Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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18

Am folgenden Tag hatte der Graf Besuchow einen sechsten Schlaganfall. Da die Ärzte erklärten, daß jede Hoffnung auf Genesung verschwunden sei, wurden die Sterbegebete gelesen, und man bereitete den Kranken auf die letzte Ölung vor. Aufregung und Unruhe herrschten am Krankenbett; schon drängten sich die Unternehmer der Leichenbegängnisse an der Haustür. Der Generalgouverneur, welcher täglich einen Adjutanten gesandt hatte, erschien an diesem Abend in Person, um von dem erlauchten Zeitgenossen der Kaiserin Katharina Abschied zu nehmen. Eine vornehme Menge drängte sich im Empfangssaal; alle erhoben sich beim Eintritt des Generalgouverneurs, welcher eine halbe Stunde bei dem Sterbenden zugebracht hatte und, rechts und links grüßend, rasch den Saal durchschritt. Die Menge in dem Saal, welche sich flüsternd unterhielt, verstummte plötzlich und blickte unruhig und neugierig nach der Tür, so oft sie sich öffnete.

»Haben Sie den Generalgouverneur gesehen?« fragte jemand in einer Gruppe. »Wie jung er noch ist!«

»Und er ist nahe an sechzig.« – »Man sagt, der Graf sei nicht mehr bei Besinnung; man spricht davon, ihm die letzte Ölung zu geben«, bemerkte ein anderer.

»Ich kannte jemand, der sie siebenmal erhalten hat.«

Die zweite Nichte des Grafen Besuchow kam von ihrem Onkel mit roten Augen und setzte sich neben den Doktor Lorrain, der sich auf einem Sofa unter dem Bild der Kaiserin Katharina niedergelassen hatte.

»Wirklich prächtiges Wetter, Fürstin! Man könnte glauben, auf dem Lande zu sein, obgleich man sich in Moskau befindet.«

»Nicht wahr?« erwiderte das Fräulein mit einem Seufzer. »Erlauben Sie mir, ihm zu trinken zu geben?«

Der Arzt begann nachzudenken.

»Hat er die Suppe gegessen?«

»Ja.«

Der Arzt betrachtete seine Uhr.

»Nehmen Sie ein Glas gekochtes Wasser und werfen Sie ein Prischen Kremortartari hinein!« Dabei zeigte er mit den Fingerspitzen, wieviel eine Prise sei.

»Welch starke Natur!« bemerkte ein Adjutant zu einem deutschen Arzt. »Und wem wird all der Reichtum zufallen?«

»Es werden sich schon Liebhaber finden«, erwiderte der Deutsche mit einem schweren Seufzer.

Wieder öffnete sich die Tür, alle blickten auf. Es war die zweite Fürstin, welche die Suppe bereitet hatte und zu dem Kranken hineinging.

Der deutsche Arzt näherte sich Lorrain.

»Es kann sich wohl noch bis gegen Morgen hinziehen«, sagte er in zweifelhaftem Französisch.

Lorrain spitzte die Lippen und machte feierlich eine verneinende Bewegung mit dem Zeigefinger.

»Spätestens heute nacht«, sagte er leise, mit stolzem Lächeln über sein Wissen.


Fürst Wassil öffnete die Tür des Zimmers der älteren Fürstin. Es war fast dunkel darin. Vor den Heiligenbildern brannten zwei kleine Lampen, welche einen süßen Wohlgeruch ausströmten. Das Zimmer war von einer Menge kleiner Möbel und Tischchen von allen Formen erfüllt, und halb verborgen hinter einem Schirm sah man kaum die weiße Decke eines sehr hohen Bettes. Ein kleiner Hund bellte.

»Ach, Sie sind's, Vetter!«

Sie erhob sich. »Was gibt es? Sie haben mich erschreckt.«

»Es ist nichts – alles noch unverändert. Aber ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen, Käthchen.«

Er setzte sich gemächlich in den Lehnstuhl, den sie zuvor eingenommen hatte.

»Wie stark dein Zimmer geheizt ist. Nun, setze dich hierher!«

»Ich glaubte, es sei etwas vorgefallen.« Sie setzte sich ihm gegenüber mit ihrer kalten, steinernen Miene.

»Nun, wie ist's, ma chère?« begann der Graf Wassil und ergriff ihre Hand, die er wie gewöhnlich nach und nach sinken ließ.

Diese Worte mußten viel bedeuten, denn Cousin und Cousine hatten sich schweigend verstanden. Die Fürstin richtete langsam ihre ausdruckslosen grauen Augen auf ihn, dann senkte sie den Kopf, seufzte und blickte nach den Bildern an der Wand. Dies war auf verschiedene Art zu erklären. Es war Schmerz und Resignation, oder es war Ermüdung und Hoffnung auf baldige Ruhe. So verstand es der Fürst Wassil.

»Glaubst du denn, ich wäre nicht auch ermüdet wie ein Postpferd? Aber wir wollen sprechen, und ernsthaft, wenn du willst!«

Er schwieg. Seine Miene und sein Blick nahmen einen anderen, unangenehmen Ausdruck an, ganz unähnlich seinem gewöhnlichen. In seinen Augen war zugleich Dreistigkeit und Besorgnis zu lesen.

Die Fürstin hielt ihren kleinen Hund auf den Knien, betrachtete ihn aufmerksam in tiefem Schweigen, fest entschlossen, es nicht zuerst zu brechen, auch wenn es die ganze Nacht dauern sollte.

»Sehen Sie, teuerste Fürstin und Cousine Katharina«, begann der Fürst Wassil mit sichtlicher Anstrengung, »in solchen Augenblicken muß man an alles denken. Ich liebe euch wie meine eigenen Töchter, das weißt du, nicht wahr? . . .«

Da die Fürstin in fernerem Schweigen verharrte, fuhr er fort, ohne sie anzusehen: »Du weißt, Käthchen, daß ihr drei und meine Frau die einzigen direkten Erben seid. Ich weiß wohl, wie peinlich der Gegenstand für dich und auch für mich ist, aber, ma chère amie, ich bin über fünfzig, man muß an alles denken. Weißt du, daß ich nach Peter gesandt habe? Der Graf hat es verlangt, indem er auf sein Bild deutete.«

Der Fürst Wassil richtete seine Augen auf sie. Nichts in ihrer Miene ließ erraten, daß sie ihn gehört hatte.

»Ich richte unablässig innige Gebete für seine Rettung zu Gott, mein Vetter.«

»Ja, ja, gewiß«, erwiderte der Fürst. »Nun aber zur Sache! Du kennst sie. Im letzten Winter hat der Graf ein Testament gemacht, in dem er alles Peter vermachte und seine gesetzlichen Erben überging.«

»Oh, er hat so viele Testamente gemacht«, erwiderte die Nichte mit vollkommener Ruhe. »Jedenfalls kann er Peter nichts vermachen; denn Peter ist ein natürlicher Sohn.«

»Und was sollen wir machen«, rief lebhaft der Fürst Wassil, »wenn der Graf den Kaiser durch einen Brief bitten würde, seinen Sohn anzuerkennen? Aus Rücksicht auf die Dienste des Grafen würde man ihm das vielleicht bewilligen.«

Die Fürstin lächelte überlegen.

»Ich kann noch mehr sagen, der Brief ist schon geschrieben, wenn auch noch nicht abgesandt, und der Kaiser weiß es. Es handelt sich darum, zu ermitteln, ob er vernichtet worden ist. Wenn er im Gegenteil noch existiert, so wird man später . . . wenn alles vorüber ist«, und ein Seufzer deutete an, was er mit dem Worte »alles« meinte, »die Papiere des Grafen durchsuchen, das Testament wird dem Kaiser mit dem Brief übergeben, seine Bitte wird erfüllt, und Peter erbt alles, als anerkannter Sohn.«

»Und unser Anteil?« fragte die Fürstin mit ironischer Überzeugung, daß nichts zu befürchten sei.

»Aber liebes Käthchen, das ist doch klar wie der Tag. Dann ist er der einzige Erbe und ihr erhaltet keinen Groschen. Das mußt du wissen, meine Liebe, ob das Testament und der Brief vernichtet sind. Und wenn er sie vergessen hat, wo liegen sie? In diesem Fall kann man sie an sich nehmen, denn . . .«

»Warum nicht gar?« erwiderte sie mit demselben überlegenen Blick. »Ich bin nur eine Dame, und Damen erklärt ihr ja für dumm, aber ich weiß sicher, daß ein Bastard nichts erben kann. Un batard«, fügte sie französisch hinzu, als ob dieses Wort überzeugende Kraft hätte.

»Du willst mich nicht verstehen, Käthchen. Wenn der Graf die Legitimation durchsetzt, so ist Peter nicht mehr Peter, sondern Graf Besuchow, und das ganze Vermögen geht von selbst an ihn über. Wenn das Testament und der Brief noch existiert, so wirst du nichts weiter erhalten als das Bewußtsein, gut und hingebend gewesen zu sein. Das ist sicher.«

»Ich weiß, daß das Testament existiert; ich weiß aber auch, daß es nicht gesetzlich ist, und ich glaube, Sie halten mich für beschränkt, lieber Vetter«, erwiderte die Fürstin, überzeugt, etwas Sarkastisches und Geistreiches gesagt zu haben.

»Teuerste Fürstin«, erwiderte der Alte mit sichtlichem Verdruß, »ich bin nicht gekommen, um dich zu verletzen, sondern um mit dir über deine eigenen Interessen zu sprechen. Du bist eine gute, liebenswürdige Verwandte, und ich wiederhole dir zum zehnten Male, wenn das Testament und der Brief sich unter den Papieren des Grafen vorfinden, so hört ihr auf, reiche Erbinnen zu sein, du und deine Schwester. Wenn du kein Vertrauen zu mir hast, so wende dich an Leute, die es verstehen. Ich habe Dmitri Onufriewitch, den Anwalt des Hauses, gesprochen, und er hat mir dasselbe gesagt.«

Plötzlich wurde es hell in der Gedankenwelt der Fürstin. Ihre dünnen Lippen erbleichten, aber ihre Blicke behielten ihre Unbeweglichkeit bei. Ihre Stimme aber vermochte sie nicht mehr zu beherrschen.

»Das wäre nicht übel!« kreischte sie. »Ich habe niemals etwas verlangt, und ich will nichts annehmen! Aber das ist der Dank, das ist die Zuneigung zu denen, die ihm alles geopfert haben! Bravo! Zum Glück bedarf ich nichts, Fürst!«

»Aber du bist nicht allein, du hast Schwestern.«

»Ja«, fuhr sie fort, ohne auf ihn zu hören, »das wußte ich schon seit langer Zeit, aber ich dachte nicht mehr daran, daß ich nur Neid, Doppelzüngigkeit, Falschheit, den schwärzesten Undank in diesem Hause zu erwarten hatte! Ich habe alles begriffen, und ich weiß wohl, wem ich diese Intrige zu verdanken habe.«

»Aber es handelt sich jetzt nicht darum, meine Liebe.«

»Das ist Ihr Schützling, diese liebenswürdige Fürstin Drubezkoi, die ich nicht einmal zur Kammerjungfer haben möchte, dieses häßliche, abscheuliche Geschöpf!«

»Nun, nun, verlieren wir nicht unnütz die Zeit.«

»Ach, lassen Sie mich! Sie hat sich hier eingeschlichen während des Winters und hat dem Grafen Abscheulichkeiten erzählt über uns alle, besonders über Sophie, die ich Ihnen nicht wiederholen kann. Der Graf ist darüber krank geworden und hat uns vierzehn Tage lang nicht vor sich gelassen. Damals hat er dieses schmutzige Papier geschrieben, welches, wie ich glaubte, gar keinen Wert haben konnte.«

»Nun sind wir bei der Sache. Aber warum hast du mich nicht benachrichtigt? Wo ist das Papier?«

»Es liegt in der Mosaikmappe, die er immer unter seinem Kopfkissen liegen hat . . . ja, diese war es, und wenn ich eine große Sünde auf dem Gewissen habe, so ist es der Haß gegen dieses Weib! Warum drängt sie sich zwischen uns ein? Aber der Tag wird kommen, wo ich ihr die Wahrheit sage!« schrie die Fürstin, ganz außer sich.


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