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28.
Auszug aus dem Elternhause. Studentenheim: Klattau. Lehr- und Lernjahre. Besuche von daheim. Bei Saitenspiel; mein Gegenüber. »Maria meine Zuflucht.« Ende gut, alles gut. Jubeltage, frohe Heimkehr.

Der Hahn krähte zum dritten Male, die Hausglocke wurde gezogen, es war drei Uhr morgens; auf dem Hausboden, im Stalle fing es an lebendig zu werden; wohl und weh erregt stand ich auf und eilte nach der Stube, wo es ebenfalls bereits Bewegung gab. Der Abschied, die Ausfahrt, die Reise, die mir vorschwebten, erschienen mir leichter, indem ich mir zu schaffen machte, ich öffnete den Koffer und schloss ihn wieder, trat an ein Fenster, um die Dämmerung zu prüfen, die noch sehr dicht im Morgennebel schwankte; nach und nach erschienen die älteren Geschwister und sagten: »Jetzt wird's ernst«; die Mägde gingen ab und zu und fragten: »Wirst kein Heimweh kriegen?« Ich schien meiner Sache sicher zu sein und sagte: »O nein!« War ich doch Studentel, sollte die Welt seh'n, die Stadt, dann und wann heimkommen, alte wiederseh'n, Wunder dort erleben, Freude hier! »O nein!« sagt' ich. Die Mutter war aufgestanden, um die Morgensuppe zu kochen, die sagte nichts, ging nach der Türe, tauchte die Finger in den Weihbronn und sprengte einige Tropfen über meine Stirn: »Dass dich Gott behüte«, hörte ich ihre bebende Stimme sagen. Ich trat abermals ans Fenster, als wolle ich nach etwas sehen, sah aber nichts, da meine Augen feucht wurden und es draußen noch sehr dunkel war. Da erschien auch der Vater in der Stube. Er war schon ganz für die Reise angezogen. Festen Schritts, ohne etwas zu sagen, ging er durch die Stube nach dem Stall und fragte, ob der Scheck bereits sein Futter habe. Der Scheck beantwortete die Frage selbst, indem er, einen tüchtigen Vorrat Hafer im Maule, den Kopf über die Raufe hob und munter über den Stand heraus sah. Hatte ja Maxenz für alles vorzusorgen. Auch das Wägelchen stand bereits vor der Stalltüre, der Sitz war aufgebunden, Heu und Hafer unter ihm wohl untergebracht. Der Vater nickte nur, ging in die Stube zurück, zeigte nach dem Koffer und fragte, nach mir sehend: » In Ordnung? Zu? »Ich bejahte, und die ältern Brüder ließen sich's nicht nehmen, den Koffer nach dem Wägelchen zu tragen, wo sich Maxenz eben beschäftigte, Bett und Bettgestelle aufzuladen. Ich wollte seh'n und helfen, wurde aber nach der Stube gerufen, wo die Mutter Kaffee bereitet hatte für das Studentel, das einst geistlich werden sollte ... Der Kaffee musste mich sehr gestärkt haben, da ich einige Minuten später, auf das Wägelchen gestiegen, mit den um dasselbe Versammelten noch reden konnte; das Reden hörte aber auf, als der Vater, den Schecken am Zügel, rasch mir folgte, neben mir Platz nahm und sagte: »Ins Herrn und Gottes Namen – hi!« Jetzt hörte man nur den Schecken ausgreifen und die Räder im Sande knirschen, die Versammelten bildeten eine lautlose Gruppe; die Mutter drückte die Schürze in die Augen, der Maxenz fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Brauen, Brüder und Schwestern konnten den Abschiedsgruß nicht mehr sagen, sie liefen noch eine Strecke hinter dem Wägelchen her, bis dieses oberhalb des Gartens eine Schwenkung machte und im Morgennebel verschwand ...

Vom Nebel umfangen, stille nebeneinander sitzend, fuhren wir lange dahin, Hügel auf und ab und endlich eine ebene Halbstraße dahin, bis es mählich wieder auswärts ging und die breite, schöne Landstraße erreicht wurde, über die der sich lichtende Nebel hin und her wogte und bald aufwallend, bald wieder den Brodem der Erde suchend, in weißgraue Schleier zerriss und der ausgehenden Sonne Raum schaffte, die, aus Morgenrot und vergoldeten Wolken vordringend, den Tag ankündigte und ihm siegreich Bahn brach. Wir hatten jetzt, im Licht des schönsten Herbstmorgens, das weite Angeltal vor uns mit Dörfern, Kirchen, Schlössern und rechts am südwestlichen Horizont den Böhmerwald mit seinen kräftig aus den Tälern aufsteigenden dunkelwaldigen Hügeln, Höhen, Bergen, deren höchste Spitzen der Osser und Arber bilden ... – Gerade vor uns, rechts neben einem waldigen Hügel, tauchten bald auch die fernen Türme der Kreis- und Gymnasialstadt Klattau auf mit ihren im Glanz der Morgensonne schimmernden Kuppeln und Kreuzen. Ihr Anblick wirkte märchenhaft auf mein Gemüt, dem Vater aber löste der Anblick die Zunge, die bisher von Nachdenken und stiller Wehmut gebunden war; er begann mir in längerer Rede, erst mit umflorter, dann mit freier Stimme ans Herz zu legen, was für mich fortan das Erste und Heiligste bleiben solle. » Sei brav und fleißig«, lautete ungefähr sein Mahnwort. »Halte dich an Gott, den Herrn, und seinen Sohn, unsern Erlöser, habe immer die Eltern vor Augen, die dein Bestes wollen, aber die nur wenig beitragen können, dein Leben leicht zu machen; der Geschwister sind so viele, und die Zeiten sind so schwer; du hast ja selbst gesehen, wie bei den Lasten, Steuern und Gaben, bei schwacher Ergiebigkeit der Ernten und Geschäfte fast nicht durchzukommen ist; nur Gott, der Herr, kann helfen und sein Sohn, der uns erlöset hat; sie rufe täglich an im Gebet, und auch Maria, die Gnadenvolle, bitte sie, ihre himmlische Güte und Macht walten zu lassen, dass du heil durchs Leben kommen mögest. Amen, mein Sohn; noch einmal, brav sein, fleißig, ehrlich und fromm, so wird dich Gott in seinen allmächtigen Schutz nehmen und dir gnädig bleiben dein Leben lang in Leid und Freud, in Gefahren und Sorgen, in Kummer und Not.« – Meine Brust war voll zum Zerspringen; der Mahnung des Vaters nachzuleben, spornten alle Triebe des Herzens; heiß und mächtig war meine Sehnsucht, mich zu bewähren, aber auf des Vaters Lehre und Mahnung etwas zu erwidern, war ich nicht im Stande. Dumpf und stille blieb ich sitzen, als der Vater geendet hatte; lange waren wieder nur die Schritte des Schecken und das Knirschen der Räder hörbar, bis es endlich die letzte Steigung vor Klattau hinaufging und auf einmal die Stadt, um eine hübsch aufsteigende Höhe gelagert und dieselbe mit Kirchen und Türmen krönend, mit ihrem Anblick überraschte. Der Vater hatte, das Wägelchen wieder abwärts lenkend, gerade noch so viel Zeit, um auf die verschiedenen Türme der Stadt, voran den bedeutsamen »schwarzen« Turm, aufmerksam zu machen und die Kirchen zu nennen, zu denen die Türme gehören, als wir die Reichsstraße der Stadt erreichten, bis zum Hauptplatz, dem »Ring«, vorfuhren, dann, links und bald wieder rechts einbiegend, an das damals noch vorhandene Prager Tor gelangten, neben welchem ich, im Hause eines Kaufmanns Eger bei einer Witwe Rubasch, die noch drei Studenten beherbergte, Wohnung erhalten sollte ... Zwei Stunden später drückte ich, zuckend von verhaltenem Weh, mein Gesicht an die Brust des wieder scheidenden Vaters und dann in die Mähne unseres Schecken, der wohlgestärkt den Kopf hob und kräftig ausgriff, um das Wägelchen wieder heimzuziehen, woher es gekommen war; dann ging ich dumpf und stille nach der kleinen Wohnung, lächelte zu den freundlichen Worten der Quartierfrau, setzte mich auf meinen Koffer, legte den Kopf in die Hände und hörte die Mägde wieder sagen: »Wirst kein Heimweh kriegen?« und »O nein«, hatte ich morgens beim Abschied gesagt; – wohl mir, dass mich jetzt mit dieser Frage niemand in Versuchung führte! Schon die Sorge, dass es geschehen könnte, scheuchte mich wieder auf und fort, ich floh vor dem Heimweh und floh gerade in der Richtung nach der Reichsstraße, wo ich morgens hereingekommen war: stumm, regungslos, die Hände über den Augen, sah ich nach der Heimat hin, die ich nun für die Dauer von sechs Jahren nur während der Ferientage wieder sehen durfte ... Sechs Jahre; eine lange Zeit; eine Zeit voll heller und trüber Erlebnisse; aber eine Zeit, schon deshalb lieb und unvergesslich, weil sie der aufstrebenden Jugend angehörte, die eine Welt voll Arbeiten, Hoffnungen, Ideale, Bedrängnisse und Ehren umschloss und im Ganzen den Lehren und Mahnungen des Vaters wohl entsprach ... Klattau war damals eine Stadt von 6000 Einwohnern. Das Kreisamt und Kreisgericht hatten daselbst ihren Sitz; das Hardegg-Kürassierregiment lag hier seit vierzehn Jahren in Garnison; das Gymnasium, von Benediktinern aus St. Emaus in Prag geleitet, sechs Jahrgänge, wie damals üblich, umfassend, wirkte hier, gut besucht und von der Stadt erhalten. Das Gymnasium war deutsch, Kreisamt und Kreisgericht amtierten deutsch; deutsch war selbstverständlich das Militär-Kommando, deutsch amtierte das Bürgermeisteramt und Stadtkollegium und deutsch war die Unterrichtssprache in der Bürgerschule. Nimmt man hiezu, dass die Bürgerschaft durchwegs deutsch sprach und Arbeiter wie Dienstboten, die sich der tschechischen Sprache bedienten, zumeist auch deutsch verstanden und in dieser Sprache sich zu verständigen wussten, so wird nur eine Tatsache bezeichnet, wenn man sagt, dass Klattau damals eine deutsche Stadt war. Mir, dem Ankömmling aus einer rein deutschen Gegend, kam das natürlich sehr zu statten; ich konnte mich der Muttersprache im Umgang bedienen, fand die Muttersprache im Unterricht in Übung und erfuhr später durch den Umstand, dass die deutsche Sprache in gebildeten Kreisen und Familien warm gehegt und gepflegt wurde, eine nennenswerte Förderung ... Trug somit der deutsche Charakter der Stadt, der mir gestattete, mich der Muttersprache zu bedienen, nicht wenig bei, mir die Fremde traulich er zu machen und dadurch das unüberwindliche Heimweh abzudämpfen, so halfen noch gar manche Umstände, die mir neu und überraschend waren, erfolgreich zusammen, mich anzuziehen, zu zerstreuen und zu trösten. War Klattau auch nur eine kleine Stadt, so erschien sie doch mir, der aus dem Dorfe kam, groß und bedeutsam genug, um meine Aufmerksamkeit und Bewunderung längere Zeit zu fesseln. Jede freie Stunde fand mich auf der Wanderung durch die regelmäßig angelegten Straßen, deren wichtigste nach dem großen Hauptplatz, dem »Ringe«, münden; die Läden mit ihren Schildern, besonders die Seifensieder mit ihren Riesenlöwen, welche Kerzen in ihren Tatzen hielten, und die Tabaktrafiken mit ihren Türken an den Ladentüren, waren mir besonders auffallend; dazu kam die Bewegung in den Gassen, das andauernde Bimbeln der kleinen Ladenglocken und der Anblick der so mannigfaltigen Waren in den Auslagen; das am frühen Morgen beginnende, während des Morgens sich oft wiederholende und Mittags aus allen Kirchtürmen zugleich durcheinander summende Glockenläuten regte wunderbar an gegenüber der Dorfstille, aus der ich kam. Was aber all' mein Erstaunen weit überbot, das war das ganz neue militärische Leben, welches Klattau damals bot. Schon die Hauptwache auf dem »Ringe« neben dem schwarzen Turm machte der Neugierde und Spannung viel zu schaffen. Der stramm auf- und abgehende Wachposten in Helm, weißer Uniform und schweren gespornten Kanonenstiefeln, den damals üblichen Karabiner im Arm, war eine Sehenswürdigkeit. Kam nun der auf dem Platze wohnende Obrist bei seinem Gange nach der Kaserne an der Wache vorüber und rief diese wie am Spieße steckend: »G'wehr aus!« da entwickelte sich ein Schauspiel, das der kleine Student nicht oft genug sehen konnte: aus der Wachstube stürzten die zum Wachdienst kommandierten Kürassiere, rissen ihre Karabiner von der Wand, formierten sich mit verwunderlicher Behändigkeit in Reih und Glied und blieben so wie Marmorbilder regungslos, bis der Obrist vorüber war; dann genügten ein paar Kommandoworte, um eine Schwenkung, das Zurückstellen der Gewehre und das Zurückkehren in die Wachstube zu veranlassen. Dasselbe, noch etwas anziehendere Schauspiel entwickelte sich bei der Wachablösung, zum Morgen- und Abendgebet, wobei ein Trompeter die »Retraite« blies. Das Ausrücken zum Exerzieren, sonntags der Parademarsch nach der Kirche, zogen noch mehr an; aber alles wurde überboten durch das bald nach meiner Ankunft in Klattau beginnende Herbstmanöver des ganzen Kürassierregiments auf einer ausgedehnten Ebene neben der nach Prag führenden Straße. War schon der einzelne Mann zu Pferd, in voller Rüstung, mit Kürass und gezogenem Schwert, ein imposanter Anblick, so fesselten die Massen in Linien, insbesondere aber bei heftigen, im Karriere ausgeführten Attacken mit atemlosem Erstaunen. Ich konnte diesem außerordentlichen Schauspiele während der ersten, fast beschäftigungslosen Schultage die erwünschte Zeit und unbegrenzte Bewunderung widmen, wurde aber dann enger und enger in die Schranken meiner Pflichten eingeschlossen und darin fortan auch festgehalten ... Sind damit die Hauptlinien gezogen, um den Schauplatz meines neuen Lebens anzudeuten, so mag im Folgenden, gedrängt und anschaulich, das Wesen, Streben, Dulden und Ringen des kleinen Studenten mitgeteilt werden mit den Zuständen, Erfolgen, Entwicklungsstadien des Geistes und Leibes durch sechs drang- und belangvolle Knaben- und Jünglingsjahre ... Der Beginn der Studien war mehr anregend und nach außen anziehend als Geist und Fleiß in Anspruch nehmend. Da war zuerst das »Heiligengeistamt«, das die sämtliche Jugend im Gymnasialgebäude, einem alten, aufgehobenen Kloster, versammelte und in langem, feierlichem Zuge, die Jüngsten voran, unter Führung der Professoren über den Ring nach der Jesuitenkirche leitete. Still gerührt, verlegen und auch gehoben ging ich in der Reihe meiner kleinen, noch unbekannten Kollegen und dachte, während die Glocken läuteten: »Wenn das Vater und Mutter sehen könnten!« Dem Heiligengeistamte folgte eine Versammlung in den einzelnen Lehrzimmern, wo die Anordnungen der Professoren bezüglich der Lehrstunden-Einteilung und Anschaffung der Lehrbücher erfolgte; eine Überraschung versetzte mich dabei in eine glückselige Stimmung. Der Professor unserer Klasse, Pater Karl, ein Deutscher aus dem böhmisch-sächsischen Grenzgebiet, kaum mittelgroß, mit freundlich rundem Gesicht und blonden, nach dem Nacken gestrichenen Haaren, hatte bei der Durchsicht unserer eingereichten Nationale an meiner Handschrift Wohlgefallen gefunden und lud mich nebst drei ändern Mitschülern, die ihrer Handschrift wegen Gnade gefunden, wohlwollend auf sein Zimmer, um nach seinem Diktando die nötigen Kataloge zu schreiben. Die Ehre machte mich überglücklich. Die Arbeit wurde nachmittags und am andern Morgen, der schulfrei war, zur vollen Zufriedenheit des Professors durchgeführt, und ich betrachtete es als erfreuliches Anzeichen, dass die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen des Lehrers mir fortan treu bleiben werde, als nach einigen Unterrichtstagen unter den ersten, die der Professor zum Examen aufrief, auch ich mich befand. Der Erfolg war glücklich und ich fasste es als besondere Gunst auf, dass ich in nächster Zeit öfter, vornehmlich, wenn die Aufgerufenen die Antwort schuldig blieben, zur Prüfung ausersehen wurde. Entsprechende schriftliche Arbeiten bestärkten den Professor in dem Wohlwollen und Vertrauen, dass er an mir einen standhaft fleißigen und aufmerksamen Schüler habe, und diese Gunst blieb mir treu durch all die ersten vier Jahre, welche Pater Karl den Unterricht in allen Gegenständen, mit Ausnahme der Religionslehre, ausschließlich leitete ... Meiner äußeren Lage, wie sie anfangs war und sich allmählich gestaltete, sei auch ein Wort gelinder Wehmut gewidmet. Ich war, wie erwähnt, im Hause eines Kaufmanns Eger bei einer Witwe Rubasch einquartiert; ein Mitschüler und dessen Bruder, Lehrer-Präparand (beide aus Neugedein) nebst einem Hörer des fünften Jahrgangs des Gymnasiums, waren meine Genossen. Das wenig umfangreiche Zimmer ebener Erde mit dem Eingang aus einem Hinterhof und mit einem Fenster nach einer Nebenstraße, war fast peinlich genau unter uns geteilt, so dass ein jeder ein Bett, ein Tischchen, eine Stelle für seinen Koffer erhielt und ein größerer Tisch inmitten des Zimmers allen gemeinsam zur Verfügung stand; auf diesem Tische wurde jede schriftliche Arbeit verrichtet, und abends zur Ersparung von Licht beim Schein einer billigen Unschlittkerze gemeinsam studiert. Aber auch gegessen wurde an diesem Tische, und zwar nach Art der mehr oder minder günstigen Verhältnisse der Eltern. Für die beiden Brüder – Söhne eines Oberlehrers – die auch häufig Sendungen von Schinken und Kuchen erhielten, wurde von der Quartiersfrau einfach bürgerlich gekocht; für den Hörer des fünften Jahrganges des Gymnasiums mussten die vom Elternhause gesendeten Lebensmittel kalt oder warm zugeteilt werden, und die gleiche Lage bedingte auch bei mir die gleiche Ernährungsweise. Brot, Mehl, Butter, Käse, Salz und Kartoffel wurden gleich bei meiner ersten Fahrt nach Klattau mitgebracht und jeden Monat erneuert, so dass der Quartiersfrau nur oblag, morgens und abends eine Suppe, mittags ein Mehl- oder Kartoffelkoch zu besorgen. Satt ist satt, und so könnte ich nicht sagen, dass mir jemals die Versuchung, Besseres zu wünschen, zu schaffen gemacht hätte. Lernen, von allen gut gelitten werden, das war meine alles überbietende Sorge, und die kurzen Briefe an die Eltern lauteten immer beruhigend: »Es geht gut.« Eines Tages – ich besah mir eben auf der Karte den Wendekreis des Steinbocks – steckte sich ein gerührt-lächelnder Kopf zur Türe herein – ich sprang mit einem Aufschrei der Freude hinzu – es war Maxenz, unser Oberknecht, er brachte neue Nahrungsmittel und schöne Grüße »von zuhause«. Von Maxenz zu unserm Schecken auf der Straße war dann nur ein Sprung; und als dieser, wie freundlich verwundert, den Kopf hob und mich ansah – da war's, als hörte ich unsere Mägde wieder sagen: »Wirst kein Heimweh kriegen?« Ich hätte nicht gleich wie beim Abschied: »O nein« sagen können ... Das gab eine Stunde lang große Wirrnis in meinem Gemüt; Elternhaus, Vater und Mutter und Geschwister standen wieder leibhaftig vor mir, und wie in schwerem Banne schien ich in der Fremde festgehalten und von allen Lieben verlassen ... Das Abladen der Nahrungsmittel und einige Mitteilungen an die Quartiersfrau hatten Maxenz abgehalten, meinen Zustand näher ins Auge zu fassen; als er endlich fertig war und ins Wirtshaus fuhr, um sich und dem Schecken Ruhe und Stärkung zu verschaffen, ging ich mit, fühlte mich wieder gefasster und wurde nicht müde, nach allem und jedem in der Heimat zu fragen – natürlich zuerst nach Eltern und Geschwistern – aber zumeist nach andern Dingen, da mir jede, auch erfreuliche Nachricht über jene schmerzliche Bewegung erregte. Und Maxenz hatte glücklicher Weise vieles mitzuteilen, was in der Heimat geschehen war und mich interessierte. Eine Hochzeit war gefeiert worden, seit ich aus der Heimat geschieden, die erste Hochzeit, die ich nicht mit angesehen; ein Wirtshausgefecht (a Graff) hatte bei unserm Dorfwirt stattgefunden und ich hörte viel von glorreichen Siegern und schwer verletzten Besiegten; das Kirchweihfest war vorübergegangen, das erste seit meiner frühesten Kindheit, ohne dass ich's auch gesehen und mitgenossen hatte; in meinem Gemüte sah es wieder sehr bedenklich aus, besonders da mir Maxenz mitteilte, dass er, was man damals »auswandern« nannte, nur mehr kurze Zeit in meinem Elternhause dienen und dann nach Baiern ziehen und dort Dienste nehmen wolle. Da war's höchste Zeit; ich nahm einen Augenblick wahr, wo Maxenz nach dem Schecken sehen wollte, umfing urplötzlich seinen Oberarm, presste die Stirn daran, fasste mit der Hand nach seiner Wange und entfloh, ohne ein Wort zum Abschied sagen zu können ... Es war ein Glück, dass ich erst später erfuhr, ich habe an diesem Tage auch unsern Schecken zum letzten Male gesehen, der über die Grenze verkauft war, ich wäre beim Abschied nicht so leicht weggekommen ... Als es Abend wurde, wanderte ich besonders schweren Herzens die Allee vor dem Prager Tore zu der kleinen Kapelle, die einer wundertätigen Maria gewidmet ist; es war mein täglicher Abendgang, um dort ein stilles Gebet zu verrichten und nach des Vaters frommem Rate Marien um Stärkung und Segen zu bitten; und ich verließ wirklich die Kapelle getröstet und fand bei meiner Rückkehr in die Wohnung auch eine weltliche Erheiterung des Gemüts. Maxenz hatte mir meine bei der ersten Fahrt nach Klattau daheim vergessene Violine mitgebracht, die ich, da der Bogen zerbrochen war, eigentümlich zu stimmen und auf Art einer Gitarre zu spielen pflegte. Heimische Ländler- und Volksliederweisen, mit denen ich im Elternhaus erfreut hatte, erquickten jetzt mein Herz in unsäglicher Art, und ich griff, sooft ich allein war, zu meiner Trösterin, ohne in nächster Zeit zu merken, dass mein Spiel auch sonst noch einen lieben und wie ich nachträglich entdeckte, wohlwollenden und dankbaren Zuhörer habe ... Gegenüber dem Fenster, an welchem ich meine bescheidene Kunst ausübte, im ersten Stocke, wohnte ein Verpflegsoffizier, dessen etwa zehnjähriges Töchterchen morgens und abends an ein Fenster kam, um die in zwei Käfigen gehegten Lieblinge, einen Kanarienvogel und einen Hänfling, zu füttern und mit ihnen zu kosen. Es war allerliebst, das engelhafte Gesichtchen, umwallt von blonden, bis auf Schultern und in den Nacken herab wallenden Locken hinter und zwischen den Käfigen lächeln, locken und zwischen den frischen gespitzten Lippen Stückchen Zucker reichen zu sehen; silberhelles Auflachen, entzücktes Händeklatschen erfolgte, wenn die Lieblinge mit freudigem Hüpfen und Flattern die Liebesgaben holten und zwitschernd von Sprosse zu Sprosse flogen ... Verstohlen und selbstvergessen hatte ich schon manchmal dem idyllischen Spiele zugesehen und es noch öfter, jedoch vergebens, erwartet. Acht Tage lang erschien um die bestimmte Stunde eine ernste Frau, wahrscheinlich die Mutter des schönen Kindes, und besorgte die Verpflegung der Vögelchen; es schien, als wäre das Erscheinen des Engelchens für immer vorüber; aber da war es eines Tages wieder, gerade als ich, stille vor mich hin sinnend, auf der Violine meine Weisen klimperte. Ich zuckte erschrocken und entzückt zusammen, als mein Auge, einer liebgewordenen Gewohnheit folgend, nach dem Fenster mit den Käfigen blickte und das Lockenköpfchen zwischen denselben lächelnd herab horchen sah. Ich vermochte nur mit großer Anstrengung mein Spiel fortzusetzen und schloss es erst, als das Lockenköpfchen, von einer Frauenstimme gerufen, hinter den Käfigen verschwand. Einige Wochen lang gewährten mir solche Stunden, die nach und nach idyllischen Ständchen nicht unähnlich sahen, große, erquickende Seligkeit, bis eines Tages die Käfige aus dem Fenster verschwanden, die Vorhänge heruntergenommen wurden und ein Frachtwagen vor dem gegenüberliegenden Hause mit den Möbeln des Verpflegsoffiziers beladen wurde. Dieser war nach einer andern Garnison versetzt worden und reiste, während ich ahnungslos in meiner Schulstube saß, mit Familie und Käfigen auf Nimmerwiedersehen ab ... Die Marienkapelle hatte wochenlang an meinem Herzen zu beruhigen, und ein fast wilder Trieb, mich in meine Studien zu vergraben und dadurch Trost zu finden, bemächtigte sich meiner; zu diesen Tröstern gesellte sich glücklicher Weise bald eine mächtig wirkende Hoffnung – die Hoffnung, meine erste Heimkehr zu feiern. Der Spätherbst war gekommen, der erste Schnee war gefallen, und Weihnachten, das liebliche Fest für Kinderherzen, rückte näher. Wir sollten die üblichen drei Tage frei haben und die Erlaubnis erhalten, die freien Tage im Elternhause zuzubringen ... War das ein Ausmarsch am Vorabend des heiligen Festes! Durch dichte Schneemassen, die selbst die Heerstraße schwer gangbar machten, bei fünfzehn Graden Kälte, bei schneidigem Nordwestwind und in einfachem Röckelchen, ging es durch das Reichstor hinaus, den nächsten Höhenzug hinauf und in Gesellschaft von Mitschülern aus der Heimat nach Westen weiter. Der Sturmwind zauste in unserm Haare, Schneehügel bildeten sich auf den Rüsten unserer Stiefel, aber die Wangen glühten, die Augen glänzten und die Spazierstöckchen fochten lustig in den am Tragen von Handschuhen noch unschuldigen Händen! ... Es war schon spät am Abend, als ich in die Nähe meines Elternhauses kam. Aus weiter Ferne klang das Bellen von Hofhunden, über das weiße Schneefeld lief hie und da ein Hase. Das Licht, das in der Familienstube brannte, wurde jetzt einen Augenblick unsichtbar, eine Gestalt, die vom Gartenzaun herkam, lenkte dasselbe ab; ich ahnte, wer mir entgegen ging – der Vater war's, der über meine späte Heimkehr unruhig geworden: »Bist du's?« hörte ich ihn endlich rufen; – einige rasche Schritte und ich hatte seine Hand in meinen Händen und ging neben ihm freudebebend dem Elternhause zu. Dort ging eben die Haustüre auf – die Mutter wollte seh'n, ob ich denn immer noch nicht komme. – Da war ich aber schon und hing an ihrem Halse; hinter ihr ging die Stubentüre auf und in freudigem Gewirre drangen Stimmen heraus und hinter ihnen die frohbewegten Geschwister ...

Am Weihnachtsmorgen waren alle Wanderbeschwerden vergessen, ich erschien mit den jüngern Geschwistern gleichzeitig am Beschertisch und fand wie in frühen Kindertagen meinen Teller mit Äpfeln und Nüssen gefüllt; das Glück der Kindheit überkam mich wieder und blieb mir treu bis zur Stunde des Abschieds. Der Vater ließ sich über Fleiß, Aufführung und Studien berichten, war zurückhaltend mit seinem Lobe, aber unermüdet in Aufmunterung zu weiterem Eifer; wiederholt überraschte ich ihn, wie er unter vier Augen der Mutter und in Gegenwart von Nachbarn sich gerührt und lebhaft ausließ über seine Zufriedenheit mit mir; er brach dann schnell ab in seinem Lobe, denn ich sollte es nicht hören und sollte nicht eitel gemacht werden. Beim Abschied gab mir der Vater seinen Segen und seine früheren Lehren mit auf den Weg, die Mutter war heftiger bewegt, und die Geschwister besorgter wegen des argen Wintersturms und Schneegestöbers, die die Wege unfahrbar machten und mich zwangen, den Weg nach Klattau zu Fuß zurückzulegen. Im einfachen Röckelchen, das Wanderstöckchen in der Hand, wie ich gekommen war, so brach ich wieder auf und schien wohlgemut ins Unvermeidliche mich zu ergeben; der älteste Bruder begleitete mich bis zur Stelle, wo die gefährlichen Landwege endeten und die Reichsstraße begann. Ich hatte noch so viel Fassung, von dem rückkehrenden Bruder mich zu verabschieden und ihm noch viele Grüße für alle mitzugeben; dann aber brach es los und ich stürmte weinend, von Heimweh und namenlosem Schmerz durchschüttet, die Straße weiter, ohne Halt und ohne Rast, bis ich am Reichstor in Klattau anlangte, die Prager Straße durcheilte und mein bescheidenes Quartier erreichte. Hier nahm ich mich wieder ordentlich zusammen, grüßte Quartiersfrau und Zimmergenossen mit fester Stimme und schien beruhigt und gefasst die übliche Lebensweise wieder aufzunehmen. Aber mein Gemüt hatte noch viele Tage zu ringen mit einem tiefen, allgemeinen Weh, das noch einmal heftig durchbrach, als bald nach Neujahr ein Wägelchen mit Lebensmitteln aus dem Elternhause vorfuhr, bespannt mit einem hellbraunen Pferde und gelenkt von einem neuen Oberknecht; Maxenz und der Scheck waren richtig fortgezogen ... Doch die Zeit, die verwunden hilft, sie heilt auch wieder. Studien, Belobungen, Marienandachten, Violinübungen halfen zusammen, mich wieder getrost zu stimmen; der Fasching tat noch etwas ganz Besonderes hinzu, mich wenigstens zerstreuen zu helfen. In Klattau waren Maskenzüge üblich, die jeden Abend von Haus zu Haus gingen, in Familienstuben Tänze aufführten und die Jugend, die sie vorfanden, in ihre Wirbel zogen; wir Studentchen durften dem Treiben in der Stube des Kaufmanns zusehen, doch war uns die Teilnahme an demselben streng verboten. Das Verbot bewirkte aber bei einheimischen und älteren Studiosen nur, dass sie selbst maskiert die Umzüge und Tänze mitmachten, mehrfach sehr zum Nachteil der Studien und Sitten ... Zu Beginn des Frühjahrs erfolgte der Abschluss des Studienhalbjahrs; nach einer feierlichen Prüfung bekamen wir Zeugnisse: das meinige enthielt in Sitten und allen Gegenständen Vorzugsklassen (Eminenzen). Über der großen Freude, meinen Eifer so belohnt zu sehen, vergaß ich alle Mühen, Sorgen, sogar das Heimweh; ich schickte dem Vater das Zeugnis und war nun bei schönem Wetter zu jeder freien Stunde ein glücklich ausschwärmender Gast der freien Natur, mit Büchern und Heften in der Tasche, die studiert sein wollten. Einem herrlichen Frühjahr folgte ein ebenso gelungener Sommer; dem Sommer ein unvergesslicher Abschluss des zweiten Studienhalbjahrs ... Am ersten August 1831 erfolgte die sogenannte Klassenlesung. Es war ein feierlicher Akt auf dem Rathause. In einem großen Saale war eine Rednerbühne errichtet und ihr gegenüber nahmen auf einem erhöhten Ehrenraume die Professoren und Honoratioren Platz, vor dem in der Mitte des Halbkreises sitzenden Gymnasial-Präfekten stand ein grün überzogener Tisch mit schön gebundenen Prämienbüchern. Auf ein Zeichen des Präfekten ertönte ein Tusch von Blechinstrumenten mit Paukenwirbel; ein Schüler der höchsten Gymnasialklasse erstieg die Tribüne und hielt eine lateinische Festrede, deren Schlussworte wieder von Tusch und Trommelwirbel begleitet wurden. Hierauf erfolgte die Klassenlesung aus einem gedruckten Hefte, das in sechs Abteilungen alle Klassen des Gymnasiums umfasste. Jeder Professor las die Schüler seiner Klasse mit der Klassifikation eines jeden; voran ging die Lesung der Namen des Prämiierten und der ihm zunächst folgenden Vorzugsschüler. Praemio donatus erhielt, indem er unter Trompetentusch und Paukenwirbel auf das Podium vor den Präfekten trat, das bestimmte Prämienbuch; die ihm zunächst kommenden zwei (Accessisten) betraten unter musikalischer Ehrenbezeugung das Podium und hatten sich nur dankend zu verneigen. Unser Praemio donatus war ein Baron Kotz; der ihm zunächst Kommende (primus accedens oder erster Accessist) war der Sohn des Bürgermeisters Suchanek, der zweite Accedens war ein mir innigst befreundeter Landsmann, Kollross aus dem Böhmerwalde. Nur der Eigentümlichkeit wegen, und weil der Fall einiges Aufsehen erregte, sei hier meine Klassifikationsrubrik besonders vorgeführt; die Gegenstände waren lateinisch verzeichnet; ebenso mein Name: Josephus Rank, Friedrichthalensis. Die Rubrik der Klassifikation sah folgendermaßen aus:

Sitten Religion Latein-Grammatik Geographie Arithmet.

Em.   Em.   Em   .    Em.   Em.

Die Feierlichkeit schloss mit einem deutschen Vortrag, gesprochen von einem Schüler der fünften Gymnasialklasse ... Als ich nach der Feierlichkeit vor das Rathaus trat, fand ich meinen Vater, umringt von Landsmännern aus dem Böhmerwalde, die ebenfalls studierende Söhne abzuholen hatten; sie waren eben daran, auf meine Klassifikation zeigend, den Vater lebhaft zu beglückwünschen. Mit feuchten Blicken hörte er ihnen zu und nickte nur in Gedanken; mich erblickend, fasste er nach meinem Arm, empfahl sich von den Landsleuten und ging mit mir nach der Schenke, wo unser Pferd und Wägelchen eingestellt waren. Wir aßen und tranken, aber sprachen nichts. Ein freudiger Schimmer lag auf des Vaters Gesicht, die Augen blieben umflort. Erst als wir auf unserm Wägelchen saßen und die Stadt im Rücken hatten, löste sich der Bann, der die Zunge des Vaters bisher gefesselt hatte; er lobte mich mit Worten, die von Herzen kamen, munterte mich auf, auch künftig brav zu bleiben, das sei doch das Schönste und Beste und selbst fremde Leute hätten ihre Freude daran. Dann forschte er, wie es komme, dass mir doch noch drei Mitschüler zuvorgekommen seien. Was denn diese Besonderes geleistet hätten und ob denn das nicht mir auch zu leisten möglich wäre? Dass der Allervorderste, der Prämiierte, ein Baron sei, das, meinte der Vater, möchte die Sache schon etwas begreiflich machen; auch wär' es für den Zweitvordersten sehr günstig, dass er der Sohn des Herrn Bürgermeisters sei; aber der Dritte? »Woher ist der? Wer sind seine Eltern?« Ich sagte, er sei ein Landsmann; er habe nur noch eine Mutter, die eine kleine Wirtschaft im Böhmerwald besitze. Er sei ein sehr braver, außerordentlich fleißiger Mitschüler, sei mein Freund und verdiene seine Auszeichnung. Der Vater schwieg eine Weile, dann sagte er: Wie diese drei Vordersten, einer nach dem andern, unter Trompeten und Pauken vor die Honoratioren getreten seien, das hätte niemand mit trockenen Augen sehen können; er, der Vater, habe sich unversehens gedacht, dass ich selbst einer der dreien sei – und was das für eine Wirkung auf ihn gemacht habe! Er schwieg hier eine Weile, dann schloss er halb in Gedanken: »Vielleicht wird so was auch noch einmal!« ... Der gute Vater! Ja wohl erlebte er so was noch, und zwar nicht bloß einmal! Im nächsten Jahre war der Erfolg derselbe wie im ersten Jahre, durchaus Vorzugsklassen; doch schon im dritten Jahre stand mein Name als zweiter Accedens hinter dem Prämiierten, und ich durfte unter Trompeten- und Paukenschall auf das Podium vortreten; am Schluss der drei letzten Gymnasialjahre stand ich als erster Accedens auf dem Klassenhefte gedruckt und Trommel- und Trompetenschall begleiteten meinen Vortritt und die heftig ausbrechenden Tränen meines Vaters ... Diese Andeutungen mögen genügen, die Erfolge meiner Gymnasialstudien im Allgemeinen darzutun; in einem flüchtigen Rückblick sei noch gestattet, Folgendes zu berichten ... Professor Karl Kilian blieb, wie erwähnt, die ersten vier Jahre unser Lehrer in allen Gegenständen, die Religion ausgenommen. Ich sage nicht zu viel, wenn ich Pater Karl einen Meister und ein Muster seines Lehramts nenne. Streng und gerecht in der Behandlung der Schüler, war er klar und gewandt im Vortrag und unermüdlich in seinem Bestreben, auch die schwächern und lässigeren Schüler so weit zu fördern, dass sie mit einigem Anstand von Klasse zu Klasse vorwärts kommen konnten. In guten Stunden war seine Laune originell, und da konnte es geschehen, dass er einem unaufmerksamen Schüler, der in dem Glauben, unbeachtet zu sein, Allotria trieb, bis in die fernste Ecke des Lehrzimmers mit staunenswerter Treffsicherheit sein Priesterkäppchen an den Kopf warf. Pater Karl hat, nachdem ich das Gymnasium verlassen, den Vortrag des Religionsunterrichtes übernommen und wurde später, in das Prager Kloster St. Emaus zurückberufen, mit der in Unordnung geratenen Klostergutsverwaltung betraut, die er in musterhafter Weise geleitet haben soll. Ehre seinem Angedenken! ... Die Leitung der zwei folgenden und letzten Jahrgänge des Gymnasiums mit dem Zwecke, Humaniora zu pflegen, hatte vor Kurzem ein junger Priester aus St. Emaus übernommen, der nur immer Professor Ruziczka, nie aber mit seinem Klosternamen genannt wurde, daher mir letzterer auch gar nicht erinnerlich ist. Ruziczka hatte sich bald nach Übernahme seines Amtes einen besonders ehrenvollen Ruf als Lehrer und Mensch erworben und hat sich auch als Leiter meiner Klasse in jedem Sinne unvergesslich bewährt. Im Lehramt seine Gegenstände frei und lichtvoll behandelnd, suchte er zu weitern Studien außer der Schule anzuregen, widmete besondere Pflege den Übungen in deutscher Sprache neben der lateinischen, hielt sich weniger ängstlich, als es Pflicht zu sein pflegte, an den Leitfaden der streng vorgeschriebenen Lehrbücher, so dass wir mehr nach den von ihm diktierten Heften als nach den gedruckten Büchern unsere Kenntnisse erweiterten. Seine Schüler hatte er binnen Kurzem kennen gelernt und machte bald kein Hehl aus seinem besondern Wohlwollen für einen und den andern. Was mir zu einem solchen Wohlwollen verhalf, mochte in erster Reihe durch die mitgebrachte Klassifikation und gewiss auch durch die Anempfehlung meines lieben frühern Lehrers, Pater Kilian, zu erklären sein; doch wurde dieses Wohlwollen namentlich gefördert durch den Umstand, dass meine Leistungen in schriftlichen Arbeiten seine besondere Aufmerksamkeit erregten. Er begann meine Arbeiten bald als Muster vom Katheder herab vorzulesen und mir dadurch allerdings große Ehre zu erweisen, aber mir auch manchmal peinliche Verlegenheit zu bereiten, da ich besorgte, dass durch das häufige Lob der Neid der Mitschüler erweckt und deren Neigung zu mir beeinträchtigt werden würde. Doch wurde ich bald durch neidlose Anerkennung der Kollegen beruhigt, die mir treu blieb bis zum Abgang vom Gymnasium. Den besondern Beifall des Professors erwarb ich auch durch eifrige Pflege der Deklamation. Als ich einmal die große Szene zwischen Don Carlos und Marquis Posa im ersten Akte des Schiller'schen Trauerspieles aus dem Gedächtnisse vortrug, geschah es, dass bei einer der eindringlichsten Stellen der Professor plötzlich das Lehrzimmer verließ. Die Mitschüler sahen bestürzt nach mir; ich blickte sie wieder erschrocken an, dann sprach ich meinen Vortrag zu Ende und begab mich auf meinen Platz. Was war's, fragte ich meinen Nachbar leise. »Der Professor hat geweint«, erwiderte er betroffen. Und so war es auch; als Ruziczka nach einer längern Pause zurückkam, waren seine Augen noch sichtlich gerötet und blieben es bis zum bevorstehenden Schluss des Unterrichts. Beim Verlassen des Lehrzimmers fühlte ich nur die Hand meines lieben Lehrers zweimal meine Schulter klopfen: eine stumme, aber unvergessliche Anerkennung für meinen Vortrag, der so seltsam gewirkt hatte ... Von da an ergriff der treffliche Mann, der mir bis an sein Lebensende ein treuer werter Freund blieb, jedweden Anlass, mir eine Freude, eine Auszeichnung zu bereiten. So ermunterte er mich, gelegentlich der Visitation des Gymnasiums durch den obersten Schulinspektor, De Paula Pöllner, zu dessen feierlichem Empfange ein Gedicht zu verfassen und ließ es nach freundlicher Nachhilfe seiner Hand unter meinem Namen drucken, was mir von Seite des hochgestellten Herrn, eines Geistlichen, wohlwollende Aufmunterung und – sechs Stück neue Silberzwanziger eintrug. So durfte es auch bei den durch Ruziczka lebhaft angeregten und von den gesamten Zöglingen des Gymnasiums in militärischer Ordnung jährlich unternommenen Maiausflügen nie an einem von mir verfassten und vorgetragenen Gelegenheitsgedichte fehlen ... Dass ich in Versen und Prosa zu einer diesen Aufmunterungen entsprechenden Fertigkeit etwas früher als meine Mitschüler gelangte, fand wohl, abgesehen von einiger besonderen Anlage, in der ungemessenen Liebe zur Lektüre und in dem Umstande seine natürliche Erklärung, dass ich nach verschiedenen Richtungen hin Gelegenheit fand, viele und zumeist gute Lektüre zu erhalten. Verschaffte mir einesteils mein wohlgeneigter Professor aus der Bibliothek des Gymnasiums, was meinem Alter und meiner Studien angemessen war, so lieferten meiner Lesegier anderseits Hausbibliotheken durch Vermittlung von Kollegen gar zahlreichen und mitunter wahrhaft klassischen Lesestoff. So lernte ich aus der Bibliothek des Bürgermeisters, dessen Sohn mein Mitschüler war, die Meisterwerke Shakespeares kennen; die Bibliothek des Bürgersohn-Professors Wimmer, der selbst Dichter war, machte mir vornehmlich die Werke lyrischer Poeten, darunter Bürger, Hölty, Matthisson, Theodor Körner zugänglich; in der Hausbibliothek der lieben, unvergesslichen Familie des Apothekers Firbas, die mich zur Aufsicht und Leitung eines kleinen Sohnes zu sich genommen hatte, fand ich Goethe und Schiller vor, die ich, namentlich letzteren, mit unsäglicher Begierde und Bewunderung las und wieder las; auch fand ich Gelegenheit, aus der reichhaltigen Romanbibliothek eines Barons und Gutsbesitzers Hubertus, der in Klattau ein schönes Haus mit Garten besaß, Werke der damals beliebtesten Schriftsteller, darunter Walther Scott, Tromlitz, Van der Velde, Spindler, kennen zu lernen. Um auch der in jener Zeit unvermeidlichen Studentenlektüre nicht zu vergessen, sei erwähnt, dass mir die damals gierig verschlungenen Ritterromane, vornehmlich die von Christian Heinrich Spieß, nicht unbekannt blieben, die alle aus der Bibliothek eines Priesters der Stadtpfarre, Namens Tonner, stammten ... Sei es hier am Platze, bevor ich von dem Abschluss meiner Studien und von meinem Abgang vom Gymnasium eine kurze Mitteilung mache, jener Verbesserung meiner äußern Lage, die allmählich eintrat, mit einigen Worten zu gedenken ... In dem Stübchen der Quartiergeberin Frau Rubasch am Prager Tore wohnte ich nur während der zwei Semester des ersten Gymnasialjahres. Der folgende Jahrgang brachte schon dadurch eine Verbesserung, dass ich eine Familienstube nur mit einem Zimmergenossen, einem Verwandten, zu teilen hatte. Die Familienstube befand sich im Kreisamtsgebäude ebener Erde, links vom Eingang. Sie war die Wohnung eines kinderlosen Amtsdieners (Kreisdragoners), Namens Marek. Mein Vater lieferte Holz und eine bestimmte Menge Lebensmittel, dafür ich außer Wohnung noch anständigen Mittagstisch, morgens und abends Suppe erhielt. Die Wohnung wurde äußerst sauber gehalten, in ihr herrschte die wohltuendste Ordnung und Ruhe, die den Studien sehr zustatten kamen. Noch jetzt lebt die Frau des Kreisdragoners, eine Karlsbaderin, in meinem freundlichen Angedenken. Gewiss wäre ich noch manches Jahr bei diesem Ehepaare geblieben, wenn nicht von Amtswegen verboten worden wäre, Studenten im Amtsgebäude zu halten. Mein nächstes Quartier war nächst dem Gymnasium bei einem Familiendiener des Kreishauptmanns und dann, da der Diener einen andern Posten erhielt, bei einem Gastwirt in dem einstigen Seminargebäude der Jesuiten nächst der Militärkaserne. Von hier holte mich die liebevolle Hand des Schicksals schon nach einigen Monaten weg und führte mich infolge einer Empfehlung meines Professors, Pater Kilian, in die Familie des schon erwähnten Bürgerschulprofessors Wimmer ein, dessen Sohn mein Mitschüler war und durch meine Nachhilfe in seinen Studien gefördert werden sollte. Für diese Nachhilfe erhielt ich Wohnung und die ganze gute Verpflegung frei. Diese erfreuliche Verbesserung meiner Lage, die zugleich eine ersehnte Erleichterung der Eltern war, bereitete mir große Freude, und da ich noch Zeit gewann, ein paar Lektionen außerm Hause zu geben, so war ich im Stande, mir auch die Kleidung selbst zu schaffen und so die guten Eltern ganz zu entlasten. Zu diesem äußern Glücke gesellte sich eine nie geahnte geistige Förderung, indem mir der alte gute Herr Professor die Schätze seiner erlesenen Bibliothek, die er sonst mit Argusaugen bewachte, freundlich erschloss und zur Verfügung stellte. Nichts glich seinem Behagen, davon sein ganzes Antlitz glänzte, wenn er seine Schränke öffnete und zum Führer wurde durch die schöngebundenen Bücherreihen, daraus er hie und da mit zartgespitztem Zeigefinger einen Band herausnahm und mir zum geistigen Hochgenusse empfahl ... Der Aufenthalt im Hause des Professors Wimmer dauerte indessen nur während des vierten Gymnasialjahres; der Sohn desselben, mein Mitschüler, sollte seine Studien nicht fortsetzen, sondern sich einem bürgerlichen Geschäfte in Prag widmen. Damit war meine Aufgabe im Hause des Professors erfüllt, und ich musste auf einen Rückschritt in der Verbesserung meiner äußeren Lage gefasst sein. Dieser Rückschritt trat indessen nicht ein; infolge einer Empfehlung meines trefflichen Gönners, Gymnasial-Professors Ruzieka, wurde ich in das angesehene Haus des Apothekers Firbas aufgenommen, dessen jüngstes Söhnlein eben in die erste Gymnasialklasse eingetreten war. Für die Aufsicht und die Überwachung der Studien desselben erhielt ich freie Wohnung und die ganze vortreffliche Verpflegung während der zwei letzten Jahrgänge des Gymnasiums. Mit dem älteren Bruder meines Zöglings, Anton, der nach Gymnasialstudien sich dem Geschäfte seines Vaters widmete, wurde ich während der Zeit meines Aufenthaltes im Hause Firbas warm befreundet und blieb es bis in die spätesten Tage meines Lebens. Freundlicher Aufmerksamkeit erfreute ich mich auch von Seite der Schwestern meines Freundes und der ältesten derselben, die seit dem Tode ihrer Mutter in musterhafter Weise das große Hauswesen führte und der nicht geringen Sorge für die jüngern Geschwister aufopfernd lebte, verdankte ich außer leiblicher Fürsorge auch geistige Anregung, indem sie mir die Familienbibliothek zugänglich machte, aus der ich namentlich Schiller und Goethe zu meiner Haupt- und Lieblingslektüre mir erbat. Von Ereignissen, die in das kleinstädtische Stillleben meiner Gymnasialjahre aufregend herein wirkten, sind meiner Erinnerung unvergesslich geblieben, aus dem ersten Jahre der Tod eines Professors Pater Paul, der beim Baden ertrank; im zweiten Jahre der Durchzug der im Kampfe gegen Russland unterlegenen polnischen Revolutions-Offiziere; im dritten Jahre die ungeheuerlichen Phantasieberichte über das jählings auftauchende Leben und Treiben eines Räuberhauptmanns Babinski, der in Stadt und Land die kühnsten Abenteuer ausführte und Groß und Klein in fieberhafte Aufregung versetzte (im Jahre 1887 las ich dessen Tod in den Blättern, er starb im Kerker zu Brünn in jämmerlichem körperlichem Zustand); während des sechsten Gymnasialjahres reiste Kaiser Ferdinand I. durch Klattau und hielt sich zwei Tage daselbst auf, sein Weg führte ihn nach Prag zu der damals noch üblichen Königskrönung. Das gab große Bewegung in der Stadt, militärische Aufmärsche, Huldigungen, Beleuchtung; unsere Jubelrufe waren staunenerregend, wenn der kleine kaiserliche Herr mit dem blassen gutmütigen Gesicht am Fenster seines Absteigquartieres (im Kreisamt) erschien und sich einige Male dankend verneigte ... Welche Wandlungen, welche Geschicke nach kaum zwölf Jahren, wo ich den guten erschütterten kaiserlichen Herrn wiedersah, auf den Balkon der äußern Hofburg in Wien heraustretend und die schwarz-rot-goldene Fahne schwingend zur Beschwichtigung der allmächtig anwachsenden Bewegung! ...

Mit dem Juli 1836 ging das sechsjährige Studium auf dem Gymnasium in Klattau zu Ende. Der Abschluss dieses Studiums brachte ein Ereignis, das für meinen Vater höchst erfreulich und ergreifend, für mich von unvergesslichem Werte war. Denn bei der feierlichen Klassenlesung hatte ich nicht nur die Ehre, unter Pauken- und Trommelwirbel als erster Accedens vor die Honoratiorenversammlung treten zu dürfen, mir war sogar die Aufgabe geworden, eine der üblichen Festreden zu halten. Ich hatte mir die Deklamation des deutschen Vortrags – eines Gedichtes gewählt, das ich selbst verfasst und »Abschied von Klattau« betitelt hatte. Als ich unter feierlichem Tusch die Treppe der Tribüne hinausstieg, hatte ich das Gefühl, als würde mir alles Blut aus den Adern gezogen; ich musste leichenblass oben angekommen sein; allein schon nach dem Vortrag einiger Verse hatte ich meine ganze Fassung wieder gewonnen, die Worte kamen klar und warm über die Zunge, und es dauerte nicht lange, so wehten durch den weiten, dicht von Zuhörern besetzten Saal zahllose Schnupftücher, welche Beifall winkend und Tränen trocknend in die Augen gedrückt wurden. Durch diesen Erfolg betroffen, der auf mich selbst zurückwirkte, verlor ich einen Augenblick das Gedächtnis und fühlte entsetzt, dass ich stecken bleiben könnte; aber da stand das nächste Wort und der nächste Vers plötzlich wieder deutlich vor meinem Gedächtnis, und ich kam glücklich mit meinem Vortrag zu Ende; das kurze Stocken hatte nur den Eindruck tiefer Bewegung gemacht, und kam dem Vortrag wie eine wohlberechnete Kunstpause zustatten. Unter stürmischem Beifall, und geleitet vom Schall der Trompeten und Pauken, stieg ich von der Tribüne herab ... Ich forschte vor allem nach dem Vater, der an der Saaltüre als Zeuge des festlichen Aktes Aufstellung genommen hatte; er war aber verschwunden. Ich fand ihn erst in der Schenke wieder, wohin er sich wie ein vor der Gewalt mächtiger Freude und Rührung Flüchtender zurückgezogen hatte. Warum er denn seinen Platz an der Saaltüre verlassen und wo er dem schönen Abschiedsfeste beigewohnt habe, fragte ich. Nun gestand der Vater, ihm sei, als ich unter Trommel- und Trompetenschall die Tribüne hinausgestiegen, so unsagbar zu Mute geworden, dass er, vor Freude und Angst außer sich, aus dem Saale geflüchtet und draußen, auf der Treppe sitzend, das Ende meines Vortrags abgewartet habe; jeder Ton meiner, nur dumpf und leise bis zu ihm dringenden Stimme sei ihm ins tiefste Herz gedrungen, und als diese Stimme einige Augenblicke stille schwieg, habe er sich entsetzt an die Mauer gelehnt und besorgt, ich sei im Vortrag stecken geblieben; erst die Musik am Schlüsse habe ihm wieder Kraft gegeben und ein gutes Ende verkündet, da sei er aber auf und davon, um wieder ganz zu sich selbst zu kommen ... Nie waren ein Vater und ein Sohn glücklicher als wir beide während der Fahrt nach der Heimat. Ein Stück Leben war abgeschlossen, das bei vielen vorwärts, bei vielen wieder rückwärts führt in den äußern Verhältnissen, je nachdem die Studien glücklich oder unglücklich bestanden werden. Die übliche Frage des Professors vor Schluss der Schule, welchen Lebensberuf wir wählen würden, beantwortete ich statt mit einer längern Abhandlung kurz mit den zwei Versen:

Ich werde Mediciner,
Und zwar ein Wiener.

Die Eltern und Geschwister ließ ich bei dem sie beglückenden Glauben, dass ich von Wien einst mit der geistlichen Würde heimkehren werde ...

Die Ferien, die nun folgten, gestalteten sich ganz dem bedeutsamen Wendepunkte entsprechend, an dem ich vor der Wanderung in die Welt und vor der wirklichen Wahl eines Berufes stand, und die schönsten Ideale wechselten mit trüben Ahnungen wie Licht und Schatten eines ungewissen Sommertages. Dazu kam bereits an einem der ersten Tage nach der Heimkehr von Klattau ein Ereignis, das unser Dorf von einem Ende zum andern in Bewegung setzte und mir, abgesehen von schwerem Herzweh, warnend vor Augen führte, wie grell die Schicksale der Menschen, auch der besten, wechseln und unabwendbar bis ans Ende hasten.

Maxenz, unser früherer Oberknecht, war aus der Fremde wieder heimgekehrt – erblindet, hilflos, bei einer fernen Verwandten, einer armen Ausnehmerin, seine letzte Zuflucht suchend.

Wir hatten uns nach einem sehr heißen Erntetage eben in der Abendkühle auf der langen Bank vor der Haustüre gelagert, und der älteste Sohn eines Bruders ergötzte uns durch Zitherspiel, als Maxenzens Heimkehr und Lage uns mitgeteilt wurde. Ein Ruf der Überraschung und des Mitleids lief durch die Reihe der Versammelten. Maxenz stand bei allen noch im besten Angedenken, und der Gedanke, den einst so rüstigen, wackern Burschen, auf den man wie auf einen Musterknecht hinzuweisen pflegte, arm, elend, hilflos zu wissen, griff allen mächtig ans Herz. Mein Vater erhob sich schnell: »Für den muss gleich ein Trost gefunden werden«, sagte er; und zu mir gewendet, fuhr er fort: »Komm mit, er hat dich lieb gehabt und durch ihn bist du noch am Leben!« Wir schritten eilig durch das Dorf; vor manchem Haus standen Gruppen, die von Maxenz sprachen, und der Bohmann, als er von meinem Vater hörte, dass er für Maxenz was vorhabe, rief erfreut: »Vergelt' euch's Gott! Macht was aus, ich bin auch dabei und will mittun!« ... Wir traten vor die Türe des Häuschens, in dem sich Maxenz finden musste; die Stube war nur schwach und schwankend durch ein Stümpchen Kerze beleuchtet. Wir traten ein. In der Stube befand sich die Ausnehmerin mit ein paar ärmeren Bewohnern der Nachbarschaft, und unter ihnen, die leise und traurig unter einander redeten, saß Maxenz am Tische. Er war in Bauerntracht der Oberpfalz, einen hohen geschweiften Filzhut auf dem Kopf, ein gelb und rot getupftes Tuch sorgfältig um den Hals gebunden, die Brust hinab eine Weste mit Messingknöpfen zu beiden Seiten, darüber eine nicht ganz bis an die Hüfte reichende Tuchjacke; den Anzug vollendete eine lederne, bis an die Knöchel reichende, schon stark abgenutzte Hose und ein Paar mit Nägeln dicht beschlagener Bergschuhe ... Maxenz saß straff aufrecht da mit erdfahlem Gesicht, die erblindeten Augen halb geschlossen. Als die Ausnehmerin meinen Vater eintreten sah und traurig erregt seinen Namen nannte, zuckte es blitzartig über Maxenzens Gesicht, das übrigens ruhig blieb und sachte bleicher wurde. Der rechte Arm des Unglücklichen hob sich ein wenig und streckte sich nach der Richtung hin, aus der die Stimm e meines Vaters kam; dann, als die Ausnehmerin auch meinen Namen nannte und sagte: »Auch der Herr Josef, das Studentl, ist mitkommen!« zog Maxenz rasch aus der Hand meines Vaters die Seinige und streckte sie nach der Richtung aus, woher meine grüßende Stimme kam; seine Hand zitterte, die Ränder seiner Augen röteten sich und wurden feucht – »Beberl«, sagte er mit zuckenden Lippen und suchte zu lächeln, aber schnell sich besinnend, dass er jetzt einen älteren Studenten vor sich habe, verbesserte er sich und setzte hinzu: »Verzeih' – verzeihen Sie – ich bin halt der alte Knüttel noch, der einmal so bäurisch dreingeschlagen; – ja ja, alles in der Welt geht vorwärts – mit mir aber, Beberl, ist's zurückgegangen!« Der Vater und ich saßen schnell neben ihm nieder, sprachen ihm Trost zu und sagten, wie sehr wir uns freuten, ihn wieder zu sehen. Dies löste die starre Fassung, die Maxenz bisher behauptet hatte; zwei schwere Tränen rannen über seine Wangen, und der Kopf neigte sich etwas. Mein Vater begann sofort zu versichern, dass er nicht ruhen und rasten wolle, bis für Maxenz eine Altersversorgung gefunden sei, er wünsche jetzt nur zu wissen, ob der Arme noch einen Schein des Augenlichts gerettet habe. Maxenz sagte, dass ein leiser Schimmer noch geblieben, dass sich namentlich weiße Gegenstände noch etwas bemerkbar machten, weshalb er auch mit Hilfe der hellern Straßen den Heimweg gefunden habe. Das schien einen Plan meines Vaters sofort zur Reife zu bringen, er sagte: »Das ist gut, lieber Maxenz; sei getrost, morgen wirst du hören, was geschehen wird.« Unser Dorf hatte damals noch ausgedehnte Weidegründe für Hornvieh, Schafe und Gänse. Ein Hirte für Hornvieh und Schafe war bereits vorhanden, für die zahlreich gehaltenen Gänse sollte Maxenz aufgenommen werden. In einer von meinem Vater veranlassten Gemeindeberatung wurde der Vorschlag angenommen, Maxenz die Stelle übertragen und ihm eine jährliche Bestallung ausgeworfen; dazu sollte er abwechselnd von Haus zu Haus täglich die Kost erhalten. Maxenz nahm die Stelle an, bezog ein Dachstübchen im Hause der Verwandten und hatte einige Tage entzündete Augenlider – von dem Aufenthalt in freier Luft, sagte er, als man ihn fragte; die Ausnehmerin dachte aber anders, sie glaubte, Maxenz in den Nächten viel weinen gehört zu haben ... Der erste Hirtentag gestaltete sich gar ungewöhnlich. Als Maxenz beim letzten Hause des Dorfes durch einen Peitschenknall das Zeichen des Beginns seines Hirtenamtes gegeben hatte, wurden unter Zulauf von Jung und Alt aus allen Häusern die Gänse auf die Anger getrieben und überwacht, bis Maxenz den Zutrieb durch das Dorf vollendet hatte, was in guter Ordnung geschah. Man hatte ihm für den Anfang einen Knaben mit einem Hündchen zur Seite gegeben, damit er unbesorgt die ersten Versuche in seinem Amte machen könne; aber schon nach einigen Tagen lehnte Maxenz diese Beihilfe ab, da er Dorf und Weideplätze genau kannte, die hellen Geh- und Fahrwege durch den Schein in seinen Augen noch erkennen konnte und durch die meist weißen Gänse und ihr Geschnatter seine beste Hilfe fand. Das Gelingen des Hirtenamtes, die freundlichen Lobsprüche der Männer und Weiber, die reichliche Nahrung, die ihm mittags auf den Weideplatz selbst gebracht wurde, halfen zusammen, den stillen Kummer, der auf dem Unglücklichen einige Zeit schwer gelastet, nach und nach aufzulösen ... Ich besuchte Maxenz schon am dritten Tage seines Amtes, als er im Schatten eines Erlenbaumes seine Mittagsruhe hielt und das gesendete Essen verzehrte. Er war sehr erfreut und gerührt über den Besuch, wischte mit der rechten Hand über den Rasen neben sich und sagte: »Beberl – erlaub', dass ich dich jetzt noch so nenne, wenn wir allein sind – Beberl, Stühle und Polster hab' ich nicht zum Sitzen, aber man ist am End' mit allem zufrieden, was Gott gibt. Setz' dich! Red'! Hör' wie selbst die Gänse schweigen, weil wir wieder beinand sind.« Die Gänse hatten sich in Gruppen weit herum gelagert und hielten Mittagsruhe ... Nun ging's an ein Erinnern an alte Tage; meine Reitkunst beim Ackern wurde gerühmt, des Schecken wurde gedacht, der nach seinem Verkauf drei Nächte lang vor Heimweh gewiehert; an Muckerl, den Taubennarren, wurde erinnert und mir ans Herz gelegt, wenn ich Geistlicher würde, für das Seelenheil des armen Freundes alle Jahre eine heilige Messe zu lesen. »Du wirst doch geistlich?« fragte Maxenz mit Nachdruck. »Kann sein«, sagte ich. »Tu's! Werde geistlich!« rief er: »Tu's dir und den Eltern zu Lieb'! Es ist ein schöner Beruf; gut für dein Seelenheil, auch für dein leibliches Wohlergehen! Dann kannst du mir auch den Gefallen tun, Beberl, und mich dann und wann ins Altargebet einschließen – es lebt und stirbt sich doch leichter, wenn man einen solchen heiligen Freund hat!« Die Ränder seiner Augenlider wurden rot und feucht: »Besonders wenn man's nur zum Gänshirten gebracht hat«, schloss er. Ich suchte ihn zu trösten, wurde aber von ihm unterbrochen, indem er erzählte, wie schwer es ihm geworden, nach seinem Erblinden in unsere Gegend zurückzukehren. »Wenn man irgendwo schon etwas Höheres gewesen – Oberknecht bei euch, das ist schon was – da möchte man sich im Elend nicht mehr sehen lassen; – aber da hab' ich mich erinnert, dass meine Amrei nicht mehr am Leben ist, da hab' ich's doch über mich gebracht und bin zu euch gekommen!« Während ich ihn dafür belobte, tastete er an die linke Seite meiner Weste und sagte: »Studentel und noch keine Uhr, Beberl?« Ich meinte, das habe Zeit, der Vater habe sonst Auslagen genug! Da zog er aus seiner Westentasche eine kleine Uhr mit zwei Gehäusen und steckte sie mir mit großer Dringlichkeit zu. »So trag' die meine, bis du eine hast, ich hab' sie mir vom Lohn bei euch geschafft«, sagte er; »mir nutzt sie so nicht mehr!« Ich lehnte verlegen das Anerbieten ab, bis es so oft und nachdrücklich wiederholt wurde, dass ich fürchten musste, Maxenz durch erneuertes Abwehren aufs Tiefste zu kränken. »Also für die Zeit der Ferien will ich dir den Willen tun«, sagte ich und steckte die Uhr zu mir. »Für diese Freude will ich dir auch eine Freude machen!« rief er, zog aus der Brusttasche seiner Jacke eine Doppelpfeife (sogenannte Schwegelpfeife) und begann mir ganz artige Weisen heiter vorzupfeifen. Das hab' ich »draußen« gelernt, und jetzt bin ich froh darum,« sagte er; »wenn's mich ab und zu an der Herzseite drückt und andere heimsucht, spiel' ich mir und ihnen was vor, und es geht wieder eine Weile, wie Gott will!« ... Wir saßen noch lange traulich beisammen, dann empfahl ich mich und versprach, so oft als möglich zu kommen. Maxenz spielte aus seiner Schwegelpfeife so lange, als er voraussetzen konnte, dass ich ihn höre, dann trieb er seine Herde nahe am Wald hin und bergauf, wo er bis zur Rückkehr in das Dorf zu verweilen pflegte. Die Pfeife hat Maxenz nach und nach sehr beliebt gemacht, und er spielte gerne auf, wo es verlangt wurde; Erwachsene und Kinder tanzten oft bei seinem Spiel und seine Mühe blieb nicht unbelohnt ... Maxenz hat nur noch wenige Jahre gelebt, obwohl er äußerlich rüstig aussah und niemals über Körperbeschwerden klagte; ein stiller Gram scheint ihm doch arg zugesetzt zu haben. Sein letzter Wunsch war, neben »Muckerl, dem Taubennarren« begraben zu werden, wenn auch in ungeweihtem Boden; auch bat er, noch einige Zeit nach seinem Ableben sein Dachstübchen in der gewohnten Ordnung bestehen zu lassen. Nach seinem Wunsch sollten seine Kleider neben dem Tische, an dem er in freien Stunden zu sitzen pflegte, an der Wand hängen, links davon sollte sein Essbesteck (Messer, Gabel und Löffel, die er in einem Futteral stets an der linken Seite der Hose zu tragen pflegte) befestigt werden, rechts neben den Kleidern sollte die Schwegelpfeife an einem Nagel hängen, die Uhr aber sollte mitten auf dem Tische liegen bleiben. »Vier Wochen,« sagte er, »glaube ich, wird meine Seele nach dem Absterben noch in meinem Stübel zu hantieren haben, dann wird sie fortziehn und die Base, meine Erbin, mag alles nehmen, auch mein Erspartes in Papier, Silber und Kupfer – 33 Gulden, 25 Kreuzer, 2 Pfennige ...«


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