Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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4

Was Nikolai zuweilen betrübte, war seine Hitzigkeit im Verein mit seiner alten Husarengewohnheit, seinen Händen freien Willen zu lassen. Anfangs sah er darin nichts Tadelnswertes, aber im zweiten Jahre seiner Ehe änderte sich plötzlich seine Ansicht. Im Sommer wurde einmal der Dorfälteste aus Bogutscharowo, der Nachfolger des verstorbenen Dron, berufen, da er verschiedener Betrügereien und Unpünktlichkeiten angeklagt war. Nikolai ging hinaus auf die Vortreppe, und bei der ersten Antwort des Dorfältesten hörte man Schreien und Schläge. Als Nikolai ins Zimmer trat und nach seiner Gewohnheit alles erzählte, was ihn an diesem Morgen beschäftigt hatte, errötete und erbleichte die Gräfin Marie und ließ schweigend den Kopf hängen.

»So ein frecher Betrüger!« sagte er zornig. »Hätte er mir gesagt, er sei betrunken, so hätte ich nicht hingesehen . . . Aber was ist dir, Marie?«

Die unschöne Gräfin Marie verschönerte sich immer, wenn sie weinte. Sie weinte nicht aus Schmerz oder Ärger, sondern nur aus Betrübnis, und wenn sie weinte, so gewannen ihre strahlenden Augen einen unaussprechlichen Reiz. Sobald Nikolai ihre Hand ergriff, brach sie in Tränen aus.

»Nikolai, ich habe gesehen . . . Er mag schuldig sein, aber warum hast du das getan?« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Nikolai schwieg und ging tief errötend im Zimmer auf und ab, konnte ihr aber nicht darin beistimmen, daß das, was er von Kindheit auf als ganz gewöhnlich angesehen hatte, schlecht sei.

»Ist das Weibergeschwätz oder hat sie recht?« fragte er sich selbst, aber als er ihr betrübtes Gesicht ansah, begriff er sogleich, daß sie recht hatte. »Marie«, sagte er leise, »es wird nicht mehr vorkommen, ich gebe dir mein Ehrenwort! Niemals!« wiederholte er mit zitternder Stimme. »Das wird mich immer daran erinnern«, sagte er, auf seinen zerschlagenen Ring deutend. Von dieser Zeit an drehte er diesen Ring am Finger, wenn ihm das Blut ins Gesicht stürzte, und schlug die Augen nieder vor dem Menschen, der ihn gereizt hatte. Ein- oder zweimal im Jahr vergaß er sich aber, und dann kam er zu seiner Frau und versprach wieder, das werde das letztemal sein.

Beim Adel des Gouvernements war Nikolai geachtet, aber nicht beliebt, da er an den Interessen des Adels nicht teilnahm. Im Sommer widmete er sich ganz der Wirtschaft und im Herbst ging er auf die Jagd, im Winter besuchte er Nachbarn und beschäftigte sich viel mit Lesen. Hauptsächlich las er historische Werke. Auch den Winter verbrachte er mit Ausnahme kleiner Reisen in Geschäften meist zu Hause und entdeckte mit jedem Jahr neue geistige Schätze an seiner Frau.

Sonja lebte seit Nikolais Verheiratung in seinem Hause. Noch vor der Hochzeit hatte er unter Selbstvorwürfen seiner Frau alles erzählt, was zwischen ihm und Sonja vorgegangen war, und bat die Fürstin Marie, freundlich und gut gegen seine Cousine zu sein. Die Gräfin Marie erkannte wohl die Schuld ihres Mannes gegen Sonja und glaubte, ihr Vermögen habe Einfluß auf Nikolais Wahl gehabt. Sie wünschte Sonja zu lieben, aber das gelang ihr nicht und oft fand sie in ihrem Innern feindliche Gefühle gegen sie, die sie nicht unterdrücken konnte.

Einmal sprach sie mit ihrer Freundin Natalie über Sonja und über ihre Ungerechtigkeit gegen sie.

»Weißt du«, sagte Natalie, »du hast so viel im Evangelium gelesen, dort ist eine Stelle, die auf Sonja paßt.«

»Welche?« fragte die Gräfin Marie verwundert.

»Wer da hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird auch genommen, was er hat! Erinnerst du dich? Sie – hat nicht, warum, das weiß ich nicht, in ihr liegt kein Egoismus, aber ihr wird auch genommen, was sie hat. Zuweilen tut sie mir schrecklich leid, und ich habe früher sehr gewünscht, daß Nikolai sie heirate, aber immer hatte ich ein Vorgefühl, daß es nicht dazu kommen werde. Sie ist eine taube Blüte. Zuweilen bedauere ich sie, zuweilen aber denke ich, daß sie das nicht so fühlt, wie wir es fühlen würden.«

Es schien wirklich, daß Sonja sich von ihrer Lage nicht gedrückt fühlte und sich ganz mit ihrem Beruf einer tauben Blüte ausgesöhnt habe. Sie schien weniger die einzelnen Mitglieder als die ganze Familie zu schätzen, und wie eine Hauskatze schmiegte sie sich weniger an die Hausbewohner als an das Haus. Sie pflegte die alte Gräfin, spielte mit den Kindern und verwöhnte sie und war immer zu kleinen Diensten bereit, deren sie fähig war. Aber das alles wurde unwillkürlich mit zu schwacher Dankbarkeit aufgenommen.

Viele Verwandte kamen nach Lysy Gory mit ihren Familien zu Besuch, zuweilen mit sechzehn Pferden, mit Dutzenden von Dienern auf Monate lang. Außerdem versammelten sich viermal im Jahre an den Namens- und Geburtstagen der Herrschaft gegen hundert Gäste auf einen oder zwei Tage.


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