Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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243

Natalie fühlte sich während dieser Zeit auch den Gliedern der Familie entfremdet und begriff nicht, was Dunjascha von Unglück sprach.

»Was können sie für Unglück haben? Sie leben, wie gewöhnlich, ruhig weiter«, dachte Natalie.

Als sie in den Saal trat, kam der Vater hastig aus dem Zimmer der Gräfin. Sein Gesicht war kummervoll und mit Tränen benetzt, er schien aus dem Zimmer entflohen zu sein, um seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Als er Natalie erblickte, brach er mit einer verzweifelten Gebärde in krampfhaftes Schluchzen aus.

»Petja! . . . Petja! . . . Komm! Komm! . . . Sie . . . sie ruft dich! . . .« Und weinend wie ein Kind ging er zu einem Stuhl, fiel darauf nieder und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Plötzlich fuhr etwas wie ein elektrischer Schlag durch Natalies ganzes Wesen, und sie fühlte einen brennenden Schmerz. Als sie den Vater ansah und aus dem Zimmer der Mutter einen schrecklichen wilden Aufschrei vernahm, vergaß sie sich und ihren Gram. Sie eilte auf den Vater zu, aber er winkte ihr kraftlos mit der Hand und deutete nach der Tür zur Mutter.

Bleich und zitternd kam Fürstin Marie aus dem Zimmer heraus, nahm Natalie an der Hand und sprach mit ihr. Aber Natalie sah und hörte nichts, mit hastigen Schritten ging sie durch die Tür zu ihrer Mutter.

Die Gräfin saß auf einem Stuhl und schlug den Kopf an die Wand, Sonja und die Zofe hielten sie am Arm zurück.

»Natalie! Natalie!« rief die Gräfin. »Es ist nicht wahr! Es ist gelogen! Natalie!« rief sie und stieß die anderen zurück. »Geht fort, alle! Es ist nicht wahr!«

Natalie stützte sich mit den Knien auf den Lehnstuhl, bückte sich zu ihrer Mutter herab, umarmte sie mit unerwarteter Kraft, hob sie auf, wandte ihr Gesicht zu sich und schmiegte sich an sie. »Mama! Mama! . . . Ich bin da!« flüsterte sie.

Sie ließ die Mutter nicht aus ihren Armen, verlangte ein Kissen, Wasser und knöpfte ihr das Kleid los.

»Mama! Liebe Mama!« flüsterte sie fortwährend, küßte ihr Gesicht, ihre Hände und fühlte, wie ihre Tränen über Nase und Wangen liefen.

Die Gräfin drückte die Hand ihrer Tochter, schloß die Augen und beruhigte sich auf einen Augenblick. Plötzlich erhob sie sich mit unerwarteter Schnelligkeit, blickte sich wie wahnsinnig um und drückte aus aller Kraft Natalies Kopf an sich. Dann wandte sie ihr von Schmerz verzerrtes Gesicht Natalie zu und blickte sie an.

»Natalie, du liebst mich?« flüsterte sie. »Natalie, du wirst mich nicht betrügen, du wirst mir die Wahrheit sagen?«

Natalie blickte sie mit tränenvollen Augen an, in denen nur die Bitte um Verzeihung und Liebe glänzte.

»Mama! Mama!« wiederholte sie, und wieder weigerte sich die Mutter, im unsinnigen Kampf mit der Wirklichkeit, daran zu glauben, daß sie leben könne, nachdem das blühende Leben ihres Lieblingssohnes vernichtet worden, und flüchtete sich in die Welt des Wahnsinns.

Natalie begriff nicht, wie dieser Tag, diese Nacht, der folgende Tag und die folgende Nacht verging, sie schlief nicht und verließ keinen Augenblick ihre Mutter. Die ausdauernde, geduldige Liebe wirkte nicht wie ein Trost, sondern wie ein Ruf zum Leben auf die Gräfin. In der dritten Nacht schlummerte sie kurze Zeit, und auch Natalie schloß die Augen und stützte den Kopf auf die Lehne des Sessels. Sowie das Bett krachte, öffnete Natalie die Augen. Die Gräfin saß auf dem Bett und sprach leise. »Wie freue ich mich, daß du gekommen bist!« – Natalie ging zu ihr. – »Du bist hübscher und männlicher geworden«, fuhr die Gräfin fort und ergriff die Hand ihrer Tochter.

»Mama, was sprechen Sie?«

»Natalie! Er ist nicht mehr!« Sie umarmte die Tochter, und zum erstenmal begann sie zu weinen.


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