Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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88

Auf dem Platz, nach welchem der Kaiser ritt, standen einander gegenüber rechts ein Bataillon vom Preobraschenskyschen Garderegiment und links ein Bataillon der französischen Garde mit Bärenmützen. Während der Kaiser den einen Flügel erreichte, galoppierte ein anderer Reitertrupp vom anderen Flügel her, und an der Spitze desselben erkannte Rostow Napoleon. Es konnte kein anderer sein, er ritt im Galopp, trug einen kleinen Hut und das Band des Andreasordens über der Schulter. Als er sich Alexander näherte, zog er den Hut, und bei dieser Geste bemerkte das Kennerauge Rostows, daß Napoleon schlecht und unsicher auf dem Pferde saß. Die Bataillone schrie »Hurra!« und »Vive l'empereur!« Napoleon sagte etwas zu Alexander; beide Kaiser stiegen ab und reichten sich die Hände. Auf Napoleons Gesicht lag ein unangenehmes, gezwungenes Lächeln, Alexander sprach einige Worte mit freundlicher Miene. Rostow wandte keinen Blick von der Gruppe ab, ungeachtet des Drängens der französischen Gendarmen mit ihren Pferden. Mit Erstaunen sah er, daß Bonaparte mit dem russischen Kaiser ganz unbefangen sprach, als ob diese Annäherung für ihn etwas ganz Natürliches und Gewohntes wäre. Alexander und Napoleon begaben sich mit dem langen Schweif ihrer Suiten auf den rechten Flügel des russischen Gardebataillons. Die Menge, darunter auch Rostow, befand sich unerwartet in der unmittelbaren Nähe der Kaiser.

»Sire, ich bitte um die Erlaubnis, dem tapfersten Ihrer Soldaten den Orden der Ehrenlegion zu geben«, sagte die scharfe Stimme Napoleons.

Alexander hörte aufmerksam auf diese Worte und lächelte freundlich.

»Demjenigen, der sich in diesem Krieg am tapfersten erwiesen hat«, fuhr Napoleon fort, jede Silbe betonend. Rostow war entrüstet über die Ruhe und Selbstgefälligkeit, mit der Napoleon die Reihe der Russen überblickte, welche mit präsentiertem Gewehr unbeweglich nach dem Gesicht ihres Kaisers sahen.

»Erlauben Sie mir, Majestät, den Oberst nach seiner Meinung zu befragen«, sagte Alexander und trat mit einigen raschen Schritten auf den Grafen Koslowsky zu, der das Bataillon befehligte. Inzwischen nahm Bonaparte von seiner weißen, kleinen Hand den Handschuh ab, wobei er ihn zerriß und wegwarf. Ein Adjutant kam eilfertig herbei und hob ihn auf.

»Wen soll man vorschlagen?« fragte Alexander mit leiser Stimme ruhig den Obersten.

»Wie Sie befehlen, Majestät!«

Der Kaiser faltete ungeduldig die Stirn. »Man muß ihm doch antworten«, sagte er.

Koslowsky überblickte die Reihen und dabei fiel sein Auge auch auf Rostow.

»Etwa ich?« dachte Rostow.

»Basarew!« rief der Oberst, und der Flügelmann Basarew trat rasch vor. »Wohin gehst du?« flüsterten verschiedene Stimmen Basarew zu, welcher nicht wußte, wohin. Er blieb stehen und blickte erschrocken den Obersten an. Napoleon wandte etwas den Kopf zur Seite und griff mit seiner kleinen Hand nach rückwärts, als ob er etwas ergreifen wollte. Die Adjutanten begriffen, um was es sich handelte, flüsterten untereinander und reichten sich etwas zu, und derselbe Page, welchen Rostow gestern bei Boris gesehen hatte, eilte vorwärts und legte einen Orden mit rotem Band in die Hand des Kaisers. Ohne sich umzublicken, drückte Napoleon zwei Finger zusammen und der Orden befand sich zwischen diesen. Dann trat er auf Basarew zu, welcher mit weitaufgerissenen Augen hartnäckig nur nach seinem Kaiser blickte. Die kleine, weiße Hand mit dem Orden bewegte sich nach einem Knopfloch des Soldaten Basarew, russische und französische dienstfertige Hände hefteten das Kreuz an die Uniform. Basarew blickte finster nach dem kleinen Mann mit den weißen Händen, stand unbeweglich mit präsentiertem Gewehr da und blickte Kaiser Alexander an, als ob er fragen wollte, ob er noch länger da stehen solle, ob er nicht zurücktreten oder sonst etwas anderes tun solle. Aber er erhielt keinen Befehl und blieb ziemlich lange in dieser unbeweglichen Stellung.

Die Kaiser stiegen zu Pferde und ritten weiter. Die Russen öffneten die Reihen, mischten sich mit den französischen Gardisten und setzten sich an die Tische, welche für sie errichtet worden waren. Basarew saß auf einem Ehrenplatz. Er wurde umarmt und beglückwünscht, französische und russische Offiziere drückten ihm die Hände. Von den Tischen her erschallte ein Stimmengewirr; man hörte russische und französische Worte und Gelächter. Zwei Offiziere gingen heiter und glücklich an Rostow vorüber.

»Was das für eine Bewirtung ist, alles von Silber« sagte der eine. »Haben Sie Basarew gesehen?«

»Ja.«

»Morgen, sagt man, wird die russische Garde die französische bewirten.«

»Nein, was dieser Basarew für ein Glück hat! Lebenslänglich zwölfhundert Franken Pension!«

»Seht, Kinderchen, was für eine Mütze!« rief ein russischer Gardist mit einer französischen Bärenmütze auf dem Kopfe.

»Merkwürdig! Hübsch! Famos!«

Boris kam mit seinem Kameraden Schilinsky auch, um das Bankett anzusehen. Als Boris wieder zurücktrat, bemerkte er Rostow, welcher an der Ecke eines Hauses stand.

»Rostow! Guten Tag!« rief Boris. »Wir haben uns noch nicht gesehen!«

Er konnte sich nicht enthalten zu fragen, was ihm begegnet sei, so finster und seltsam war Rostows Miene.

»Nichts! Nichts!« erwiderte Rostow.

»Ja, später.«

»Du kommst doch zu mir?«

Rostow stand lange an der Ecke und sah von ferne dem Gelage zu. In seinem Innern ging eine angestrengte Arbeit vor sich, welche er nicht zu Ende bringen konnte. Schreckliche Zweifel erhoben sich in ihm. Er erinnerte sich an Denissow mit seinem veränderten Wesen und an das Hospital mit diesen abgeschnittenen Armen und Beinen, mit diesem Schmutz und den Krankheiten, und er glaubte wieder diesen Leichengeruch wahrzunehmen. Dann dachte er wieder an diesen selbstzufriedenen Bonaparte mit seinen weißen Händchen, welcher jetzt Kaiser war, und vom Kaiser Alexander geliebt und verehrt wurde. Wozu nun die abgeschnittenen Arme und Beine und die Menge der getöteten Menschen? Dann fiel ihm ein, wie Basarew belohnt, Denissow aber bestraft wurde, und ertappte sich selbst auf so schrecklichen Gedanken, daß er davor erschrak. Der Geruch der Speisen und der Hunger erinnerten ihn an seinen eigenen Zustand. Er mußte etwas essen vor der Abreise und trat in ein Gasthaus, das er am Morgen gesehen hatte. Es war so überfüllt von Leuten aller Art und auch von Offizieren, welche wie er in Zivilkleidung gekommen waren, daß er kaum Platz finden konnte. Zwei Offiziere von derselben Division wie er setzten sich zu ihm. Bald kam das Gespräch auf den Frieden. Die Offiziere, Rostows Kameraden, wie der größte Teil der Armee waren unzufrieden darüber, daß nach der Schlacht bei Friedland Friede geschlossen wurde, sie meinten, man hätte noch standhalten sollen, Napoleon wäre verloren gewesen, seine Truppen hätten weder Proviant noch Munition mehr. Nikolai aß schweigend und trank allein zwei Flaschen Wein. Seine innerliche Arbeit, die zu keiner Lösung gelangte, beunruhigte ihn noch immer. Er fürchtete sich, seinen eigenen Gedanken sich hinzugeben, und konnte sich ihrer doch nicht entledigen. Nach einer mißfälligen Bemerkung eines der Offiziere über die Franzosen fuhr Rostow plötzlich auf mit einer Heftigkeit, welche durch nichts gerechtfertigt war und daher die Offiziere sehr in Erstaunen setzte.

»Wie können Sie darüber urteilen, was besser wäre?« rief er mit hochrotem Gesicht. »Mit welchem Recht urteilen Sie über die Handlungen des Kaisers? Wir können weder die Absichten noch die Handlungen des Kaisers begreifen!«

»Ich habe kein Wort vom Kaiser gesagt«, rechtfertigte sich der Offizier, der sich den Ausbruch Rostows nur dadurch erklären konnte, daß er ihn für betrunken hielt.

Aber Rostow hörte ihn nicht an.

»Wir sind keine diplomatischen Beamten, wir sind Soldaten, weiter nichts«, fuhr er fort. »Befiehlt man uns zu sterben – so sterben wir, und wenn jemand bestraft wird, so heißt das, daß er schuldig sei! Nicht uns kommt es zu, darüber zu urteilen! Wenn es dem Kaiser gefällt, Bonaparte als Kaiser anzuerkennen und ein Bündnis mit ihm zu schließen, so bedeutet das, daß es so sein muß. Wenn wir über alles urteilen und räsonieren wollen, so gibt es nichts Heiliges mehr! Ebensogut können wir sagen, es gibt keinen Gott und nichts mehr!« schrie Nikolai und schlug auf den Tisch. Was nach den Begriffen der Zuhörenden ganz verworren war, erschien ihm durchaus konsequent und zu seiner Gedankenreihe passend. »Wir haben nur unsere Pflicht zu erfüllen, uns zu schlagen, aber nicht nachzudenken!« schloß er.

»Und zu trinken!« sagte einer der Offiziere, der Streit vermeiden wollte.

»Ja, und zu trinken« wiederholte Nikolai. »Kellner, noch eine Flasche!« schrie er.


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