bemerkte Nikolai.

»Nun seht«, begann Peter, im Zimmer auf und ab gehend, mit heftigen Gebärden, »die Lage in Petersburg ist folgende: Der Kaiser kümmert sich um nichts und ist immer mit diesem Mystizismus beschäftigt. Er sucht nur Ruhe, und Ruhe können ihm nur Leute ohne Gewissen und Ehre geben, wie Magnizky, Araktschejew und tutti quanti. Du wirst einsehen, wenn du selbst dich um deine Wirtschaft nicht kümmern und nur nach Ruhe verlangen würdest, so würde dein Verwalter um so grausamer wirtschaften!« sagte Nikolai.

»Nun ja, was willst du damit sagen?« fragte Nikolai.

»Nun, und alles geht zugrunde. In den Gerichten herrscht Bestechung, in der Armee der Stock allein, das Volk wird bedrückt und die Aufklärung erstickt. Was jung und ehrlich ist, wird zugrunde gerichtet! Alle sehen, daß es so nicht weitergehen kann, alles ist zu sehr gespannt und muß reißen!« sagte Peter ebenso, wie immer die Leute über Handlungen der Regierung sprachen, seit es überhaupt eine Regierung gibt. »Ich allein habe es ihnen gesagt in Petersburg!«

»Wem?« fragte Denissow.

»Nun, Sie wissen, wem!« sagte Peter mit bedeutsamem Blick. »Dem Fürsten Fedor und ihnen allen. Mitzuwirken zur Aufklärung und Tugendhaftigkeit, das ist ganz schön, versteht sich, es ist ein prachtvolles Ziel, aber unter jetzigen Umständen ist etwas anderes nötig.«

In diesem Augenblick bemerkte Nikolai die Anwesenheit seines Neffen. »Was machst du hier?« fragte er mit finsterer Miene.

»Laß ihn doch!« erwiderte Peter und ergriff Nikolai am Arm. »Ich sagte«, fuhr er fort, »jetzt ist etwas anderes nötig. Wenn ihr steht und wartet, bis die überspannte Saite reißt, wenn alle die unvermeidliche Umwälzung abwarten, so muß das Volk sich zusammenscharen und Arm in Arm der allgemeinen Katastrophe entgegenarbeiten. Alles Junge, Starke fällt der Verworfenheit anheim, den einen verführen die Weiber, den anderen hohe Würden, den dritten die Ehrfurcht oder Geld und sie gehen in das feindliche Lager über. Von unabhängigen, freien Leuten, wie Sie und ich, bleibt fast nichts übrig. Ich sage also, erweitert den Kreis der Gesellschaft, die Losung soll nicht nur die Tugend sein, sondern auch Unabhängigkeit und Tätigkeit!«

Nikolai blickte Peter mißmutig an und seine Miene verfinsterte sich immer mehr. »Was für eine Art von Tätigkeit meinst du?« rief er. »Und in welchem Verhältnis steht ihr zur Regierung?«

»Das werde ich dir sagen, im Verhältnis von Gehilfen. Die Gesellschaft kann keine geheime sein, wenn die Regierung sie zuläßt. Sie ist nicht nur der letzteren nicht feindlich, sondern sie ist die Gesellschaft der wirklich Konservativen, der Gentlemen in der vollen Bedeutung des Wortes.«

»Ja, aber eine geheime Gesellschaft ist immer schädlich und kann nur Böses hervorbringen.«

»Warum? Hat etwa der Tugendbund Böses hervorgebracht, der Europa gerettet hat?« (Damals wagte man in Rußland noch nicht zu glauben, Rußland habe Europa gerettet.) »Das war ein Bund der Tugendhaften, der gegenseitigen Hilfe und Liebe!«

Natalie trat ins Zimmer und blickte freudig ihren Mann an. Was er sagte, war ihr gleichgültig, aber sie freute sich beim Anblick seiner Begeisterung. Noch begeisterter blickte der von allen vergessene Knabe Peter an, jedes Wort brannte in seinem Herzen und er zerbrach mit nervösen Bewegungen, ohne es zu bemerken, Federn und Siegellack auf dem Schreibtisch des Onkels.

»Nun, für diese deutschen Wurstesser mag ein Tugendbund gut sein! Ich verstehe das nicht!« rief Denissow entschieden. »Alles ist nichtsnutzig und gemein, darin stimme ich bei, aber der Tugendbund gefällt mir auch nicht, so wenig wie irgendein anderer geheimer Bund!«

Peter und Natalie lächelten, aber Nikolai behauptete, es sei keinerlei Umwälzung vorauszusehen und alle die Gefahren, von denen Peter spreche, beständen nur in seiner Einbildung. Peter behauptete das Gegenteil, und da seine geistigen Fähigkeiten stärker und beweglicher waren, so kam Nikolai bald in die Enge. Dies ärgerte ihn noch mehr, da er in seinem Innern, und nicht durch Überlegung allein, von der Richtigkeit seiner Meinung fest überzeugt war.

»Höre einmal«, begann er aufstehend und stellte mit einer nervösen Bewegung die Pfeife in die Ecke. »Ich kann dir nichts beweisen. Du sagst, bei uns sei alles nichtswürdig und eine Umwälzung werde stattfinden. Ich aber kann das nicht einsehen, aber ich sage dir, du bist mein bester Freund, das weißt du, aber wenn du eine geheime Gesellschaft gründest und der Regierung entgegenarbeitest, wie sie auch sein mag, so weiß ich, daß es meine Pflicht ist, ihr zu gehorchen, und wenn mir heute Araktschejew befiehlt, mit einer Schwadron auf euch loszugehen und einzuhauen, so werde ich mich keine Sekunde besinnen! Nun denke von mir, was du willst.«

Nach diesen Worten trat ein peinliches Schweigen ein. Natalie sprach zuerst, um ihren Mann zu verteidigen. Ihre Verteidigung war schwach und ungeschickt, aber sie erreichte dennoch ihren Zweck. Das Gespräch erneuerte sich wieder und nicht mehr in dem feindlichen Tone, in dem die letzten Worte Nikolais gesprochen worden waren. Als alle sich erhoben hatten, ging der kleine Nikolai bleich und mit glänzenden Augen auf Peter zu.

»Onkel Peter . . . wenn . . . wenn Papa noch leben würde . . . würde er Ihnen beistimmen?« fragte er.

Peter begriff sogleich, welche besondere komplizierte und starke Arbeit der Gefühle und Gedanken in diesem Knaben während dieses Gespräches vorgegangen sein mußte, und er bedauerte, daß der Knabe zugehört hatte. Aber er mußte ihm antworten.

»Ich glaube wohl«, erwiderte er zögernd und verließ das Kabinett.


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