Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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172

Als der General, dem Peter nachsetzte, von der Höhe herabgekommen war, wandte er sich scharf nach links. Peter verlor ihn aus dem Gesicht und ritt in die Reihen von Infanteriemassen hinein, die vor ihm gingen. Er bemühte sich, bald links, bald rechts herauszukommen, aber überall waren Soldaten, die den dicken Menschen mit dem weißen Hut fragend und mit bösen Blicken ansahen. »Was hat er mitten im Bataillon zu schaffen?« sagte einer, ein anderer stieß sein Pferd mit dem Kolben, und Peter galoppierte den Soldaten voraus, wobei er sich kaum auf dem Pferde halten konnte.

Vor ihm lag die Brücke, wo andere Soldaten standen und schossen. Bald kam Peter zur Brücke über die Kolotscha, zwischen Gorky und Borodino, die während der ersten Entwicklung der Schlacht von den Franzosen angegriffen wurde. Peter sah, daß vor ihm die Brücke lag, und daß auf beiden Seiten der Brücke und auf den Wiesen Soldaten in Rauch gehüllt sich bewegten, aber trotz des unaufhörlichen Gewehrfeuers hatte er keine Ahnung davon, daß hier das Schlachtfeld war. Er hörte nicht das Pfeifen der Kugeln und der schweren Geschosse, die über ihn hinwegflogen, er sah nicht den Feind am jenseitigen Ufer des Flusses, und lange bemerkte er auch keine Toten und Verwundeten, obgleich viele in seiner Nähe fielen.

»Was reitet dieser da vor der Linie umher?« rief wieder jemand.

»Nach links! – Nach rechts!« rief man ihm zu.

Peter wandte sich nach rechts. Er traf unerwartet einen Adjutanten des Generals Rajewsky. Dieser wollte Peter eben mit zornigem Blick anrufen, als er ihn erkannte und ihm mit dem Kopfe zunickte.

»Was machen Sie hier?« fragte er und ritt weiter.

Peter fühlte, daß er nicht an seiner Stelle war, und da er befürchtete, wieder jemand zu stören, ritt er dem Adjutanten nach.

»Was geht hier vor? Kann ich mit Ihnen kommen?« fragte er.

»Gleich! Gleich!« erwiderte der Adjutant und galoppierte auf einen dicken Oberst zu, der auf der Wiese stand, meldete ihm etwas und wandte sich dann nach Peter um.

»Wie sind Sie hierhergekommen, Graf?« sagte er lachend. »Sind Sie immer noch so neugierig?«

»Ja, ja«, sagte Peter, aber der Adjutant wandte sein Pferd und ritt weiter.

»Hier geht's noch an«, sagte der Adjutant, »aber auf dem linken Flügel bei Bagration ist ein entsetzliches Blutbad.«

»Wirklich?« fragte Peter. »Wo ist das?«

»Nun, kommen Sie mit mir nach dem Hügel, dort bei uns auf der Batterie ist's noch erträglich«, sagte der Adjutant. »Kommen Sie mit?«

»Ja, ich komme«, sagte Peter und suchte mit den Augen seinen Reitknecht.

Hier sah Peter zum erstenmal Verwundete, welche sich zu Fuß wegschleppten, oder auf Tragen fortgebracht wurden. Auf der Wiese lag unbeweglich ein Soldat, dessen Tschako neben ihm lag.

»Warum hat man diesen nicht fortgebracht?« fragte Peter, aber als er das ernste Gesicht des Adjutanten sah, schwieg er.

Peter konnte seinen Stallmeister nicht finden und ritt mit dem Adjutanten durch die Niederung nach dem Rajewskyhügel zu. Peters Pferd fing an zu hinken.

»Sie sind wohl nicht gewohnt zu reiten, Graf?« fragte der Adjutant.

»Nein, es geht, aber das Pferd stößt sehr«, sagte Peter verwundert.

»Eh . . . es ist verwundet«, sagte der Adjutant. »Am rechten Vorderfuß unter dem Knie! Ich gratuliere zur Feuertaufe.«

Nachdem sie im Rauch am sechsten Korps vorbeigeritten waren, hinter der Artillerie, welche dort aufgestellt war und unter betäubendem Kanonendonner feuerte, kamen sie zu einem kleinen Wald. Im Walde war es kühl und ruhig. Peter und der Adjutant stiegen von den Pferden und gingen zu Fuß auf die Anhöhe zu.

»Ist hier der General?« fragte der Adjutant die Soldaten.

»Er war eben hier und ist dort nach rechts hingeritten«, antwortete man ihm. Der Adjutant blickte sich nach Peter um, da er nicht wußte, was er mit ihm machen sollte.

»Beunruhigen Sie sich nicht«, sagte Peter. »Ich gehe auf den Hügel! Kann ich?«

»Ja, gehen Sie nur dahin, von dort aus können Sie alles sehen, und es ist auch nicht so gefährlich dort. Ich werde Sie später abholen.«

Peter ging zu der Batterie, während der Adjutant weiterritt. Sie sahen sich nicht wieder, und erst viel später erfuhr Peter, daß dem Adjutanten an diesem Tag ein Arm abgerissen worden war.

Der Hügel, auf welchen Peter zuging, war jene berühmte Stelle, welche später bei den Russen als Hügelbatterie, oder Batterie Rajewsky berühmt wurde, und welche die Franzosen die große Redoute nannten und für den wichtigsten Punkt der Stellung ansahen.

Die Redoute war auf drei Seiten von Gräben umgeben und enthielt zehn Kanonen. In derselben Linie mit der Batterie standen zu beiden Seiten Kanonen, welche gleichfalls beständig feuerten. Etwas hinter den Kanonen stand Infanterie. Als Peter sich dieser Batterie näherte, ahnte er nicht, daß dieselbe der wichtigste Punkt des Schlachtfeldes war, im Gegenteil, er war der Meinung, daß sie von ganz geringer Bedeutung wäre.

Als er die Höhe des Hügels erreichte, setzte sich Peter am Ende des Grabens nieder, welcher die Batterie umgab, und mit einem freudig erregten Lächeln beobachtete er, was um ihn her vorging. Zuweilen stand er auf und ging in der Batterie umher. Er bemühte sich, den Soldaten nicht hinderlich zu sein, welche die Kanonen luden und nach vorn schoben oder mit Patronen und Kugeln beständig an ihm vorüberliefen. Die Kanonen dieser Batterie feuerten stets eine nach der anderen unter betäubendem Kanonendonner und hüllten die ganze Umgebung in Pulverdampf. Die Erscheinung der unkriegerischen Gestalt Peters mit dem weißen Hut schien anfangs unangenehmes Erstaunen zu erregen. Ein älterer Artillerieoffizier mit langen Beinen blickte ihn neugierig an. Ein kleines Offizierchen mit rundem Gesicht, fast noch ein Knabe, der eben erst aus dem Kadettenkorps gekommen sein mußte, redete Peter streng an.

»Mein Herr, gehen Sie aus dem Wege! Hier können Sie nicht bleiben!«

Auch die Soldaten blickten Peter anfangs mißfällig an, aber als sie sahen, daß dieser Mensch mit dem weißen Hut nichts Böses tat, sondern friedlich an einer Ecke des Walles saß oder mit schüchternem Lächeln jedem aus dem Wege ging und in der Batterie so ruhig umherspazierte wie auf der Promenade, ging ihre mißfällige Verwunderung in eine humoristische Freundlichkeit über, ähnlich derjenigen, welche die Soldaten für Hunde, Hähne, Ziegen und andere Tiere zeigen, die sich ihnen anschließen. Sie nahmen Peter in ihre Familie auf, gaben ihm den Zunamen »unser Barin«, unser Herr, und lachten über ihn. Zwei Schritte von Peter riß eine Kanonenkugel die Erde auf, er schüttelte die Erdschollen von sich und blickte sich lächelnd um.

»Und Sie fürchten sich nicht, Herr?« fragte ein breitschulteriger Soldat mit rotem Gesicht, seine weißen Zähne zeigend.

»Fürchtest du dich denn?« fragte Peter.

»Nun, natürlich«, erwiderte der Soldat. »So ein Ding verschont nichts! Wenn es in den Leib fährt, wirft es die Eingeweide heraus. Wie sollte man sich nicht fürchten?« sagte er lachend.

Einige Soldaten sahen ihn vergnügt an. Sie schienen nicht erwartet zu haben, daß er ebenso spreche wie alle, eine Entdeckung, über die sie erfreut waren.

»Wir sind Soldaten, aber so ein Herr – das ist doch merkwürdig!«

»An die Geschütze!« schrie der kleine Offizier den Soldaten zu, die sich um Peter sammelten. Er schien zum erstenmal zu kommandieren und beobachtete daher eine ganz besondere Pünktlichkeit.

Das Geschütz- und Gewehrfeuer verstärkte sich auf dem ganzen Feld, besonders links hin bei den Verschanzungen Bagrations. Peter stand am Rande des Grabens und beobachtete das Treiben in der Batterie. Um zehn Uhr waren schon zwanzig Mann fortgetragen worden, zwei Geschütze waren außer Gefecht gesetzt und immer häufiger fielen Geschosse in die Batterie. Aber die Soldaten schienen es nicht zu bemerken und unterhielten sich mit heiteren Scherzreden.

»Du da«, rief ein Soldat, »nicht hierher! Geh dort zur Infanterie!«

»Ist es eine Bekannte?« fragte lachend ein anderer Soldat seinen Kameraden, der sich vor einer vorüberfliegenden Granate tief verneigt hatte.

Einige Soldaten blickten über den Wall hinüber.

»Die Kette ist zurückgezogen, siehst du!« sagte der eine.

»Kümmert euch um euch!« rief ihm ein alter Unteroffizier zu. »Wenn sie zurückgegangen sind, so haben sie wahrscheinlich hinten etwas zu tun.«

»Ach, unserem Barin hätte es beinahe den Hut abgerissen!« sagte lachend ein Spaßvogel.

»Ach, wie ungeschickt!« rief ein anderer vorwurfsvoll einer Kanonenkugel zu, welche ein Rad zerschlagen und einem Kanonier ein Bein abgerissen hatte. »Nun, ihr Füchse«, rief ein anderer den Landsturmleuten zu, welche den Verwundeten abzuholen kamen, »das ist wohl nicht nach eurem Geschmack?« – Um zehn Uhr zog sich die Infanterie zurück, welche vor der Batterie im Gebüsch und an dem Flüßchen Kamenka gelegen hatte. Von der Batterie aus konnte man sehen, wie sie nach rückwärts vorüberliefen und auf den Gewehren die Verwundeten trugen. Ein General kam mit seiner Suite in die Batterie, sprach mit dem Obersten und blickte Peter zornig an. Dann ging er wieder den Hügel hinab, nachdem er der Bedeckung befohlen hatte, sich niederzulegen, um sich den Schüssen weniger auszusetzen. Dann hörte man Trommelschläge und Kommandorufe bei der Infanterie, rechts von der Batterie, und man sah, wie die Infanterie sich wieder vorwärts bewegte. Peter blickte über den Wall. Die Reihen der Infanterie verschwanden im Rauch. Man hörte ihr gedehntes Geschrei und hastiges Schießen. Nach einigen Minuten kamen Verwundete vorüber und andere wurden auf Tragbahren getragen. Noch häufiger fielen Geschosse in die Batterie, wo einige Tote lagen. Die Soldaten arbeiteten noch lebhafter an den Geschützen. Niemand achtete mehr auf Peter. Zweimal wurde er heftig angeschrien, weil er jemand im Wege war. Der alte Offizier ging mit finsterem Gesicht und großen Schritten von einem Geschütz zum anderen.

Eine drohende Wolke näherte sich. Peter stand neben dem älteren Offizier, und das junge Offizierchen kam mit der Hand am Tschako auf seinen Vorgesetzten zugelaufen.

»Habe die Ehre, zu melden, Herr Oberst, daß wir nur noch acht Schüsse haben. Befehlen Sie, das Feuer fortzusetzen?« fragte er.

»Kartätschen!« rief der Oberst, ohne zu antworten, nachdem er über den Wall geblickt hatte. Plötzlich ging etwas vor. Der kleine Offizier stöhnte und ließ sich zur Erde nieder, wie ein Vogel, der im Fluge getroffen wurde. In den Augen Peters wurde alles sonderbar unklar. Eine Kugel nach der anderen fuhr pfeifend in die Brustwehr unter die Soldaten und Kanonen, seitwärts von der Batterie liefen Soldaten mit Hurrageschrei nicht vorwärts, sondern rückwärts, wie es Peter schien. Eine Kanonenkugel schlug neben Peter ein und überschüttete ihn mit Erde. Ein schwarzer Ball flog an seinen Augen vorüber und schlug gleich darauf in etwas ein. Die Landsturmleute, welche in der Batterie waren, liefen davon. »Kartätschen!« schrie der Oberst wieder. Der Unteroffizier kam auf den Oberst zugelaufen und sagte mit ängstlichem Flüstern, wie ein Haushofmeister, der dem Herrn meldet, es sei kein Wein mehr da – es seien keine Geschosse mehr da.

»Halunken! Was habt ihr gemacht?« schrie der Offizier. »Laufe zu den Reserven! Bringe einen Pulverwagen her!« rief er zornig.

»Ich werde gehen«, sagte Peter.

Der Offizier gab keine Antwort und ging mit großen Schritten nach der anderen Seite. »Nicht schießen! Wartet noch!« rief er.

Der Soldat, der den Befehl erhalten hatte, nach Munition zu gehen, stieß mit Peter zusammen.

»Ach, Barin, hier ist kein Platz für dich«, sagte er und lief den Berg hinab. Peter eilte ihm nach. Eine, zwei, drei Kanonenkugeln flogen über ihn weg.

»Wohin gehe ich?« fragte er sich plötzlich, als er schon bei den grünen Pulverwagen ankam. Unschlüssig blieb er stehen. Plötzlich warf ihn ein schrecklicher Stoß zur Erde. In demselben Augenblick erfolgte ein heftiger Schlag mit Krachen und Pfeifen, und ein großes Feuer flammte auf. Als Peter wieder zu sich kam, saß er auf der Erde. Der Pulverwagen, bei dem er gestanden hatte, war verschwunden, nur einige grüne, angesengte Trümmer lagen auf dem verbrannten Gras. Ein Pferd lief über das Feld, und das andere lag auf der Erde und stöhnte kläglich.


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