Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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198

Um neun Uhr morgens, als die Truppen schon durch Moskau zogen, kam niemand mehr, um Befehle vom Grafen zu verlangen. Alles, was flüchten konnte, floh von selbst, diejenigen, welche zurückblieben, entschieden selbst, was sie zu tun hatten. Der Graf hatte Pferde verlangt, um nach Sokolniki zu fahren, und saß gelb und schweigend in seinem Kabinett.

Der Polizeimeister, welcher der Menge entgangen war, und der Adjutant, der melden kam, daß die Pferde bereit seien, traten zu gleicher Zeit ein. Beide waren bleich, und der Polizeimeister meldete, daß draußen eine große Menschenmenge versammelt sei, die ihn sehen wolle.

Rostoptschin gab keine Antwort, stand auf, begab sich mit schnellen Schritten in seinen prachtvollen, hellen Salon und ging auf die Balkontür zu, trat dann aber an ein Fenster, aus welchem er die Menge übersehen konnte. Der große Bursche stand in der vordersten Reihe und sprach mit strenger Miene und lebhaften Gebärden. Der blutende Schmied mit dem finsteren Aussehen stand neben ihm. Durch die verschlossenen Fenster vernahm man ein wildes Stimmengewirr.

»Ist die Equipage bereit?« fragte Rostoptschin.

»Zu Befehl, Erlaucht«, sagte der Adjutant.

»Was wollen die Leute?« fragte er den Polizeimeister.

»Erlaucht, sie sagen, sie wollen den Franzosen entgegengehen auf Ihren Befehl, und schreien auch etwas von Verrat. Es ist eine wilde Menge, Erlaucht! Ich bin ihnen kaum entgangen! Ich wage Ihnen vorzuschlagen . . .«

»Gehen Sie! Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!« schrie Rostoptschin zornig.

»Dahin haben sie Rußland und mich gebracht«, dachte er. Wie es bei hitzigen Leuten oft geschieht, beherrschte ihn schon die Wut, während er noch einen Gegenstand dafür suchte. »Dieser Plebs da, dieser Abschaum der Bevölkerung«, dachte er, »will ein Opfer haben!« Dieser Gedanke kam ihm in den Sinn, weil er selber ein Opfer haben wollte für seine Wut.

»Ist die Equipage bereit?« fragte er nochmals.

»Zu Befehl, Erlaucht. Was soll mit Wereschtschagin geschehen? Er wartet an der Vortreppe«, erwiderte der Adjutant.

»Ah«, rief Rostoptschin, als ob er sich plötzlich erinnerte. Rasch öffnete er die Tür und trat auf den Balkon. Der Lärm verstummte, die Mützen wurden abgenommen und alle Augen richteten sich auf Rostoptschin.

»Guten Tag, Kinder!« sagte der Graf rasch und laut. »Ich danke euch, daß ihr gekommen seid! Ich komme sogleich zu euch hinaus! Aber vor allem müssen wir einen Bösewicht abfertigen, wir müssen den Bösewicht bestrafen, welcher am Untergang Moskaus schuld ist! Erwartet mich!« Der Graf kehrte rasch ins Zimmer zurück und schlug die Tür zu. Die Menge durchlief ein zufriedenes Gemurmel.

»Er wird die Bösewichte alle abfertigen, und du sagst, er sei ein Franzose!« riefen verschiedene Stimmen.

Nach einigen Minuten kam durch die Haustür rasch ein Offizier heraus, gab einen Befehl, und die Dragoner machten Front. Die Menge bewegte sich vom Balkon gierig nach der Vortreppe. Mit raschen, zornigen Schritten erschien Rostoptschin an der Vortreppe und blickte sich hastig um, als ob er etwas suche.

»Wo ist er?« rief er, und in demselben Augenblick sah man einen jungen Menschen mit langem, dünnen Hals und halbrasiertem Kopf, welcher aus einer Ecke des Hauses zwischen zwei Dragonern hervorkam. Dieser junge Mensch trug einen eleganten, mit einst blauem Tuch besetzten, abgetragenen Fuchspelz und schmutzige Arrestantenbeinkleider, welche in schmutzige, herabgetretene, feine Stiefel gesteckt waren. An den dünnen, schwachen Beinen hingen schwerfällig Fesseln, die den schüchternen Gang des jungen Menschen hinderten.

»Nun«, sagte Rostoptschin, »stellt ihn da hin!« Er deutete auf die unterste Stufe der Treppe.

Der junge Mensch schritt schwerfällig auf die bezeichnete Stufe herab, wandte zweimal seinen langen Hals um, seufzte und kreuzte seine feinen, wohlgepflegten Hände. Einige Augenblicke schwieg die Menge, nur in den vordersten Reihen hörte man Keuchen, Stöhnen und schwere Schritte.

»Kinder!« sagte Rostoptschin mit metallischer Stimme, »dieser Mensch da, Wereschtschagin, ist derselbe Schurke, der an Moskaus Untergang schuld ist.«

Der junge Mensch in dem Fuchspelz, stand demütig und gebückt da, sein durch den halbrasierten Kopf entstelltes, junges Gesicht war mit hoffnungslosem Ausdruck zu Boden gerichtet. Bei den ersten Worten des Grafen hob er langsam den Kopf auf, blickte nach dem Grafen hinauf, als ob er ihm etwas sagen wollte, aber Rostoptschin sah ihn nicht an. Alle Augen waren auf Wereschtschagin gerichtet.

»Er hat seinen Kaiser und sein Vaterland verraten, hat sich Bonaparte verkauft! Er allein von allen Russen hat den russischen Namen beschimpft, und seinetwegen geht Moskau zugrunde!« sagte Rostoptschin mit scharfer Stimme. Aber plötzlich blickte er auf Wereschtschagin herab, der diese Stellung beibehielt, hob die Hand auf und schrie dem Volk zu: »Richtet ihn, wie er es verdient hat, ich übergebe ihn euch!«

Das Volk schwieg. Die Leute in den vordersten Reihen mit erschreckten, weit aufgerissenen Augen, stemmten sich aus aller Kraft gegen den Druck der Hintenstehenden.

»Schlagt ihn nieder! Der Verräter muß untergehen und nicht mehr den russischen Namen beschimpfen!« schrie Rostoptschin. »Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!« Beim Anblick der zornigen Gebärden Rostoptschins, dessen Worte sie kaum vernehmen konnten, geriet die Menge in Bewegung, blieb aber wieder stehen.

»Graf«, sagte die schüchterne und zugleich theatralische Stimme Wereschtschagins, als auf einen Augenblick Stille eingetreten war. »Graf, Gott allein ist über uns! . . .« Sein Gesicht rötete sich, aber er konnte nicht aussprechen, was er sagen wollte.

»Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!« wiederholte Rostoptschin, der plötzlich ebenso bleich wurde wie Wereschtschagin.

»Die Säbel heraus!« schrie der Offizier den Dragonern zu und zog selbst den Säbel.

Eine andere, noch stärkere Welle wogte durch das Volk bis in die vordersten Reihen. Ein großer Bursche mit steinernem Gesichtsausdruck stand neben Wereschtschagin.

»Schlagt ihn nieder!« sagte der Offizier fast flüsternd zu den Dragonern. Einer der Soldaten schlug mit plötzlicher Wut Wereschtschagin mit dem stumpfen Säbel über den Kopf.

»Ah!« schrie Wereschtschagin kurz und verwundert auf und blickte sich erschrocken um, als ob er nicht begriff, was mit ihm vorging. Ein ebensolcher Schrei der Verwunderung und des Entsetzens durchlief die Menge. »O Himmel!« rief jemand mit erschrockenem Ton. Aber nach dem ersten Ausruf der Verwunderung schrie Wereschtschagin vor Schmerz laut auf, und dieser Aufschrei war sein Untergang. Die aufs äußerste angespannte Grenze des menschlichen Gefühls, das die Menge noch zurückhielt, zerriß im Augenblick. Das Verbrechen war angefangen und mußte vollendet werden. Das klägliche, vorwurfsvolle Stöhnen wurde erstickt durch das wilde, wütende Gebrüll der Menge. Der Dragoner wollte noch einen Streich führen. Wereschtschagin stürzte mit einem Schrei des Entsetzens auf das Volk zu. Der große Bursche, an den er stieß, ergriff mit seinen Händen den dünnen Hals Wereschtschagins und fiel mit ihm zugleich nieder unter die Füße der herbeistürzenden wütenden Volksmenge.

Die einen schlugen und rissen Wereschtschagin, die anderen den großen Burschen, und das Geschrei halberdrückter Leute und derjenigen, welche sich bemühten, den großen Burschen zu retten, erregte nur noch mehr die tolle Wut der Menge. Lange vermochten die Dragoner nicht, den blutenden halbtotgeschlagenen Fabrikarbeiter zu befreien, und ungeachtet der wütenden Hast, mit der die Menge das einmal begonnene Verbrechen auszuführen sich beeilte, waren die Leute, welche Wereschtschagin schlugen, drängten und rissen, nicht imstande, ihn totzuschlagen. Die Menge drängte von allen Seiten, schwankte mit ihnen nach der Mitte von einer Seite zur anderen und ließ ihnen keine Möglichkeit, ihn totzuschlagen oder niederzuwerfen.

»Mit dem Beil! Mit dem Beil! Der Verräter hat Christus verkauft und muß seinen Lohn haben! Mit dem Beil, aber rasch!«

Erst als der Unglückliche aufhörte, sich zu verteidigen, und sein Geschrei in ein gleichmäßiges, gedehntes Stöhnen übergegangen war, trat die Menge von der auf dem Boden liegenden blutigen Gestalt zurück. Jeder trat näher, betrachtete, was geschehen war, und drängte sich mit vorwurfsvoller Verwunderung und Entsetzen zurück.

»O Gott, was ist das Volk für ein wildes Tier!« hörte man in der Menge. »Und so ein junger Mensch! Wahrscheinlich ein Kaufmann! O Himmel, und der andere ist auch beinahe totgeschlagen! Ach, was für ein Volk! . . . Fürchtet keine Sünde!« sagten jetzt dieselben Leute, indem sie mit entrüsteten Mienen auf den Toten hinabsahen.

Auf den Befehl eines diensteifrigen Polizeibeamten, welcher die Anwesenheit eines Leichnams auf dem Hof seiner Erlaucht nicht schicklich fand, zogen die Dragoner den entsetzlich entstellten Leichnam auf die Straße hinaus. Der blutige, mit Staub bedeckte, halbrasierte Kopf auf dem langen Hals schlug auf dem unebenen Fußboden auf. Das Volk zog sich scheu zurück von der Leiche.

Als Wereschtschagin niederstürzte, und die Menge mit wildem Geheul über ihn herfiel, sich drängte und schwankte, erbleichte Rostoptschin plötzlich, und anstatt zur Hintertür zu gehen, wo ihn sein Wagen erwartete, ging er, ohne zu wissen warum und wohin, mit gesenktem Kopf und raschen Schritten über den Korridor, der in die Zimmer der unteren Etage führte. Das Gesicht des Grafen war bleich, und seine Kinnlade zitterte wie im Fieber.

»Ihre Erlaucht, hierher! Wohin gehen Sie?« sagte hinter ihm eine zitternde Stimme. Rostoptschin war nicht imstande, eine Antwort zu geben, wandte sich gehorsam um und ging nach der Richtung, die man ihm andeutete.

An der Hintertreppe stand der Wagen. Das ferne Geheul der Menge hörte man auch hier noch. Graf Rostoptschin setzte sich eilig in die Kutsche und befahl, nach seinem Landhaus vor der Stadt in Sokolniki zu fahren. Als er durch die Mjäsnizkajastraße fuhr und das Geschrei nicht mehr hörte, befiel ihn Reue.

»Eine Volksmenge ist schrecklich und widerlich!« dachte er. »Wie die Wölfe kann man sie mit nichts befriedigen, außer mit Fleisch!« – »Graf, nur Gott ist über uns!« fielen ihm plötzlich die Worte Wereschtschagins ein und ein unangenehmer Frost überfiel seinen Rücken. Aber das war vorübergehend, und Graf Rostoptschin lächelte verächtlich über sich selbst. »Ich habe andere Pflichten«, dachte er, »noch viel größere Opfer müßten dem allgemeinen Wohl gebracht werden! Wereschtschagin war ein Verräter und durfte nicht ungestraft bleiben, und so habe ich mit einem Schlag zwei Fliegen getroffen, ich habe dem Volk ein Opfer zur Beruhigung gegeben und einen Bösewicht bestraft.«

Als er in seinem Hause angekommen war und verschiedene häusliche Anordnungen traf, hatte er sich vollkommen beruhigt. Nach einer halben Stunde fuhr er in raschem Lauf über das Feld von Sokolniki und erinnerte sich nicht mehr an das Geschehene, sondern dachte nur an das, was kommen werde. Jetzt fuhr er an die Jaussche Brücke, wo, wie man ihm sagte, Kutusow war. Er bereitete diejenigen zornigen und scharfen Vorwürfe vor, welche er Kutusow für seine Enttäuschung sagen wollte. Das Feld von Sokolniki war ganz verödet und am Ende desselben, wo »das gelbe Haus« stand, wie das Irrenhaus vom Volk genannt wurde, sah man verschiedene Gestalten in weißen Hemden und einige solche Leute, welche allein, schreiend und mit wilden Gebärden über das Feld liefen. Einer derselben kam auf die Kutsche des Grafen Rostoptschin zu. Der Graf, der Kutscher und die Dragoner blickten mit Entsetzen und Neugierde nach diesen freigelassenen Wahnsinnigen und besonders nach dem, der ihnen entgegengelaufen kam. Auf seinen dünnen, hageren Beinen schwankend, in einem weißen, flatternden Schlafrock lief der Wahnsinnige Rostoptschin entgegen und schrie ihm mit heiserer Stimme zu, er solle halten.

»Halt! sage ich!« schrie er mit heftigen Gebärden. Als er den Wagen erreicht hatte, lief er neben ihm her. »Dreimal hat man mich totgeschlagen und dreimal bin ich von den Toten auferstanden, sie haben mich mit Steinen erschlagen, ich aber stehe immer wieder auf«, schrie er.

Der Graf erbleichte, wie in dem Augenblick, als die Menge sich auf Wereschtschagin stürzte, und wandte sich ab.

»Fort! Fort!« schrie er dem Kutscher mit zitternder Stimme zu. Er fühlte, daß diese Erinnerung sich tief in sein Herz eingegraben hatte und daß ihre blutige Spur niemals verschwinden, daß im Gegenteil diese entsetzliche Erinnerung bis zu seinem Ende in seinem Herzen leben werde. Jetzt glaubte er seine eigenen Worte zu hören: »Schlagt ihn nieder!« – »Warum habe ich das gesagt? Das habe ich ohne meinen Willen ausgesprochen, ich konnte nicht anders.« Er sah das erschrockene und gleich darauf wuterfüllte Gesicht des Dragoners und den Blick schweigenden Vorwurfs, welchen dieser junge Bursche in dem Fuchspelz ihm zugeworfen hatte.

»Aber ich habe es nicht für mich getan, ich mußte so handeln. Die Menge . . . der Bösewicht . . . das allgemeine Wohl . . .« dachte er.

An der Jausschen Brücke drängten sich noch immer die Truppen. Es war heiß. Kutusow saß erschöpft auf einer Bank bei der Brücke und spielte mit der Peitsche im Sand, als der Wagen geräuschvoll vor ihm anhielt. Ein Mann in Generalsuniform trat mit halb erschrockenen, halb wütenden, unsteten Blicken auf Kutusow zu und redete ihn französisch an. Das war der Graf Rostoptschin. Er sagte Kutusow, er sei hierhergekommen, weil Moskau und die Residenz nicht mehr seien, sondern nur noch die Armee. »Es wäre alles anders gekommen, wenn Euer Durchlaucht mir nicht gesagt hätten, Sie werden Moskau nicht übergeben, ohne zuvor noch eine Schlacht zu schlagen«, sagte er.

Kutusow blickte ihn verstört an, als ob er ihn nicht verstanden habe. Rostoptschin schwieg, Kutusow wiegte den Kopf und ohne seine forschenden Blicke von Rostoptschin abzuwenden, erwiderte er leise: »Ja, ich werde Moskau nicht übergeben, ohne eine Schlacht zu schlagen.« Graf Rostoptschin gab keine Antwort und entfernte sich rasch von Kutusow, und seltsam! Der Oberkommandierende von Moskau, der stolze Graf Rostoptschin, nahm die Peitsche in die Hand, trat an die Brücke und begann mit lautem Geschrei die zusammengedrängten Banden auseinanderzujagen.


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