Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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5

Es war am Vorabend von Nikolais Namenstag, am 5. Dezember 1820. Natalie war mit ihren Kindern und ihrem Mann seit dem Herbst bei ihrem Bruder zu Gast. Peter war auf drei Wochen in Geschäften nach Petersburg gefahren, wie er sagte, und schon sieben Wochen ausgeblieben und wurde jeden Tag erwartet. Am 5. Dezember war auch noch ein alter Freund Nikolais, der verabschiedete General Denissow, angekommen. Am folgenden Tage, dem Feiertag, wußte Nikolai, daß er seine Hausjacke ablegen, einen Rock und enge Stiefel anziehen und in die von ihm neugebaute Kirche fahren mußte, daß er dann die Glückwünsche entgegennehmen, alle zum Frühstück einladen und von den Adelswahlen und der Ernte sprechen mußte. Aber am Vorabend des Feiertags hielt er sich noch für berechtigt, in gewöhnlicher Weise zu leben. Bis zum Mittagessen war er mit dem Verwalter aus dem Räsanschen Gut seines Neffen bei den Abrechnungen beschäftigt, dann schrieb er Geschäftsbriefe und ging in die Ställe. Nachdem er Maßregeln gegen die am folgenden Tag zu erwartende allgemeine Trunkenheit getroffen hatte, kam er zu Tisch, an dem sich alle Hausbewohner versammelten, seine Mutter sowie eine alte Dame namens Bjelow, die bei ihr wohnte, seine Frau mit drei Kindern und deren Gouvernante und der alte Architekt Michail Iwanowitsch.

Gräfin Marie saß ihm gegenüber am anderen Ende des Tisches. Sobald ihr Mann seinen Platz einnahm, erkannte Gräfin Marie an der Art, wie er seine Serviette ausbreitete und die vor ihm stehenden Gläser hastig zurückstieß, daß er schlechter Laune war, wie es zuweilen vorkam, besonders vor der Suppe und wenn er gerade von Wirtschaftsgeschäften kam. Diese Stimmung kannte sie sehr gut, und gewöhnlich wartete sie, bis er die Suppe gegessen hatte, um dann mit ihm zu sprechen und ihn zu veranlassen, über den Grund seiner Mißstimmung sich auszusprechen. Sie hielt sich für unglücklich, weil er ohne Grund ärgerlich auf sie sei. Auf ihre Frage, wo er gewesen sei, antwortete er kurz; sie fragte, nochmals, ob alles in Ordnung sei, worauf seine Miene sich verfinsterte. Er war ärgerlich über ihren gelassenen Ton und antwortete rasch.

»Ich habe mich nicht geirrt«, dachte die Gräfin Marie, »aber warum ist er ärgerlich auf mich?« In dem Tone seiner Antwort hatte sie Groll vernommen und den Wunsch, das Gespräch abzubrechen.

Nach Tisch wurde das Gespräch bald allgemein und lebhaft, und die Gräfin Marie kam nicht dazu, mit ihrem Mann zu sprechen. Als man aufstand, fragte sie ihn, warum er ärgerlich sei.

»Du hast ewig so sonderbare Gedanken! Ich denke nicht daran, ärgerlich zu sein«, erwiderte er, aber das Wörtchen »ewig« antwortete ihr: ja, ich bin ärgerlich und will es nicht sagen. Obgleich Nikolai mit seiner Frau so gut lebte, kamen doch Augenblicke des Zwistes vor. Oft erhob sich gerade nach den glücklichsten Perioden zwischen ihnen plötzlich ein Gefühl der Entfremdung und Feindseligkeit, und am häufigsten zu der Zeit, wenn Gräfin Marie, wie jetzt eben, sich in interessanten Umständen befand.

»Nun, messieurs et mesdames«, sagte Nikolai laut mit scheinbarer Heiterkeit, die Marie dazu bestimmt glaubte, sie zu verletzen, »ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen, morgen ist ein schwerer Tag, und deshalb muß man jetzt ausruhen!« Ohne ein Wort zu seiner Frau zu sagen, ging er in das kleine Diwanzimmer und legte sich auf den Diwan.

»So ist es immer«, dachte Gräfin Marie, »mit allen spricht er, nur nicht mit mir! Ich sehe, ich sehe, daß ich ihm widerlich geworden bin, besonders in dieser Lage.« Alles wurde ihr unangenehm, das Lachen und laute Wesen Denissows, die Unterhaltung mit Natalie und besonders der Blick, den Sonja hastig nach ihr warf. Sonja war immer der erste Vorwand, den Gräfin Marie für ihre Reizbarkeit wählte. Sie vernahm nichts mehr von dem Gespräch, erhob sich leise und ging in das Kinderzimmer.

Die Kinder fuhren auf Stühlen nach Moskau und luden sie ein, mitzufahren. Sie setzte sich, spielte mit ihnen, aber der Gedanke an ihren Mann und seinen grundlosen Verdruß verließ sie nicht. Sie stand auf und ging auf den Zehenspitzen nach dem kleinen Diwanzimmer zu.

»Vielleicht schläft er nicht, und ich kann mich mit ihm aussprechen«, dachte sie. Andruscha, ihr Ältester, ging ihr auf den Zehenspitzen nach, ohne daß sie es bemerkte.

»Marie, er schläft wahrscheinlich, er wird müde sein«, sagte Sonja, die, wie Marie sich sagte, ihr überall in den Weg kam. »Andruscha sollte ihn nicht aufwecken.«

Als Marie sich umblickte und hinter sich den Kleinen sah, fand sie, daß Sonja recht hatte, aber eben deshalb fuhr sie ungeduldig auf und hielt mühsam harte Worte zurück. Sie sagte nichts, aber um ihr nicht zu gehorchen, machte sie Andruscha ein Zeichen mit der Hand, er solle kein Geräusch machen, und ging doch hinter ihr zur Tür. Aus dem Zimmer, in dem Nikolai schlief, vernahm sie ein gleichmäßiges, in jeder Klangstufe ihr wohlbekanntes Atmen, sie sah vor sich seine glatte, schöne Stirn, sein ganzes Gesicht, das sie in der Stille der Nacht, wenn er schlief, so oft und lange betrachtet hatte. Nikolai machte eine Bewegung, und in demselben Augenblick rief Andruscha zur Tür herein: »Papachen, dort steht Mama!«

Die Gräfin erbleichte vor Schrecken und winkte ihrem Sohne. Er schwieg, und es folgte ein minutenlanges, für Marie peinliches Schweigen. Sie wußte, daß Nikolai nicht liebte, geweckt zu werden; plötzlich hörte man draußen neues Geräusch, und die unwillige Stimme Nikolais sagte: »Man hat keinen Augenblick Ruhe! Bist du das, Marie? Warum hast du ihn hereingeführt?«

»Ich kam nur, um nachzusehen und habe ihn nicht bemerkt. Entschuldige!«

Nikolai hustete und schwieg. Gräfin Marie trat zur Tür zurück und führte den Kleinen hinaus. Nach drei Minuten kam die kleine schwarzäugige Natalie, der Liebling des Vaters, hereingelaufen, da sie von ihrem Bruder erfahren hatte, daß Papa schlafe und Mama bei ihm sei. Die Kleine knarrte ungeniert mit der Tür und ging mit energischen Schritten an den Diwan, betrachtete den Papa, erhob sich auf die Zehenspitzen und küßte seine unter seinem Kopfe liegende Hand. Nikolai wandte sich um mit einem gerührten Lächeln.

»Natalie! Natalie!« rief die Gräfin Marie erschreckt von der Tür her. »Papa will schlafen!«

»Nein, Mama, er will nicht schlafen«, erwiderte die kleine Natalie mit Überzeugung, »er lacht ja!«

Nikolai richtete sich auf und nahm die Kleine auf den Arm.

»Komm herein, Marie!« sagte er zu seiner Frau.

Sie trat ins Zimmer und setzte sich neben ihn. »Ich habe nicht gesehen, daß er mir nachlief«, sagte sie schüchtern.

Nikolai trug auf dem einen Arm die Kleine, und als er die schuldbewußte Miene seiner Frau bemerkte, umarmte er sie mit dem anderen Arm und küßte sie auf die Haare. »Kann ich Mama küssen?« fragte er Natalie. Sie lachte. »Noch einmal!« sagte sie und deutete gebieterisch nach der Stelle, wo Nikolai sie geküßt hatte.

»Ich weiß nicht, warum du glaubst, ich sei schlechter Laune«, sagte Nikolai als Antwort auf die Frage, die, wie er wußte, ihr auf dem Herzen lag. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie unglücklich und einsam ich mich fühle, wenn du so bist.«

»Marie, höre auf! Unsinn! Schämst du dich nicht?« sagte er vergnügt.

»Mir scheint immer, du könntest mich nicht lieben, weil ich so häßlich bin . . . Und immer . . . Und jetzt . . . In dieser . . «

»Ach, wie lächerlich du bist! Nicht die Schönheit macht liebenswürdig, aber die Liebenswürdigkeit macht schön. Das sind andere, die man wegen ihrer Schönheit liebt. Aber liebt man denn seine Frau? Ich nicht. Aber ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, wenn du nicht da bist, oder wenn, wie jetzt, eine Katze zwischen uns durchläuft, so bin ich zu nichts mehr fähig. Nun, sieh doch, liebe ich etwa meinen Finger? Nein, gar nicht, aber versuche einmal, ihn abzuschneiden!«

»Nein, so ist es nicht, aber ich verstehe dich. Du bist mir also nicht böse!«

»Schrecklich böse!« sagte er lachend. Dann stand er auf, strich ihre Haare zurück und ging im Zimmer auf und ab.

»Weißt du, was ich gedacht habe?« begann er. Jetzt nach der Versöhnung begann er sogleich in ihrer Gegenwart laut zu denken. Er fragte nicht danach, ob sie bereit sei, ihm zuzuhören, das war ihm ganz gleichgültig. Ein Gedanke war ihm gekommen, also wahrscheinlich auch ihr, und er erzählte ihr, er habe die Absicht, Peter zu überreden, bis zum Frühjahr bei ihnen zu bleiben.

Marie hörte ihn an, machte eine Bemerkung und begann dann ihrerseits laut zu denken. Ihre Gedanken waren bei den Kindern.

»Wie das Weibliche schon in ihr sichtbar ist!« sagte sie französisch, auf die kleine Natalie deutend. »Ihr werft uns Frauen immer vor, wir seien nicht logisch, aber siehst du, so ist unsere Logik: Ich sage: ›Papa will schlafen‹, und sie erwidert: ›Nein, er lacht!‹ Und sie hat recht!« sagte die Gräfin Marie mit glücklichem Lächeln.

»Ja, ja!« Und Nikolai hob die Kleine hoch auf, setzte sie auf seine Schulter, ergriff ihre Beinchen und ging mit ihr im Zimmer auf und ab. Vater und Tochter hatten gleich glückliche Gesichter.

»Du liebst sie zu sehr!« flüsterte die Mutter.

»Was soll ich machen? Ich gebe mir Mühe, es nicht merken zu lassen . . .«

Draußen hörte man Geräusch und Schritte.

»Jemand ist angekommen.«

»Ich bin überzeugt, daß es Peter ist, ich werde mich erkundigen!« rief Marie und verließ das Zimmer. Nikolai galoppierte mit der Kleinen durchs Zimmer.

»Er ist da, Nikolai!« rief nach wenigen Augenblicken Gräfin Marie zurückkehrend. »Jetzt lebt unsere Natalie wieder auf! Du hättest ihr Entzücken sehen sollen, wie sie ihn sogleich dafür ausschalt, daß er so lange ausgeblieben ist! Nun, komm schnell! Komm!«

Nikolai ging, mit der Kleinen an der Hand, hinaus, Gräfin Marie aber blieb noch im Zimmer zurück.

»Niemals hätte ich geglaubt«, flüsterte sie, »daß man so glücklich sein kann!« Ihr Gesicht strahlte, zugleich aber seufzte sie auch, und ein stiller Kummer lag in ihrem tiefen Blick, als ob es außer dem Glück, das sie empfand, noch ein anderes, in diesem Leben unerreichbares Glück gäbe, an das sie sich unwillkürlich in diesem Augenblick erinnerte.


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