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11.
Luft! In Baden-Baden. Fort nach Freiburg. Der Besuch im Himmel.

Auf meinem Wege nach Baden-Baden wurde ich lebhaft an die Vorfälle meiner Reise vom Böhmerwalde nach Frankfurt erinnert. Überall Waffenübungen, demokratische Versammlungen, marschierende Trupps von Volkswehr; die Sprengung des Parlaments in Stuttgart hatte den anarchischen Geist des Volkes mächtig aufgeregt und alle staatliche Ordnung, soweit sie die provisorische Regierung Brentanos nicht aufrecht hielt, in Gefahr gebracht; württembergische Studenten traf ich als Freischaren auf dem Marsche nach Baden. In Baden-Baden selbst fand ich das Kurleben sehr geringfügig; doch ließ sich der schwache Besuch das Spiel des grünen Tisches, das das Parlament in Frankfurt aufgehoben hatte, keineswegs entziehen. Ein früherer Parlaments-Kollege begegnete mir beim ersten Gange vor dem Kurhause und sagte: »Sie kommen mir sehr gelegen; jetzt kann ich Ihnen, so lang Sie hier sind, Gesellschaft leisten. Heute habe ich an der Spielbank meinen Betrag, den ich alle Jahre davon trage, gewonnen und nun ruhe ich auch wie jedes Jahr, vom weiteren Spiele aus.« Er fragte mich, wo ich wohne, und ich sagte ihm, bei einem Sattlermeister Weber, der ein großes Haus besitzt und mehrere meiner Kollegen, die aus Stuttgart gekommen sind, beherbergt. So war es auch. Von diesen Wohnungsgenossen erfuhr ich, dass ein großer Teil der Stuttgarter Kollegen in Baden-Baden angekommen sei und unter Vorsitz des Präsidenten Löwe willens sei, die parlamentarischen Beratungen fortzusetzen. Ich erklärte, solche Versuche nicht mehr mitzumachen; ich wolle Frieden haben, bevor der allgemeine Friede eingetreten sei! Dieselbe Erklärung gab ich auch meinem Freunde Hartmann, der mich am folgenden Tage besuchte ... Die Freiheit, die ich nach langer Zeit wieder genoss und die verhältnismäßige Ruhe, die auch Baden-Baden genoss, taten meinen Nerven sehr wohl, ich machte meist allein Ausflüge auf die Berge und zu den reizenden Ruinen in der Umgebung Badens und notierte Entwürfe zu kleinen Aufsätzen und Geschichten ... In dieser Tätigkeit wurde ich leider bald wieder gestört durch revolutionär-kriegerische Vorfälle. Während einer Nacht weckte mich ein wüstes Lärmen, das an unserm Wohnhause vorüberzog und durch alarmierende Trompetenstöße charakterisiert wurde. Ich öffnete ein Fenster, um zu sehen und zu hören, was der Vorfall bedeute. Vor dem Haustore war ein Trupp uniformierter Freischaren erschöpft niedergesunken und aus dem Gespräche der zusammenlaufenden Leute entnahm ich, dass bei einem Zusammenstoß preußischer Truppen und badischer Freischaren die Letzteren geschlagen und mit ihrem Anführer Metternich in die Flucht gejagt wurden. Ich wusste genug; an Schlaf war nicht mehr zu denken, ich zog mich daher an und verließ das Haus, um den Wirrwarr näher zu betrachten. Der Anblick der immer dichter in die Stadt dringenden Freischaren war ein trostloser. Fast alle staken in zerrissenen und beschmutzten Uniformen, viele hatten ihre Gewehre weggeworfen und ihre Kopfbedeckung verloren, die Gesichter waren voll Pulver geschwärzt und machten mit ihren grimm verzerrten Mienen einen erschütternden Eindruck. Besonders die badischen Militärflüchtlinge, die zu den Freischaren übergegangen waren, fielen mir auf, sie sprachen nicht, klagten nicht und sahen ihrem ernsten Schicksal dumpf-ergeben entgegen. Aus den Äußerungen, die fielen, entnahm ich, dass die Preußen den Flüchtigen auf dem Fuße folgten und spätestens am nächsten Morgen in Baden einrücken würden. Diese Nachricht musste eine Entscheidung über mein ferneres Verbleiben in Baden veranlassen. Ich kehrte in meine Wohnung zurück und beschloss nach kurzem Bedenken, in Baden-Baden zu bleiben, bis die Preußen vor der Stadt erscheinen würden; dann wollte ich nach Stuttgart zurückkehren, wo den ehemaligen Parlamentsmitgliedern jetzt als Privatpersonen der Aufenthalt ohne Anstand gestattet war ... Aber so einfach und gemütlich sahen die Sachen doch nicht aus. Mein wackerer Hauswirt, Besitzer eines ansehnlichen Hotels und warmer Freund der Österreicher – er hatte mehrere derselben fast unentgeltlich bei sich aufgenommen – hielt es für seine Pflicht, mich aufzuklären, zu warnen und außer Gefahr zu bringen. Die Preußen (Bundestruppen), sagte er, würden hier sein, eh' man's denke, und der Weg nach Stuttgart sei so gut als bereits abgeschnitten; wenn ich auch über die Grenze käme, drüben halte württembergisches Militär alle Wege und Stege besetzt, und es wäre nur eine andere Gefangenschaft, in die ich, aus Baden kommend, geraten würde ... Es war eben ein Gewitter niedergegangen; von einem Spaziergange zurückkommend und noch unter eines Regenschirmes Privilegien stehend, hatte ich am Hoteltore diese Warnung und Wohlmeinung vernommen; aber so richtig beide waren und so dringend sie vorgebracht wurden, meinen Entschluss zu sofortiger Abreise konnten sie doch nicht zur Reife bringen. In einem Anfalle heiteren Übermuts, im Vollgefühle sorgloser Jugend rief ich, dass mir, selbst wenn ich von den Preußen gefangen würde, keine Gefahr drohen könne, da ich unter dem Schutze gar mächtiger Personen stehe; denn ich sei ein persönlicher Freund des in Stuttgart gewählten Reichsregenten Karl Vogt, mit dem ich »per du« zu verkehren pflege; ich könne mich auf gute Beziehungen zu berühmten preußischen Patrioten (wie Simon v. Trier, Johann Jakobi, Löwe von Calve etc.) berufen, die gegenwärtig freilich etwas schief mit Peucer, dem Kommandanten der Bundestruppen, stünden; mit ihm lebte ich gewissermaßen auf kollegialem Fuße, da ich – freilich etwas abweichend von seiner Gesinnungs-Schattierung – vor kurzen: noch Kollege im Frankfurter Parlament gewesen ... Die Heiterkeit, in die wir über diese Bemerkung gerieten, dauerte indessen nur kurze Zeit. Der wohlmeinende Wirt hatte bereits meinen Koffer vor das Hotel bringen lassen und drängte jetzt nur noch besorgter zur Abreise, da, wie er eben vernommen, der letzte Bahnzug nach Freiburg abzugehen im Begriffe sei ... Vielleicht hätte ich noch gezögert, dem Drängen nachzugeben, wenn nicht auch die schöne Tochter meines wackeren Wirtes, die vielleicht doch einen stillen Grund gehabt hätte, mich noch länger im väterlichen Hause zu sehen, für die Abreise gesprochen hätte ... Nun war der Rest meines Widerstandes gebrochen; ich schied; versprach in ruhigeren Tagen wieder zu kommen; erreichte den letzten Eisenbahnzug noch knapp vor der Abfahrt – und dampfte nach Freiburg im Breisgau, wohin ich unter keiner Bedingung gelangen wollte! ... So will der Mensch oft eigensinnig durch eine Seitentür seinen Lebensweg verfolgen, aber das Schicksal nimmt ihn bei der Hand, führt ihn ruhig an die Mitteltür und sagt, sanfte Gewalt brauchend: »Da hinaus, Lieber, wenn ich bitten darf!« ...

Und so war ich denn in Freiburg im Breisgau, wieder mitten im Parteienwirbel, allem Ansturme politischer Leidenschaften ausgesetzt. Aber ich hielt, was ich mir vorgenommen hatte; ich sah dem brausenden Treiben nur als stiller Augenzeuge zu und blieb jeder Teilnahme an Zusammenkünften und Verabredungen fern. Die köstlich gelegene Stadt mit ihrem herrlichen Dom, mit den sympathischen Einwohnern, mit den kristallhellen Bächen, die durch die Straßen rauschen, zog mich mehr an und wie in Baden-Baden strich ich auch in Freiburg meist mutterseelenallein herum ...

Auf dem Kalvarienberge – ich glaube so heißt eine schattige Hügelstelle in der Nähe der Stadt – saß ich eines Tages still in mich gekehrt und gedachte der ungeheuern Ereignisse, die seit einem Jahre, in Paris beginnend, Europa von einem Ende zum andern mit der Gewalt eines Erdbebens durcheinander gerüttelt hatten. Die Märztage in Wien mit ihren imposanten Massenbewegungen; die parlamentarischen Vorgänge in Frankfurt mit ihren blutigen Episoden unter hochgehenden politischen Wogen ringsumher bis zu dem schon so ausfallend reduzierten Miniaturbilde der Bewegung in Stuttgart: welche Reihenfolge gewaltiger, in ihren Ergebnissen aber immer peinlicher werdender Ereignisse! Es war nicht möglich, dass ein offener Blick über die Hoffnungslosigkeit der Bewegung in Deutschland sich täuschen konnte; dies gestanden in vertraulichem Gespräche alle aufrichtigen Führer zu; nur wirkliche Fanatiker oder solche Agitatoren, welche ihrer Popularität zu Liebe noch Lärm und Aufsehen erregen wollten, bestritten mit aller Leidenschaft die Notwendigkeit, unterliegen zu müssen.

In Gedanken über die Lage der Dinge saß ich, wie erwähnt, still und einsam auf dem Kalvarienberge, als sich eine Hand aus meine Schulter legte und eine Stimme freundlich sagte:

»Wo bist du, lieber Alter?«

»Eine wohlauszuwerfende Frage«, erwiderte ich ausblickend und meinen Freund Moriz Hartmann entdeckend. »Ich hielt eben Revue über die Ereignisse von den Märztagen in Wien bis zu dem Schlusstableau in Freiburg im Breisgau. Wie groß und hoffnungsreich begonnen – und wie klein und ergebnisarm geendet!«

Hartmann setzte sich zu mir, und wir schwärmten eine Weile von den schönen Erlebnissen in Wien, wo alles so leicht und verheißungsreich begonnen hatte; dann brach Hartmann ab und sagte:

»Was gedenkst du jetzt zu tun?«

»Unter keinen Umständen mich nach der Schweiz drängen lassen! Einen Schritt ins Schweizerland – und ich werde zu den Flüchtlingen gezählt; dazu habe ich nicht die geringste Lust, noch Veranlassung. Ich werde bis Offenburg – wohin die Bahnzüge noch verkehren – zurückfahren und von dort rechts nach dem Schwarzwalde und über die württembergische Grenze zu gelangen suchen.«

»Das müsste bald geschehen – heute noch«, bemerkte Hartmann, »denn die Preußen können Offenburg jede Stunde besetzen ... »Mir«, fuhr er fort, »wird es leider nicht so wohl, mir werden bedenklichere Dinge nachgetragen – ich heiße auch ›Pfaffe Marritius‹ und habe die Chronik dieser schweren Zeit in Reime gebracht, in hitzige und spitzige! Und mir wird nicht so leicht vergeben; deshalb gehe ich nach der Schweiz, von dort nach Frankreich – nach Paris – die Zeit mag dann alles lichten und schlichten!«

Wir gingen nach der Stadt hinab und fanden ein allgemeines Rüsten zur Abreise nach der Schweiz. Dorthin richtete auch Hartmann seinen Flüchtlingsstab; der Abschied – so schwer er fiel, war bald genommen ... »Auf Wiedersehen in besseren Zeiten!« Das war leicht gesagt – aber wo und wann? ...

Eine Stunde später war auch ich unterwegs – nach Offenburg; von da schwenkte ich rechts ab nach dem Schwarzwald, bis zur württembergischen Grenze. In einem wunderschönen Waldtale traf ich einen kleinen Badeort – und hier beschloss ich, so lange zu bleiben und zu ruhen, als nicht unerwartete Ereignisse mich überraschen und weiter drängen würden ...

Drei volle Tage vergönnte mir ein wohlwollendes Geschick hier einen idyllischen, noch jetzt unvergesslichen Aufenthalt; so muss einem von Sturm zu Sturm aus hoher See herumgetriebenen Reisenden sein, der endlich auf sicherem Eilande Rettung und Ruhe findet ... Unter schattigen Wipfeln, die Frieden niederrauschten, verlor ich mich tagsüber auf schönen Waldwegen in den köstlichen Partien des Naturparkes, und poetische Regungen fanden sich nach langen, stürmischen Tagen wieder lindernd und tröstend ein. – Am dritten Tage meines Aufenthalts, im Schatten einer Baumgruppe ruhend, gedachte ich in milder, von leisem Heimweh durchbebter Stimmung der vielen Lieben und Treuen in der Ferne, als mir aus dem nahen Gasthause ein Brief gebracht wurde, der mich lebhaft überraschte. Er kam von einem jungen Badenser, den ich schon in Frankfurt kennen gelernt und in Baden-Baden wieder gesehen hatte. Es war ein ideal schöner junger Mann, der beim Ausbruch des badischen Aufstandes eben von der Universität abgegangen. Nie wohl hat sich in einem schönen Leibe eine schönere Seele eingefunden; die hellste Schwärmerei strahlte aus den schönen, blauen Augen, und die Begeisterung für ein großes, einiges und freies Deutschland kannte keine Grenzen. Ein poetischer Anflug und ein liebenswürdiger Hauch von Humor in allem seinem Tun und Reden hatten mich bald und innig angezogen, und so blieben wir auch nach der Trennung noch brieflich in oft herzbewegendem Verkehre. Der junge Freund, ich will ihn Julian nennen, hatte sich in der Verzweiflung über den Gang der Dinge einer Freischarengruppe angeschlossen und schlug sich in Gemeinschaft mit den aufständischen Truppen in Baden aufs Kräftigste mit der Bundesarmee herum. »Noch einige Stunden«, hieß es gleich eingangs im Briefe, »und ich habe, wenn sich nicht eine Kugel erbarmt, die gleich düstere Aussicht, gefangen zu werden oder über die Grenze zu müssen!« Und nun folgte eine Herzerleichterung voll tiefsten Wehs über die fehlgeschlagenen Hoffnungen der Nation und über die Heimsuchungen, die für lange Zeit den Patrioten nun bevorstünden. Doch waren die Klagen nicht trostlos und die flüchtige Schilderung der allgemeinen Zustände nicht ohne liebenswürdigen Humor, so dass ich, anknüpfend an diesen, beschloss, dem Freunde ein Trostschreiben zu senden, wie es seinem so leicht auf- und ausschwärmenden Herzen gerade in der gegenwärtigen Lage am besten entsprechen musste. Und indem ich sofort daran ging, dies Trostschreiben zu Papier zu bringen, geriet ich selbst in eine so kindlich-ideale, heiter verwegene Aufschwungsstimmung, dass sie mir noch jetzt »wie ein Stück von mir« aus ferner Jugend herüberleuchtet ... Die Epistel lautet nach üblichen Eingangsworten:

»All das zugegeben, lieber Julian, hab' ich doch inzwischen einen Trost gefunden, der für dich wie für mich eine heilsame Wirkung haben muss ... Kennst du das Sprichwort: Was sich neckt, das liebt sich? Nun, als gält' es, dieses Sprichwort wahr zu machen, neckt unser Vater im Himmel oft seine liebste Nation Jahrzehnte lang, und hält man ihm seine Liebesgrausamkeit vor und sagt: »Du führst dich sauber auf, Vater«, so lacht er, dass ihm die Tränen über die Backen laufen, und muss ins zweite Zimmer gehen, um sich wieder zu fassen ... Neulich, als es hier und allwärts wieder recht drunter und drüber ging, und es aussah, als drehe die Windsbraut alle Dinge, da hielt ich es nicht länger aus, ließ mir bei Sr. himmlischen Majestät eine Audienz erbitten, wurde erhört und durch einen Erzengel in eines der kaiserlichen Gemächer geführt. Der Vorhang rauschte und Gott Vater trat hervor. Es ist ein stattlicher Herr, noch in den besten Jahren und unter Tausenden zu erkennen. Merkwürdig ist's, dass er durchaus nichts von einem Geistlichen an sich hat, er sieht aber dem Kaiser Josef etwas ähnlich. Das Schönste an ihm sind seine blauen Augen; wenn man in diese Augen sieht, drückt's einen in der Herzgrube, man möchte ihm in heller Freude und Rührung um den Hals fallen. Das hab' ich auch getan, und der himmlische Vater hat mich auf die Schulter geklopft und gesagt:

»Nun, lieber Alter, fass' dich und sei nur ruhig, du bist doch sonst aufgelegt wie ein Ringelspatz; wenn dir meine Augen gefallen, so ist mir das recht angenehm; aber sag', was dich zu mir führt, du weißt, ich helfe gern, wo ich kann!«

Ich erwiderte: »Was ich denk' und fühle, das ist dir wie mir bekannt; erspar' mir's, lange zu erklären, denn ich könnte dir mitunter ein hartes Wort sagen müssen, und da ich jetzt in deine unschuldigen Augen gesehen, kann ich kein hartes Wort mehr finden. Vater! Vater! Vater! Du gehst nicht gut mit meinem Volke um, du hast für unser Vaterland kein Herz!«

Er erwiderte: »Es ist ein Unglück, dass ich so schöne Augen habe; alle, die zu mir kommen, verlieren den Mut, mir ein hartes Wort zu sagen, und doch, lieber Alter, kann ich einen Puff aushalten. Du weißt, die Menschen haben gegen niemanden mehr Tapferkeit auf der Zunge als gegen mich, weil sie wissen, dass meine Langmut nicht auszumessen ist. Aber genug; kannst du mir auch jetzt keine Vorwürfe machen, so seh' ich doch das ganze Nestlein flugfertiger Gedanken, bereit, mit Anklagen gegen mich aufzusteigen, weil du meinst, ich vernachlässige dein Volk, dein Vaterland! Es ist aber ein Kreuz mit euch, Kinder, ihr machtet mir wirklich das Leben sauer, wenn ich nicht eine so glückliche Natur hätte und mir nicht so leicht ein graues Haar wachsen ließe. Wie ungestüm seid ihr, wenn ich helfen soll und wie harthörig stellt ihr euch, wenn ihr meinen Absichten zu Hilfe kommen sollt. Alles will seine Zeit haben, mein Lieber, besonders gut Ding; auch will ichs nicht machen wie meine lieben deutschen Philosophen, die zwar einen Verstand entwickeln, der mir selber keine Schande machte, aber mit ihren Gedanken jahraus jahrein auf dem Markte liegen und über die höchsten Dinge so mir nichts dir nichts aburteilen, ja mich selbst in blauen Dunst verwandeln möchten. Ich will sie in ihren Rechthabereien nicht stören und kann's abwarten, wer Recht hat; wenigstens will ich den kleinen Vorzug vor ihnen haben, dass ich schweigsamer bin als sie; ich will daher auch dir nicht ausplaudern, was ich mit deinem Volke vorhabe; denn es ist Zeit, Kinder, dass ihr auch ohne Versicherungen wieder Vertrauen zu mir fasst. Es wird übrigens nicht gar lange dauern, dass ihr die Grundmauern eures neuen Vaterlandes werdet aufsteigen sehen; tut indessen, was in euern Kräften steht, hoffentlich werden wir miteinander zufrieden sein. So. Jetzt komm' und setz' dich her und trink' ein Gläschen Rheinwein, ich will indessen die Depeschen aus Paris und London lesen. Erzengel, leiste meinem Besuche indessen Gesellschaft; blättert miteinander diese Berichte durch, welche mir seit März die Geistlichkeit sendet; es wird einem ganz schwarz vor den Augen!«

Er entfernte sich und ließ ein wunderschönes Büchlein mit Goldschnitt und in Saffian gebunden zurück. Erzengel Kammerdiener erschrak und sagte: »Gott im Himmel! Das ist ja des Herrn geheimes Skizzenbuch, worin er die Zukunft der Völker und Länder entwirft!«

Das hören und das Büchlein ergreifen, öffnen und die Rubrik meines Landes suchen, war Eins. Brennheiß lief es mir durch die Glieder, als ich den Grundriss unsers künftigen Vaterlandes erblickte. »Das ist's also – das ist's?« rief ich. »Vater! Mutter! Ist's möglich? Wem sag ich's? Wie beschreib' ich's? Ich kenne mich selbst nicht vor Freuden!«

In diesem Augenblicke rauschte der Vorhang wieder und der Herr trat hervor.

»Ei, ei«, sagte er »wo mag ich mein Skizzenbuch haben? Es geht absonderlich zu auf Erden, und wenn ich nicht jeden Augenblick meine Pläne vor Augen habe, so richten mir die Menschen eine Wirtschaft an, dass ich Mühe habe, wieder aufzuräumen. Kaum weiß ich mehr, wo mir der Kopf steht. Sonne, Mond und Sterne, Erde, Feuer, Wasser und Tierwelt muss ich überwachen, aber das ist leichter, als nur einen Menschen mit Erfolg im Zaume zu halten. Jenen Dingen habe ich Gesetze in den Leib geschoben, nach denen sie sich notgedrungen richten müssen, aber dem Menschen habe ich freien Willen gegeben und muss es mir gefallen lassen, wenn er seines Eigensinns Hörner gegen mich selber wetzt. Leider ohne meine Statthalterin, die Vernunft, richte ich wenig mit den Menschen; diesen gegenüber bin ich vollkommen konstitutioneller Fürst, muss oft meinen Premier, die Vernunft, fallen lassen und ein Ministerium Narrheit einsetzen, um der Vernunft zu Ansehen zu verhelfen; denn wenn ich die Menschen zum Guten und Rechten zwingen wollte, hätten sie kein Verdienst dabei, und das wäre mir leid, und wenn ich mich gar nicht um sie kümmern wollte, so hätt' ich binnen Jahr und Tag eine Zigeunerwirtschaft auf Erden, die ich notgedrungen durch eine zweite Sündflut müsste wegschwemmen lassen ... Aber ei, mein Alter, wie siehst du aus? Du machst ja Augen, als wolltest du gleich als seliger Engel bei mir bleiben? Richtig; potz tausend, ich bin ja allwissend, und da muss ich wissen, wo mein Skizzenbuch ist? Du Wetterbursch! Du hast's und hast mir in die Karten geguckt; ich hätte wirklich Lust, dich gar nicht mehr fortzulassen; wer steht mir gut dafür, dass du nicht morgen alles brühwarm in die Zeitung gibst und so die Geheimnisse des Herrn, zehn Kreuzer die Zeile, drucken lassest? Da muss ich Vorsorge treffen – du bist mein Gefangener! Warum lächelst du?«

»Es ist mir gut genug bei dir.«

»Freilich; du hast's weg, dass ich im ganzen Himmel kein Gefängnis habe, ein Beweis, was für ein Liebhaber vom Einsperren euer Vater im Himmel ist! Leider bin ich zu gut gegen euch, ich muss mich schon selber loben. Also dir eines meiner Gemächer anweisen? Du kämst mir recht. Das ist nur eines meiner rückwärtigen Gelasse – und welche Aussichten! Da tritt an dieses Fenster. Sieh', ganz Amerika liegt in seiner Eselslänge vor dir. Das Panorama lohnt schon einen Besuch bei mir. Freund Gottes, wenn morgen die Sonne dort von der andern Seite kommt, da wollt' ich die Wagenräder von Augen sehen, die du machen würdest! Und erst nachts, wenn alles stille wird, und alle Wälder ruhen – was würdest du sagen, wenn rund um meinen Himmel die Sphären erklingen und ihrem Herrn ein Schlummerlied singen! – Nein, mein Alter, das ist nichts für ein Menschenherz, da gehören stärkere Nerven dazu!«

»So heißt's immer, wenn der Mensch auch ein Bissel was Gutes erleben soll!«

»Erzengel, wirf ihn hinaus!« rief Gott Vater lächelnd.

»Nicht doch, Vater, ich müsste Arm und Bein brechen, es geht zu jäh hinunter!«

»So schau, dass du hinunter kommst, wie du heraufgekommen bist.«

»Mit deinem Zorn soll ich abzieh'n?«

»Ja voller Ungnade!«

»Das Wort kennst du nicht, Vater, mit diesen göttlichen, blauen Augen!«

»Hast du mich nie zürnen geseh'n bei Donner und Blitz?«

»Das war Donner und Blitz – aber dein himmlisches Antlitz kann ich mir nicht zürnend denken!«

»Darauf kommt's auch gar nicht an! – Und jetzt basta! Fort! Ich habe nicht Zeit, so lange mit einer Kreatur zu reden – wie gefällt dir mein Deutsch?«

»Vater, das sprichst du göttlich, darin bist du wirklich groß!«

»Ja, wenn ich recht behaglich reden oder etwas besonders Tiefsinniges sagen will, da rede ich immer deutsch! – Aber noch einmal – fort jetzt! Fort!«

»Ja, ja – ich gehe schon! – Nur eines noch! Vater, lass' mich noch einmal und recht lange in deine schönen, blauen Augen sehen – du bist rein göttlich, wie du aussiehst; man könnte sich verschauen ... Wie mir weh wird, von dir scheiden zu müssen! – Gib mir die Hand, Vater, und wenn du eine freie Minute hast, so denk' an mich!«

»Geh' in Gottes Namen!«

»Vater!«

»Was, mein Kind?«

»Wir müssen noch einmal Brüderschaft trinken – Vater, nenn' mich du!«

»Geh', kleiner Buchfink, wann hab' ich dich schon Sie genannt? Mach' lieber, dass du fortkommst, es will Abend werden!«

»Darf ich wieder einmal kommen?«

»Ich sollte es nicht gestatten, doch will ich dir die Bitte nicht abschlagen.«

»So behüt' dich Gott, Vater!«

»Geh' in Gottes Namen!«

Geblendet von dem Glanze und gerührt von dieser großen Güte eilte ich von dannen, ging aber in einen Wandschrank hinein.

»Oha«, sagte Gott Vater, »dort ist die Tür!« und trat herzlich lachend in das nächste Zimmer ... »

Ob dieses Trostschreiben in die Hände meines lieben Julian gelangt sei, habe ich lange nicht erfahren können; erst neulich, gut gezählt nach 32 Jahren, überraschte mich wieder ein Schreiben des Freundes, und ich erfuhr daraus nicht nur, dass ihm meine Epistel damals zugekommen, sondern auch, was er seit jenen fernen Tagen erlebt und erlitten hat ...

Julian hatte sich bis zum letzten Augenblicke mit den Bundestruppen herumgeschlagen, und das Ende vom Liede war, dass er und ein Bundessoldat zum Abschiedsgruß sich gegenseitig noch gemütlich »anschossen«, nämlich er (mein Freund) den Bundessoldaten an der rechten Hüfte und dieser (der Bundessoldat) meinen Freund an der linken Schulter. Glücklicherweise genügten zwei Heftpflaster, um den beiderseitigen Seelen den Ausweg nach dem ewigen Leben zu verlegen. – Mein Freund legte dann sein Gewehr in einen Schlehdornstrauch, lüftete grüßend den Freischarenhut gegen sein engeres Vaterland Baden, trat nach der Schweiz über und begab sich, da schon geschieden sein musste, gleich sehr weit in die Fremde, nach Amerika, wo er lange Jahre bei Hecker und später in New-York und Boston verweilte. Nachdem seine Eltern gestorben waren und endlich auch sein einziger Bruder das Zeitliche gesegnet hatte, kehrte er zur Übernahme der ansehnlichen Erbschaft wieder heim. Amnestie war längst erteilt und der Aufenthalt meinem Julian also ohne Anstand möglich.

Die Zeiten waren indessen sozusagen mäuschenstille geworden. Die alten Kämpfer waren etwas müde und grämlich, die jüngeren Kräfte für neue Aufgaben und Geisteskämpfe noch nicht ganz flügge geworden – da brach der riesenhafte Krieg gegen Frankreich los und Alt und Jung war wieder frisch und munter auf den Beinen – diesmal in guter Freundschaft mit den Regierungen.

»Wie ich als Landwehrmann ausmarschierte«, heißt es in dem kostbaren Briefe meines Julian, »da dachte ich an deine himmlische Epistel, die mich und meine flüchtigen Schicksalsgenossen in Amerika oft erheitert und zu Tränen gerührt hat. Jetzt, dachte ich, ist wohl die Zeit gekommen, wo die Grundmauern Germanias sichtbar werden, wie sie im saffianenen Skizzenbuch des höchsten Herrn verzeichnet sind!«

Schlacht auf Schlacht folgte; Sieg um Sieg wurde errungen; – das deutsche Reich entstand wirklich – mit Verlust eines wichtigen Gliedes, das vom Böhmerwald und der Donau landeinwärts liegt ... Doch half man sich mit dem Troste weg, dass ein ehrlicher Freundschaftsbund den Schaden auf andere Weise reparieren könne ...

»Nun aber«, heißt es weiter in Julians Briefe, »du hast ja die Dinge kommen, sich gestalten und ihre eigentümlichen Schatten werfen sehen, sprich! Verwahre dein Geheimnis nicht länger – – ist das, was wir erhalten haben, wirklich alles? Sollen wir nur einig und mächtig geworden sein, um – an inneren Düppeln nach und nach reicher zu werden? Sprich, versage mir nicht länger den Trost, den du aus dem himmlischen Skizzenbuch geschöpft haben musst. Alles kann der Mensch ertragen, wenn er eines guten Ausgangs sicher ist; auch wir wollen gerne warten, wenn wir uns mit der Hoffnung getrösten dürfen, dass uns zur Einheit auch das Unerlässliche, die Freiheit, wie sie der Deutsche versteht, gegeben werden wird!« ...

Was sollte ich der Bitte meines Julian gegenüber tun? Des Herrn Geheimnis verraten durfte ich nicht. Ich schrieb also meinem Freunde neulich, dass ich nächstens wieder um gütige Audienz bitten und besonders anfragen würde, ob der Herr gestatte, dass ich Näheres aus dem Skizzenbuch zum Besten gebe? »Habe ich doch«, fuhr ich fort, »dem gütigen Vater droben, wenn er so gnädig sein sollte, mich zu empfangen, diesmal auch einige vertrauliche Fragen über die Zukunft meines geliebten Österreichs auf dem Herzen!«

Zum Schlusse sagte ich meinem Freunde:

»Komm' und höre. Nicht nur in der Natur gibt es ein Entstehen, Wachsen, Vollenden; auch in der Geschichte eines Menschen, eines Volkes, eines Staates; die Pflanze, wenn sie emporstrebt, bildet in bestimmten Abschnitten sogenannte Knoten, sie verfestigen den Halt, die Kraft der Pflanze ... Nun höre, mein Julian ... Als die vereinigte Linke in Frankfurt eines Tages einen gemeinsamen Beschluss zu fassen hatte und dabei ein jeder Redner etwas anderes wollte und verlangte, da sprang Ludwig Simon von Trier von seinem Sitze auf, schlug wie ein Wütender mit seinem Spazierstock auf den Beratungstisch und rief mit Löwenstimme:

»So wollt' ich doch, dass ein Allgewaltiger käme und uns alle, mitsamt der Nation, zusammenknetete und an die Wand würfe, damit wir wenigstens als Einheitsballen zu Boden fielen; wären einmal unsere Dickkopfe zur Einigkeit gebracht, so brauchte uns um die Freiheit nicht bange zu werden, denn die eine Macht, die einst die ganze deutsche Nation auf dem Halse hat, muss früher oder später mit der Freiheit ihren Frieden schließen!« ...

Nun – nun –

»Siehst du, Brüderl«, fuhr ich fort, »der eine Allgewaltige ist da – Deutschland hat, wie die Pflanze, damit seinen ersten Halt- und Kraftknoten angesetzt – lass' wachsen dahin, lass' wachsen – der zweite Knoten wird naturgemäß auch ansetzen, in nicht ferner Zeit – und wie wird dieser Knoten heißen? ... Darüber zu berichten, lass' mir Zeit bis nach der Audienz, mein lieber Julian – grüß' mir inzwischen deine schönen, blauen Augen; ah! wie schlägt mein Herz in der süßen Hoffnung, meinen Kaiser Josef droben – die unbeschreiblich schönen, blauen Augen meines himmlischen Vaters und hohen Gönners da oben wieder zu sehen! ... Ade bis dahin – ade, mein lieber Julian!« –


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