Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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Im Jahre 1811 lebte in Moskau ein französischer Arzt namens Metivier, der schnell in Mode kam und in der höchsten Gesellschaft nicht nur als Arzt, sondern auch als Gleichstehender empfangen wurde. Der alte Fürst welcher die Medizin verlachte, hatte in letzter Zeit auf den Rat von Mademoiselle Bourienne diesen Arzt zu sich gerufen und sich an ihn gewöhnt. Metivier kam allwöchentlich ein- oder zweimal zum Fürsten.

Am Namenstag des Fürsten drängte sich ganz Moskau an der Einfahrt seines Hauses. Aber er ließ niemand vor. Er übergab Marie ein Verzeichnis einiger weniger Personen, welche zu Tisch eingeladen werden sollten. Metivier kam am Morgen, um zu gratulieren. Der Alte war sehr schlechter Laune und ging zänkisch im Hause umher. Fürstin Marie kannte diesen Zustand, welcher gewöhnlich mit einem Wutausbruch endigte, und erwartete wie vor einem geladenen Gewehr mit gespanntem Hahn den ganzer Morgen über den unvermeidlichen Schuß. Bis zur Ankunft des Doktors ging alles gut. Marie saß mit einem Buch im Salon, aus welchem sie hören konnte, was im Kabinett vorging. Anfangs hörte sie nur Metiviers Stimme, dann die ihres Vaters und endlich sprachen beide zugleich. Die Tür wurde aufgerissen, und auf der Schwelle erschien Metivier und die Gestalt des Fürsten mit Nachtmütze und Schlafrock und von Wut verzerrtem Gesicht.

»Du verstehst nicht?« schrie der Fürst. »Aber ich verstehe! Französischer Spion! – Kreatur von Bonaparte! – Spion! Hinaus aus meinem Hause, sage ich!« Und er schlug die Tür zu. Metivier zuckte mit den Achseln.

»Der Fürst ist nicht ganz wohl! – Galle und Blutandrang nach dem Kopf. – Beunruhigen Sie sich nicht, ich komme morgen wieder!«

»Spion! Betrüger! Überall Betrüger! Im eigenen Hause hat man keine Minute Ruhe!« schrie der Alte in seinem Zimmer.

Nachdem Metivier gegangen war, rief der alte Fürst seine Tochter zu sich und seine ganze Wut entlud sich über sie. Sie war an allem schuld. Er hatte ja gesagt, man solle niemand einlassen, warum hatte sie diesen Schurken eingelassen? Ihretwegen habe er keinen Augenblick Ruhe und könne nicht ruhig sterben, sagte er.

»Nein, Mütterchen, mach, daß du fortkommst«, schrie er. »Ich kann es nicht mehr aushalten!« Auf der Schwelle wandte er sich nochmals um, als ob er befürchtete, sie könne seine Worte nicht recht verstanden haben. »Glaube nicht, daß ich dir das nur im Zorn gesagt habe, ich bin ganz ruhig und habe alles überlegt. Mache, daß du fortkommst! Suche dir eine Stelle! . . . Wenn doch irgendein Dummkopf käme und sie heiraten möchte!« Er schlug die Tür zu, rief Mademoiselle Bourienne zu sich, und dann wurde es still im Kabinett. Um zwei Uhr kamen die sechs erwählten Personen zu Tisch. Die Gäste waren der bekannte Graf Rostoptschin, Fürst Lopuchin mit seinem Neffen, General Tschatrow, ein alter Kriegskamerad des Fürsten, und von jungen Leuten Peter Besuchow und Boris Drubezkoi.

Boris war vor einigen Tagen auf Urlaub in Moskau angekommen, ließ sich dem Fürsten vorstellen und verstand es so sehr, seine Gunst zu erlangen, daß der Fürst eine Ausnahme machte, da er sonst niemals unverheiratete junge Leute einlud.

Das Haus des Fürsten war nicht das, was man die Welt nannte, aber es war ein so kleiner Kreis, von welchem man in der Stadt fast nichts hörte, daß es um so schmeichelhafter war, darin Zutritt zu erhalten. Die kleine Gesellschaft sammelte sich vor Tisch in dem altmodischen, hohen Salon mit alten Möbeln und erwartete den Fürsten. Alle schwiegen oder sprachen flüsternd. Fürst Bolkonsky erschien ernst und schweigsam, und Fürstin Marie war noch schüchterner als gewöhnlich. Die Gäste wandten sich nur selten an sie, weil sie sahen, daß sie nicht zur Unterhaltung aufgelegt war. Fürst Rostoptschin allein führte den Faden des Gesprächs. Er sprach von den letzten städtischen und politischen Neuigkeiten, das Gespräch verstummte keinen Augenblick. Nach dem Braten wurde Champagner gebracht, die Gäste erhoben sich und beglückwünschten den alten Fürsten. Auch Fürstin Marie trat zu ihm, ein kalter, böser Blick aber sagte ihr, daß seine Stimmung gegen sie sich nicht gebessert habe.

Als man in den Saal trat zum Kaffee, setzten sich die Alten zusammen. Fürst Bolkonsky wurde lebhafter und äußerte seine Ansichten über den bevorstehenden Krieg und sagte, unsere Kriege mit Bonaparte werden so lange unglücklich sein, als wir Bündnisse mit den Deutschen suchen und uns in europäische Angelegenheiten einmischen, in die uns der Friede von Tilsit hineingezogen habe, wir hätten weder für noch gegen Österreich Krieg zu führen, unsere Politik liege nur im Osten, und gegen Bonaparte haben wir nur nötig, unsere Grenzen zu besetzen und entschieden aufzutreten, dann werde er niemals wagen, die russische Grenze zu überschreiten wie im Jahre 1807.

»Wie sollten wir gegen die Franzosen kämpfen, unsere Lehrer und Abgötter!« sagte Graf Rostoptschin. »Sehen Sie doch unsere Jugend und unsere Damenwelt an! Unsere Abgötter sind die Franzosen, unser Himmelreich ist Paris!«

Er sprach sehr laut, um von allen gehört zu werden. »Die Kostüme sind französisch, die Gedanken französisch, die Gefühle französisch. Den Metivier haben sie hinausgejagt, weil er ein Franzose und ein Schurke ist, aber unsere Damen kriechen vor ihm. Gestern war ich in einer Gesellschaft, da waren unter fünf Damen drei katholische, welche mit Erlaubnis des Papstes auch sonntags sticken. Da sitzen sie halb nackt wie Aushängeschilder vor einer Badeanstalt, mit Erlaubnis zu sagen. Ach, wenn man unsere Jugend ansieht, Fürst, möchte man den alten Knüppel Peter des Großen aus der Kunstkammer nehmen und ein wenig russisch mit ihnen reden und ihnen die Narrheit austreiben.«

Alle schwiegen, der alte Fürst blickte Rostoptschin beifällig lächelnd an. »Nun, leben Sie wohl, Erlaucht, bleiben Sie gesund!« sagte Rostoptschin mit der ihm eigenen Bewegung.

»Lebe wohl, mein Täubchen!« sagte der Alte und reichte ihm die Hand. Mit Rostoptschin erhoben sich auch die andern.


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