Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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204

Peter erwachte am 5. September spät am Morgen. Sein Kopf schmerzte, die Kleider, in denen er geschlafen hatte, waren ihm unbequem, und innerlich fühlte er ein unbestimmtes Bewußtsein von etwas Beschämendem, was er am Tage vorher begangen hatte. Dieses Beschämende war das gestrige Gespräch mit dem Kapitän Ramballes. Die Uhr zeigte elf, und draußen war es besonders trübe. Peter stand auf, und als er die Pistole erblickte, welche Gerasim wieder auf den Schreibtisch gelegt hatte, erinnerte er sich, wo er sich befand und was ihm am heutigen Tage bevorstand.

»Habe ich mich nicht etwa verspätet?« dachte Peter.

»Nein, wahrscheinlich wird er seinen Einzug in Moskau nicht früher als um zwölf Uhr halten.« Er erlaubte sich nicht mehr, über sein Vorhaben nachzudenken, und beeilte sich, nur möglichst rasch zu handeln.

Nachdem er seinen Anzug in Ordnung gebracht hatte, nahm er die Pistole in die Hand und wandte sich zum Gehen. Jetzt kam ihm zum erstenmal der Gedanke, daß er die Pistole doch nicht in der Hand über die Straße tragen könne, selbst unter seinem weiten Kaftan war die große Pistole schwer zu verbergen, auch im Gürtel und unter dem Arme konnte man sie nicht unbemerkt unterbringen. Außerdem war die Pistole abgeschossen, und Peter verstand nicht, sie zu laden.

»Nun, gleichviel, dann also den Dolch!« sagte Peter, obgleich er früher der Meinung gewesen, daß es ein großer Mißgriff des Studenten war, der im Jahre 1809 Napoleon töten wollte, hierfür den Dolch gewählt zu haben. Er nahm hastig den stumpfen Dolch und verbarg ihn unter der Weste, dann umgürtete er den Kaftan, setzte die Mütze auf und ging geräuschlos, um den Kapitän nicht zu stören, auf die Straße hinaus.

Während der Nacht hatte sich die Feuersbrunst, die er am Abend zuvor so gleichgültig angesehen hatte, bedeutend vergrößert. Moskau brannte schon an verschiedenen Stellen. An den meisten Häusern waren die Türen verschlossen, die Straßen und Gäßchen waren verödet und die Luft mit Brandgeruch erfüllt. Die wenigen ihm begegnenden Russen und Franzosen blickten Peter verwundert an. Die große, dicke Gestalt mit dem seltsamen, finsteren und leidenden Gesichtsausdruck fiel auf, selbst die Russen vermochten nicht zu erkennen, zu welchem Stande dieser Mensch gehörte. Die Franzosen sahen ihm verwundert nach, weil Peter nicht, wie andere Russen, die Franzosen ängstlich und neugierig ansah, sondern gar nicht auf sie achtete. An der Tür eines Hauses wurde Peter von drei Franzosen angehalten, welche ihn fragten, ob er nicht Französisch verstehe. Peter schüttelte verneinend mit dem Kopf und ging weiter. Er hörte und sah nichts, was um ihn vorging. Indessen auch, wenn er durch nichts unterwegs aufgehalten worden wäre, hätte er doch seinen Plan nicht ausführen können, weil Napoleon schon vor mehr als vier Stunden in den Kreml eingezogen war und dort in der düstersten Stimmung in den kaiserlichen Gemächern saß und ausführliche Befehle gab zur Unterdrückung der Feuersbrunst und zur Beruhigung der Einwohner. Aber Peter wußte nichts davon und war ganz versunken in die Gedanken an das Bevorstehende. Er quälte sich, wie jemand, der etwas Ungewöhnliches unternimmt, mit der Furcht, daß er im entscheidenden Augenblick den Mut und damit auch die Achtung vor sich selbst verlieren würde. Er hörte und sah nichts und verfolgte nur fast unbewußt den Weg, ohne sich in den Straßen und Gäßchen zu irren, die ihn nach der Powarstraße führten. Je mehr er sich der Powarstraße näherte, desto stärker wurde der Rauch, und er fühlte schon die Hitze des Feuers. Zuweilen stiegen Feuerzungen hinter den Dächern der Häuser auf, er fand immer mehr ängstliches Volk in den Straßen und bemerkte nicht, daß er sich dem Feuer näherte. Als er durch ein Gäßchen kam, hörte er plötzlich neben sich das verzweifelte Weinen eines Weibes. Er blieb stehen, wie aus einem Traum erwachend, und blickte sich um.

Seitwärts von dem Gäßchen auf einem mit Staub bedeckten Rasen lagen Hausgeräte und Habseligkeiten umher, Samoware, Heiligenbilder, Koffer. Auf der Erde saß neben den Koffern ein hageres Weib mit einer Haube auf dem Kopf, welches verzweifelt weinte. Zwei Mädchen von zehn oder zwölf Jahren in schmutzigen, kurzen Röcken sahen erschreckt nach der Mutter. Ein kleiner Knabe von sieben Jahren mit einer großen Mütze auf dem Kopf weinte in den Armen einer alten Wärterin. Ein barfüßiges, schmutziges Mädchen saß auf einem Koffer, und ein kleiner, dicker Mann in einer alten Uniform, mit radförmigem Backenbart, schob den Koffer zur Seite.

Als die Frau Peter erblickte, stürzte sie ihm beinahe zu Füßen.

»Väterchen! Christen! Rechtgläubige! Helft! Helft!« rief sie weinend. »Mein Mädchen . . . meine kleine Tochter ist zurückgeblieben . . . sie wird verbrennen! Oh! Oh! Oh!«

»Höre auf, Maria Nikolaijewna«, sagte der Mann mit leiser Stimme zu der Frau. »Deine Schwester wird sie mitgenommen haben, es kann nicht anders sein.«

»Ungeheuer! Bösewicht!« schrie die Frau, indem sie plötzlich zu weinen aufhörte. »Du hast kein Herz für deine Kinder! Ein anderer würde das Kind aus dem Feuer geholt haben, aber du bist kein Mensch, kein Vater! Sie sind ein edler Mensch!« fuhr sie hastig zu Peter fort. »Es brannte im Nebenhaus, und dann kam es zu uns, ein Mädchen schrie: ›Es brennt!‹ Wir stürzten hinaus, so wie wir standen, nur wenig haben wir noch retten können. Als wir die Kinder hinausführten, fehlte die kleine Katetschka! Oh! O Himmel!« Und wieder weinte sie laut.

»Was denn, wo ist sie geblieben?« fragte Peter.

»O Väterchen! Väterchen!« rief sie und umfaßte seine Knie. »Aniska, du Nichtswürdige, geh, begleite den Herrn!« schrie sie zornig mit weitgeöffnetem Mund das Mädchen an.

»Zeige mir den Ort!« sagte Peter hastig.

Das schmutzige Mädchen erhob sich und ging barfuß den Fußweg entlang. Peter war wie aus einem schweren Traum plötzlich erwacht. Seine Augen glänzten und er folgte mit raschen Schritten dem Mädchen. Als er in die Powarstraße kam, war die ganze Straße mit schwarzen Rauchwolken erfüllt, aus welchen sich immer wieder feurige Zungen erhoben. Eine große Menschenmasse drängte sich vor die Brandstätte. Inmitten der Straße stand ein französischer General. Peter wollte mit dem Mädchen nach der Stelle gehen, wo der General stand, aber französische Soldaten wiesen ihn zurück.

»Hierher, Onkelchen!« schrie das Mädchen. »Wir können durch dieses Gäßchen gehen.« Das Mädchen wandte sich zur Linken in ein Gäßchen. »Hier war's«, sagte die Kleine, öffnete eine Hofpforte in einem Zaun und deutete auf ein kleines, hölzernes Haus, das hell brannte. Die eine Seite war eingestürzt, die andere brannte und die Flamme schlug aus den Fenstern und zum Dach heraus. Als Peter durch die Pforte in den Hof trat, empfand er eine erstickende Hitze.

»Welches ist euer Haus?«

»Oh! Oh! Oh!« weinte das Mädchen, indem es auf das kleine Haus deutete. »Das ist es! Ach, bist du verbrannt, unser Schatzkästchen, Katetschka? Oh!« heulte Aniska beim Anblick des Feuers.

Peter näherte sich dem Hause, aber die Hitze war so stark, daß er unwillkürlich einen Bogen um dasselbe beschrieb, so daß er sich vor einem neuen, großen Hause befand, welches noch erst auf einer Seite brannte und um welches sich eine Gruppe Franzosen drängte. Anfangs begriff Peter nicht, was diese Franzosen machten, welche etwas herauszogen, aber als er vor sich einen Franzosen bemerkte, der auf einen Bauern losschlug und ihm einen Fuchspelz abnahm, bemerkte Peter, daß hier geplündert wurde. Doch er konnte dies nicht aufhalten. Das Krachen der einstürzenden Wände und Decken, das Prasseln und Zischen der Flammen, das Schreien der Volksmenge, der Anblick der aufsteigenden Rauchwolken, der umherfliegenden Funken und der an den Wänden emporleckenden Flammen, die Hitze und der Rauch – das alles brachte auf Peter die gewöhnliche, aufregende Wirkung einer Feuersbrunst hervor. Jetzt fühlte er sich frei von dem Druck seiner Gedanken, er war heiter und entschlossen und wollte schon in den Teil des Hauses eindringen, der noch stand, als er gerade über seinem Kopf mehrere Stimmen vernahm, worauf etwas Schweres mit lautem Krachen neben ihn niederfiel.

Peter blickte in die Höhe und sah in den Fenstern des Hauses Franzosen, welche eine Kommode, in der sich metallische Gegenstände befanden, herausgeworfen hatten. Andere französische Soldaten, die unten standen, stürzten auf die Kommode zu.

»Was will dieser da?« schrie einer der Franzosen.

»Ein Kind ist in diesem Hause! Haben Sie nicht ein Kind gesehen?« fragte Peter.

»Was schwatzt er da? Geh zum Teufel!« schrie die Stimme, und einer der Soldaten, welcher befürchten mochte, daß Peter ihnen das Silberzeug wegnehmen werde, das sich in der Kommode befand, trat mit drohender Gebärde auf ihn zu.

»Ein Kind?« schrie von oben ein Franzose. »Ich habe im Garten etwas schreien gehört, vielleicht ist das ein Kind! Nun, man muß doch menschlich sein!«

»Wo ist es? Wo ist es?« fragte Peter.

»Hierher!« rief ihm der Franzose vom Fenster aus zu und deutete auf den Garten hinter dem Hause. »Warten Sie, ich werde sogleich herabkommen!« Und wirklich sprang ein kleiner, schwarzhaariger Franzose, mit einem Flecken auf der Wange, durchs Fenster des unteren Stockes, klopfte Peter auf die Schulter und lief mit ihm in den Garten.

»Heda! Rasch!« rief er seinen Kameraden zu. Hinter dem Hause, auf einem mit Sand bestreuten Gartenweg, zog der Franzose Peter am Arm und deutete nach einer Bank, unter welcher ein dreijähriges Mädchen in einem rosafarbigen Kleidchen lag. »Sehen Sie, da ist Ihr Kind! Ach, ein Mädchen! Um so besser!« sagte der Franzose. »Auf Wiedersehen, dicker Freund!« Damit lief er zu seinen Kameraden zurück. Freudig lief Peter auf das Mädchen zu und wollte es auf den Arm nehmen, aber das Mädchen schrie und wollte davonlaufen. Peter erfaßte es jedoch und hob es auf den Arm, während es verzweifelt und boshaft schrie und sich von Peter loszureißen und ihn zu beißen suchte. Ein Gefühl des Mitleids und des Widerwillens ergriff Peter. Er überwand es und beeilte sich, den Rückweg aufzusuchen. Aber es war nicht mehr möglich, auf demselben Wege zurückzukehren. Aniska war verschwunden, und Peter lief durch den Garten, um einen anderen Ausweg zu suchen.


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