Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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16

Peter hatte noch nicht die Zeit gefunden, sich für irgendeine Laufbahn zu entschließen, nachdem er aus Petersburg wegen seiner tollen Streiche verwiesen worden war. Die Geschichte, welche bei Rostows erzählt worden, war richtig, er hatte mit seinen Kameraden den Polizeioffizier dem Bären auf den Rücken gebunden.

Wie gewöhnlich wohnte er bei seinem Vater. Er vermutete mit Recht, daß seine Abenteuer bekannt geworden und daß die weibliche Umgebung des Grafen, die ihm immer feindlich gesinnt war, nicht verfehlen werde, den Grafen gegen ihn aufzubringen. Dennoch begab er sich am Tage seiner Ankunft in die Gemächer seines Vaters und auf dem Wege dahin trat er in den Salon ein, wo sich gewöhnlich die Fürstinnen aufhielten, um sie zu begrüßen. Zwei von ihnen waren mit Stickereien beschäftigt, während die dritte, die ältere, ihnen laut vorlas.

Ihre Haltung und ihre Toilette waren tadellos, aber die Länge ihres Oberkörpers fiel sogleich auf. Es war dieselbe, welche die Fürstin Drubezkoi ignoriert hatte. Die jüngeren waren beide sehr hübsch und unterschieden sich voneinander nur dadurch, daß die eine ein kleines Muttermal auf der Oberlippe hatte, das sie sehr verführerisch machte. Peter wurde empfangen wie ein Pestkranker. Die älteste hörte auf zu lesen und richtete schweigend entsetzte Blicke auf ihn, ebenso die zweite; die dritte, von etwas mutwilliger Gemütsart, bog sich auf ihre Arbeit herab, um ihr Lächeln in Erwartung der Szene, die sie voraussah, zu verbergen.

»Guten Tag, Cousinen«, sagte Peter. »Erkennen Sie mich nicht?«

»Oh, ich erkenne Sie nur zu gut, zu gut.«

»Wie geht's dem Grafen? Kann ich ihn sehen?« fragte Peter.

»Er leidet, und Sie haben es verstanden, seinen Kummer zu mehren.«

»Kann ich ihn sehen?« wiederholte Peter.

»O ja, wenn Sie ihn töten wollen! Olga, sieh nach, ob die Bouillon für den Onkel fertig ist! Es ist Zeit«, fügte sie hinzu, um Peter begreiflich zu machen, daß sie nur damit beschäftigt waren, den Onkel zu pflegen, während er offenbar nur darauf ausging, ihm Kummer zu bereiten. Olga ging.

»Wenn es so ist«, sagte Peter nach einigem Schweigen, »so werde ich in mein Zimmer gehen, und Sie werden mir sagen lassen, wann ich den Grafen sehen kann.«

Er ging, und die kleine mutwillige Fürstin brach in ein lautes Gelächter aus.

Am andern Tag kam der Fürst Wassil und ließ sich im Hause des Grafen nieder. Er ließ Peter kommen.

»Mon cher«, sagte er, »wenn Sie sich hier aufführen wie in Petersburg, so wird es ein schlimmes Ende nehmen, das ist sicher. Der Graf ist gefährlich krank, es ist überflüssig, daß Sie ihn besuchen.«

Von diesem Augenblick an kümmerte sich niemand mehr um Peter, welcher seine Tage ganz allein in seinem Zimmer im zweiten Stock zubrachte. Als Boris bei ihm eintrat, ging Peter mit großen Schritten unablässig auf und ab. Er hatte Boris zum letztenmal als vierzehnjährigen Knaben gesehen und erkannte ihn nicht wieder. Aber aus natürlicher Gutmütigkeit reichte er ihm lächelnd die Hand.

»Sie haben mich nicht vergessen?« fragte Boris. »Ich bin mit meiner Mutter gekommen, um den Grafen zu besuchen, aber man sagt, er sei krank.«

»Ja, so sagt man, und dabei läßt man ihm keine Minute Ruhe«, sagte Peter, der sich innerlich fragte, zu welcher Partei dieser junge Mann gehören möge. Boris sah, daß Peter ihn nicht erkannte, hielt es aber für überflüssig, sich zu nennen, und blickte ihm offen ins Auge.

»Der Graf Rostow ladet Sie ein, heute bei ihm zu speisen«, sagte er nach längerem Schweigen, welches Peter peinlich zu werden begann.

»Ah, der Graf Rostow!« rief Peter vergnügt, »dann sind Sie also sein Sohn? Denken Sie, ich habe Sie nicht wiedererkannt.«

»Sie irren sich«, erwiderte Boris mit spöttischem Lächeln, »ich bin Boris, der Sohn der Fürstin Drubezkoi.«

»Ach, wirklich! Ist das möglich? Ich habe so viele Verwandte in Moskau . . .. Sie sind also Boris? . . . Nun gut. Was sagen Sie zu Napoleons Expedition von Boulogne? Den Engländern wird es schlecht gehen, wenn es Napoleon gelingt, über den Kanal zu kommen.«

»Hier in Moskau fragt man wenig nach Politik«, erwiderte Boris, »man spricht nur von Ihnen und dem Grafen! Jeder will wissen, wem der Graf sein Vermögen vermachen wird, und wer weiß, ob er uns nicht alle enttäuschen wird! Was mich betrifft, ich wünsche ihm das Beste.«

»Ja, es ist traurig, sehr traurig«, stotterte Peter, der eine delikate Frage vorauszusehen glaubte.

»Und Sie können glauben«, begann Boris wieder, indem er leicht errötete, »daß jeder danach trachtet, etwas von dem Millionär zu erhalten.«

»Aha, da kommt es«, dachte Peter.

»Aber ich muß Ihnen sagen, um jedes Mißverständnis zu vermeiden, daß Sie sich sehr täuschen würden, wenn Sie meine Mutter und mich zu diesen Leuten rechneten. Ihr Vater ist sehr reich, und wir sehr arm, und darum eben habe ich ihn nie als einen Verwandten angesehen. Weder meine Mutter noch ich werden jemals ihn um etwas bitten oder etwas von ihm annehmen.«

Peter bedurfte einiger Zeit, um das zu verstehen. Plötzlich ergriff er lebhaft und wie immer mit linkischer Gebärde die Hand des jungen Offiziers.

»Seltsam!« rief er. »Könnte man glauben, daß ich . . . oder daß . . . Ich weiß sehr wohl . . .«

»Ich bin froh, daß ich Ihnen das gesagt habe! Entschuldigen Sie mich, wenn Ihnen das unangenehm war. Mein Grundsatz ist, immer aufrichtig zu sein! . . . Aber was soll ich Rostow antworten, werden Sie kommen?«

Nachdem Boris sich auf diese Weise aus einer schwierigen Situation befreit hatte, wurde er nach vorübergehender Verwirrung wieder unbefangen und liebenswürdig wie gewöhnlich.

»Hören Sie«, sagte Peter beruhigt, »Sie sind ein merkwürdiger Mensch! Was Sie eben gesagt haben, war sehr gut! Sie kennen mich nicht, das ist natürlich. Wir haben uns so lange nicht wiedergesehen. Damals waren wir noch Kinder, deshalb hätten Sie glauben können . . . ich verstehe Sie sehr gut . . . Ich hätte nicht den Mut gehabt, das zu tun, aber es war doch sehr gut! – Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Nun, wir werden uns noch besser kennenlernen, nicht wahr? Ich bitte Sie darum!« Er drückte ihm die Hand. »Wissen Sie, daß ich den Grafen noch nicht gesehen habe? Er hat mich nicht rufen lassen! . . . Was ist zu machen? Sie glauben also wirklich, Napoleon werde Zeit haben, über den Kanal zu setzen?«

Er war mitten in einer Erklärung über die Vorteile der Expedition von Boulogne, als ein Diener kam, um Boris zu benachrichtigen, daß seine Mutter abfahren wolle. Boris nahm Abschied von Peter, der ihm mit freundlichem Händedruck versprach, zum Diner zu Rostow zu kommen. Lange ging er im Zimmer auf und ab, jetzt aber ohne unsichtbare Feinde zu durchbohren. Er empfand, ohne Zweifel infolge seiner Jugend und seiner vollständigen Vereinsamung, ein zärtliches Gefühl für diesen intelligenten und sympathischen jungen Mann und nahm sich vor, nähere Bekanntschaft mit ihm zu machen.

Der Fürst Wassil begleitete die Fürstin zum Wagen, welche ihr von Tränen überströmtes Gesicht mit dem Taschentuch bedeckte.

»Es ist schrecklich«, murmelte sie, »aber ich werde dennoch meine Pflicht bis zum Ende erfüllen. Ich werde wiederkommen, um hier die Nacht zuzubringen. Man darf nicht länger zögern, jeder Augenblick ist kostbar. Ich begreife nicht, warum die Nichten noch warten. Mit Gottes Hilfe wird es mir gelingen, ihn vorzubereiten . . . Adieu, Fürst, Gotte erhalte Sie!«

»Adieu, ma chère«, wiederholte der Fürst nachlässig.

»Sein Zustand ist sehr traurig«, sagte unterwegs die Fürstin zu ihrem Sohn, »er erkennt niemand mehr.«

»Ich kann mir kein Bild davon machen, wie er mit Peter steht.«

»Das Testament wird alles offenbaren, und auch unser Schicksal wird davon abhängen.«

»Aber warum glaubst du, daß er uns etwas vermachen wird?«

»Ach, mein Kind, er ist so reich und wir so arm!«

»Dieser Grund scheint mir nicht überzeugend, Mama!«

»Mein Gott, mein Gott, wie krank er ist!« wiederholte die Fürstin.


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