Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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11

Als Nikolai nach dem Abendessen sich in seinem Kabinett ausgekleidet hatte, kam er im Schlafrock in das Schlafzimmer und traf seine Frau schreibend am Schreibtisch an.

»Was schreibst du da, Marie?« fragte Nikolai.

»Es ist ein Tagebuch, Nikolai«, sagte sie errötend und reichte ihm ein blaues Schreibbuch.

»Ein Tagebuch?« fragte Nikolai mit einigem Spott und ergriff das Schreibbuch. Es war französisch geschrieben und enthielt Notizen aus dem Leben der Kinder, über ihren Charakter und ihre Erziehung. Meist waren es unbedeutende Kleinigkeiten, die aber weder der Mutter noch dem Vater geringfügig erschienen, als er sie jetzt zum ersten Male las.

»Mitja war unartig bei Tisch, Papa verbot, ihm von der Pastete zu geben, aber er sah so gierig und kläglich zu, wie die anderen aßen! Ich glaube, daß diese Strafe nur die Begierde erregt. Das muß ich Nikolai sagen.« Er legte das Buch nieder und sah in ihre leuchtenden Augen, die ihn fragend ansahen, ob er das Tagebuch gutheiße. Doch daran und an der Verehrung, welche Nikolai seiner Frau widmete, konnte kein Zweifel sein. »Vielleicht hätte ich das nicht so pedantisch machen sollen, vielleicht war es ganz überflüssig«, dachte Nikolai.

Wenn Nikolai seine Gefühle hätte ergründen können, so hätte er gefunden, daß die erste Grundlage seiner zärtlichen, stolzen Liebe zu seiner Frau immer jenes Gefühl des Staunens über ihre geistige Überlegenheit war. Er war stolz darauf, daß sie so klug war und erkannte wohl seine Unbedeutendheit in geistiger Beziehung neben ihr. Um so mehr war er darüber erfreut, daß sie mit ihrer Seele ihm nicht nur angehörte, sondern einen Teil von ihm selbst bildete.

»Das ist sehr, sehr schön, meine Liebe«, sagte er mit wichtiger Miene. »Ich habe mich auch heute ungeschickt benommen«, fuhr er fort, »du warst nicht zugegen, ich habe mit Peter gestritten und bin hitzig geworden. Aber er ist auch solch ein Kind! Ich weiß nicht, was aus ihm würde, wenn ihn Natalie nicht am Zügel führte. Kannst du dir vorstellen, warum er nach Petersburg gereist war? . . . Dort haben sie eine geheime Gesellschaft gegründet.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Marie, »Natalie hat mir davon gesagt.«

»Nun, dann weißt du«, fuhr Nikolai, wieder hitzig werdend, fort, »daß er mich überzeugen will, die Pflicht jedes Ehrenmannes sei es, der Regierung Widerstand zu leisten, während . . . ich bedaure, daß du nicht zugegen warst, aber alle fielen über mich her, auch Denissow und Natalie. Natalie ist zum totlachen, sie versteht es sehr gut, ihn unter dem Pantoffel zu halten, aber wenn es sich um Vernunftgründe handelt, dann weiß sie nichts, dann spricht sie nur mit seinen Worten«, fügte Nikolai hinzu, indem er sich jenem unüberwindlichen Trieb unterwarf, die nächststehenden und teuersten Menschen zu kritisieren. Nikolai vergaß, daß das was er von Natalie sagte, Wort für Wort auch auf ihn im Verhältnis zu seiner Frau paßte.

»Ja, das habe ich auch bemerkt«, sagte Marie. »Du hast ja recht, das habe ich auch Natalie gesagt. Peter sagt, alle leiden und alle fallen der Verderbnis anheim, und unsere Pflicht sei, dem Nächsten zu helfen. Natürlich hat er darin recht, aber er vergaß, daß wir noch andere, nähere Pflichten haben.«

»Nun, siehst du, das ist's eben, was ich ihm gesagt habe«, rief Nikolai, der wirklich glaubte, dies ausgesprochen zu haben. »Aber er blieb dabei. Und das alles wurde in Gegenwart von Nikolai besprochen.«

»Ach, weißt du, Nikolai . . . es quält mich oft . . .« sagte Marie. »Das ist ein so außergewöhnlicher Knabe, und ich fürchte, ich vergesse ihn über den meinigen. Er hat niemand und ist immer allein mit seinen Gedanken.«

»Nun, ich glaube, du hast dir nichts vorzuwerfen! Alles, was die zärtlichste Mutter für ihren Sohn tun kann, tust du für ihn, und ich freue mich darüber. Er ist ein prächtiger, prächtiger Junge!«

Obgleich der kleine Nikolai ihm nicht gefiel, fühlte er doch immer das Verlangen, ihn für einen prächtigen Knaben zu erklären.

»Das ist immer nicht so wie eine Mutter«, sagte Marie, »und das quält mich! Ein wundervoller Knabe, aber ich fürchte für ihn! Es wird ihm zuträglicher sein, wenn er unter Menschen kommt.«

»Nun, ich werde ihn im nächsten Sommer nach Petersburg bringen«, sagte Nikolai. »Ja, Peter ist und bleibt ein Träumer«, fuhr er fort, »aber was geht mich das alles an, daß Araktschejew ein schlechter Mensch sei und dergleichen? Was habe ich danach gefragt, als ich heiratete und so viele Schulden hatte, daß man mich ins Gefängnis setzen wollte? Und dann du . . . und die Kinder und die Geschäfte! . . . Sitze ich etwa zum Vergnügen vom Morgen bis zum Abend im Kontor und bei den Geschäften? Nein, ich weiß, daß ich arbeiten muß, um meine Mutter zu beruhigen und dir das Deine zurückzahlen, und die Kinder nicht als solche Bettler zurückzulassen, wie ich einer war.«

Marie wollte ihm sagen, daß nicht vom Brot allein der Mensch lebe und daß er diesen »Geschäften« viel zu viel Wichtigkeit beilege, aber sie wußte, daß das nutzlos sei. Deshalb ergriff sie nur seine Hand und küßte sie. Das nahm er für Zustimmung und verfolgte seinen Gedankengang. »Du weißt, Marie«, sagte er, »heute ist der Verwalter vom Tambowschen Gut gekommen und hat mir gesagt, daß man für den Wald schon achtzigtausend geboten habe.« Dann erzählte er mit erregter Miene von der Möglichkeit, in nächster Zeit sein Familiengut Otradno zurückzukaufen. »Noch zehn Jährchen, und ich hinterlasse die Kinder . . . in vortrefflichen Umständen.«

Marie hörte zu und verstand alles, was er sagte. Sie wußte, daß er sie zuweilen befragte, was er gesagt habe, wenn er auf diese Weise laut dachte, und daß er sich ärgerte, wenn er bemerkte, daß sie an etwas anderes gedacht hatte. Sie gab sich alle Mühe, weil sie sich gar nicht dafür interessierte, wovon er sprach. Sie sah ihn an, und wenn sie auch nicht an anderes dachte, so war doch ihre Empfindung bei etwas anderem. Sie empfand eine gehorsame, zärtliche Liebe zu diesem Mann, welcher niemals alles begreifen konnte, was sie begriff, und eben deshalb liebte sie ihn noch stärker und mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Aber noch ein anderes Gefühl nahm sie in Anspruch. Sie dachte an ihren Neffen und verglich ihn mit ihren eigenen Kindern, aber sie verglich ihre Gefühle für sie und fand zu ihrer Betrübnis, daß in ihrem Gefühl für Nikolai etwas fehlte. Zuweilen kam ihr der Gedanke, dieser Unterschied komme vom Alter her, aber sie fühlte sich dennoch schuldig ihm gegenüber. Sie versprach sich innerlich selbst, sich zu bessern und das Unmögliche zu vollbringen, das heißt in diesem Leben ihren Mann, ihre Kinder und alle ihr Nahestehenden so zu lieben, wie Christus die Menschheit geliebt hat. Die Seele der Gräfin Marie strebte immer nach dem Unendlichen und Vollkommenen, deshalb konnte sie niemals Ruhe finden. Auf ihrem Gesicht erschien jetzt der starre, ernste Ausdruck verborgener Seelenleiden.

»Mein Gott, was wird aus uns, wenn sie stirbt, wie es mir immer scheint, wenn sie eine solche Miene hat?« dachte Nikolai und sprach vor dem Heiligenbild sein Abendgebet.


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