Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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Seit Peter aus seinem Hause verschwand, wohnte er schon den zweiten Tag in der leeren Wohnung des verstorbenen Basdejew. Das war so gekommen: Als Peter am zweiten Tag nach seiner Rückkehr nach Moskau und der Unterredung mit dem Grafen Rostoptschin erwachte, konnte er lange nicht begreifen, wo er sich befand und was man von ihm wollte. Als man ihm unter anderen Namen von Personen, welche in seinem Vorzimmer warteten, auch den eines Franzosen nannte, der einen Brief von der Gräfin Helene brachte, befiel ihn plötzlich jenes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, dem er sich oft hingab. Es war ihm, als ob jetzt alles zu Ende, alles verwirrt und zerstört sei, daß es keine Gerechte und keine Schuldige gäbe, daß nichts mehr vor ihm liege und daß kein Ausweg aus dieser Lage zu finden sei. Mit einem unnatürlichen Lächeln setzte er sich bald hilflos auf einen Diwan, bald stand er auf, ging zur Tür und blickte durch einen Spalt in das Empfangszimmer, bald kehrte er wieder um und ergriff ein Buch. Der Haushofmeister meldete schon zum zweiten Mal, der Franzose, der den Brief von der Gräfin überbringe, wünsche sehr, ihn zu sprechen, und die Witwe J. A. Basdejews lasse bitten, die Bücher zu übernehmen, da sie selbst die Stadt verlasse.

»Ach, ja gleich! Warte einmal . . . oder nein, gehe und sage ihm, ich werde gleich kommen«, erwiderte Peter dem Haushofmeister, aber sobald dieser gegangen war, nahm Peter den Hut, der auf dem Tische lag und verließ das Kabinett durch eine Hintertür. In dem langen Gang war niemand zu sehen. Peter ging bis zur Treppe, wischte die Stirn mit beiden Händen ab und ging bis zum ersten Treppenabsatz hinab. Der Portier stand am Haupteingang. Von dem Treppenabsatz führte eine andere Treppe nach einem Nebengang. Diesen ging Peter entlang und auf den Hof hinaus, niemand sah ihn, aber sobald er durch die Pforte hinausging auf die Straße, erkannten ihn die Kutscher und der Portier und nahmen die Mützen ab. Als er die auf sich gerichteten Blicke fühlte, handelte er wie der Vogel Strauß, welcher den Kopf in das Gebüsch steckt, um nicht gesehen zu werden. Er senkte den Kopf, beschleunigte die Schritte und ging auf die Straße hinaus. Von allem, was Peter an diesem Morgen bevorstand, erschien ihm das Wichtigste die Übernahme der Bücher und Papiere von Joseph Basdejew. Er nahm die erste Droschke und befahl, nach dem Patriarchenteich zu fahren, wo die Witwe Basdejews wohnte. Er blickte sich beständig um. Von allen Seiten bewegten sich Wagenzüge nach den Toren Moskaus. Peter empfand ein freudiges Gefühl, wie ein Schulknabe, der der Schule entronnen ist, und sprach mit dem Kutscher. Dieser erzählte ihm, daß das Volk heute im Kreml Waffen erhalte, und daß es morgen nach den drei Bergen hinausziehen werde, wo eine große Schlacht stattfinden solle. Am Patriarchenteich klopfte Peter an die Pforte des Hauses, das er suchte, worauf Gerasim erschien, derselbe gelbe, bartlose Greis, welchen Peter vor fünf Jahren in Torshok bei Basdejew gesehen hatte.

»Zu Hause?« fragte Peter.

»Die gnädige Frau ist mit den Kindern auf das Gut bei Torshok gefahren, Erlaucht.«

»Aber ich werde doch eintreten, ich muß die Bücher abholen«, sagte Peter.

»Belieben Sie einzutreten! Der Bruder des Verstorbenen – ihm sei das Himmelreich! – Makar, ist dageblieben.«

Makar war, wie Peter wußte, ein halbverrückter Bruder Basdejews, welcher dem Trunk ergeben war.

»Ja, ja, ich weiß! Komm!« sagte Peter und trat ins Haus. Ein hochgewachsener, kahlköpfiger, alter Mann in einem Schlafrock, mit roter Nase und Galoschen an den bloßen Füßen stand im Vorzimmer. Als er Peter erblickte, murmelte er zornig etwas vor sich hin und ging auf den Flur hinaus.

»Es war ein großer Geist, aber jetzt, wie Sie sehen, schwach geworden«, sagte der Diener. »Belieben Sie ins Kabinett einzutreten.«

Peter nickte und trat in das düstere Kabinett ein, das er bei Lebzeiten des Verstorbenen mit solcher Ehrfurcht betreten hatte. Jetzt sah es düster und staubig aus.

Gerasim öffnete einen Fensterladen und verließ das Zimmer, das sich noch ganz in dem Zustand befand, wie es nach dem Tode des Besitzers versiegelt worden war. Im Schrank lagen Handschriften. Er setzte sich an den staubigen Schreibtisch und legte dieselben vor sich, öffnete sie, schloß sie wieder, schob sie von sich, stützte den Kopf auf die Hand und verfiel in Nachdenken.

Mehr als zwei Stunden waren vergangen, Gerasim erlaubte sich, an der Tür ein Geräusch zu machen, aber Peter hörte ihn nicht.

»Befehlen Sie, die Droschke zu entlassen?«

»Ach ja«, sagte Peter erwachend und aufstehend. »Höre«, sagte er und ergriff Gerasim an einem Knopfloch, während er ihn mit glänzenden, feuchten, entzückten Augen ansah, »höre! Du weißt, daß morgen eine Schlacht sein wird.«

»Man spricht davon!« erwiderte Gerasim.

»Sage niemand wer ich bin, und tue, was ich dir sage.«

»Zu Befehl!« erwiderte Gerasim. »Sie wünschen zu speisen?«

»Nein, aber ich brauche etwas anderes. Ich muß einen Bauernrock und eine Pistole haben!« sagte Peter plötzlich erregt.

»Sehr wohl!« erwiderte Gerasim.

Den ganzen Rest des Tages verbrachte Peter allein in diesem Kabinett und sprach mit sich selbst, wie Gerasim hörte. Dann übernachtete er in einem für ihn aufgestellten Bett. Gerasim, als erfahrener Diener, äußerte keine Verwunderung über die Übersiedlung Peters. An demselben Abend brachte er Peter einen Kaftan und eine Mütze und versprach, am anderen Tag die Pistole zu besorgen. Makar erschien an diesem Abend zweimal an der Tür und blickte gespannt nach Peter, aber sobald dieser sich umwandte, nahm Makar seinen Schlafrock zusammen und verschwand hastig. Während Peter in dem Bauernrock mit Gerasim ausgegangen war, um eine Pistole zu kaufen, fand die Begegnung mit Rostows statt.


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