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7.
Im Abendstern.

Im Herbst, Winter und Frühjahr war es üblich, nach dem Abendessen eine gemeinsame Andacht zu verrichten. Man kniete an den Wandbänken hin; der Vater als Vorbeter zunächst am großen Ecktisch. Nur die Mutter pflegte zu sitzen. Sie hatte stets eines der jüngsten Kinder, das noch nicht zu Bett wollte, neben sich und überwachte es während des Gebetes. Anderthalb bis zwei Jahre alt, war ich an der Reihe, an solchen Abenden den Schutz und Schirm der Mutterarme zu genießen. Auf der Wandbank, an einem der südlichen Fenster stehend, wurde ich sanft umschlungen und vor einem Fall von der Bank bewahrt. Sprach der Vater allein seine Gebetsformel, so vernahm ich oft eine leise Bemerkung der Mutter, die mich mit seligem Schauer durchdrang. Sie machte mich auf den Abendhimmel, auf die Sterne, insbesondere auf den Abendstern, aufmerksam und bemerkte, der Sternenhimmel sei der Aufenthalt des himmlischen Vaters, der Engel und der guten Menschen, die er zu sich genommen; der Abendstern, der zur Zeit der Abendandacht immer am hellsten leuchtete, sei, flüsterte die Mutter, den guten Kindern zum Aufenthalt bestimmt, die er schon in früher Jugend zu sich genommen. Nun befand sich dem Fenster gegenüber, an dem die Mutter saß, in einiger Entfernung das Försterhaus und neben diesem eine Gruppe von vier gewaltigen Linden, deren vereinigte Äste und Kronen in der Dämmerung wie ein Riesendom gegen Himmel ragten. Je nach seiner Stellung erschien nun der flackernde Abendstern bald rechts, bald links, bald über den Linden; bald stand er hinter den Kronen derselben und wurde nur bei lebhafteren Winden zwischen den Ästen gesehen. Ihn suchte und an ihm hingen meine seligen Blicke an jedem Abend zuerst, und das andächtige Murmeln der Betenden half die Stimmung eigenartig fördern ... Drei Jahre mochte ich alt sein, als ich Augenzeuge wurde, wie der Abendstern der Erde einen neuen Bewohner liebevoll abnahm ... Ein Kindlein war im Ausnahmehaus gestorben. Als es aufgebahrt war, durften wir Kinder kommen, es zu sehen. Still, friedlich, selig lag es da, die Händchen über der Brust, das Köpfchen mit Kunstblumen und die Schultern und die Brust mit Heiligenbildern bedeckt. Wir mussten niederknien und ein kurzes Gebet nachsprechen; als wir uns erhoben, war eine Leinwanddecke über die kleine Leiche gebreitet, zusammengebundene Kornähren wurden in ein Glas mit Weihwasser getaucht und damit einige Tropfen über die Leinwand gesprengt. Als wir gehen wollten, kam vom Ecktisch, wo noch Kränze geflochten wurden, eine weibliche Gestalt zu uns, sagte leise zu mir: »Bleib', Beberl, zeig' den andern Kindern das Engelchen!« Es war das Mühl-Katherl, von dem ich noch viel Gutes zu berichten haben werde. Ich tat, wie es gewünscht wurde, zeigte den immer neu ankommenden Kindern das Engelchen, legte die frisch gebrachten Bilder neben dasselbe, ließ niederknien und beten, deckte dann alles zu und sprengte Weihwasser. Es war ein Amt, das mich hoch ehrte, glücklich machte und doch immer mit leisen Schauern erfüllte ... Abends in der Elternstube, da alles wieder zum Gebet hinkniete und ich, von den Mutterarmen umfangen, am Fenster stand, war mein erster Ausblick nach dem Abendstern, der rechts neben den Linden blinkte:

»Ist's Regerl schon dort?« fragte ich leise, »wie sieht's jetzt aus?«

»Es kommt erst hin, wenn's in geweihter Erde liegt – und so sieht's aus«, erwiderte die Mutter. Sie nahm ein Bild aus ihrem Gebetbuch und zeigte es mir; es war der Kinderkopf eines Seraphs mit blauen Augen, Grübchen in den Wangen, Goldflügeln an den Schultern.

»Werden alle Kinder so im Himmel?« fragte ich.

»Alle braven«, erwiderte die Mutter.

»Dann will ich auch gleich sterben!« rief ich.

»Und die Mutter verlassen?« fiel die Mutter betroffen ein.

Diese Frage ergriff mich seltsam. Lebhaft drückte ich mich an die Seite der Mutter, legte den Arm um ihren Hals und sah bestürzt nach dem Abendhimmel. Das Sterben und Seligwerden geht doch auch nicht so leicht, schien mir aufzudämmern; – die Mutter verlassen – auch den Vater, – Geschwister und Elternhaus, – den Maxenz, die immer so heiter-freundliche Klein-Magd, den Schecken im Stall, den Soltan in der Stube, – immer zahlreicher drängten sich die Dinge vor meinen Blicken, die mir alle so lieb und verlockend vorkamen: Blumen, Libellen, Schmetterlinge, die guten Sachen, die die Mutter kocht und backt – selbst das weiche Bettchen, in dem sich so gut liegen und schlafen ließ – nein, nein – auch bei dem Kinde bewährte sich's, wenn es heißt: Wer das Leben lieb gewinnen will, muss erst in Gefahr sein, es zu verlieren. Die Mutter erzählte mir später oft, ich wäre in der folgenden Nacht lange wach gelegen und nach dem Einschlummern oft wieder wach geworden ... Es lag mir einige Tage auf dem Gemüt, als die kleine Leiche fortgetragen war. Verschwinden – nie wiederkommen – es war ein dunkles Drücken in der Brust, Sehnen, Heimweh, was ich empfand, alles um mich erschien mir in neuem, eigenartigem Lichte. Vom Abendstern nur herübersehen und nicht dabei sein können bei unserm Treiben und Spielen, das schien mir nicht recht vereinbar mit ungetrübter Seligkeit im Jenseits; insbesondere da ich noch lange nach dem Verschwinden des Kindes die tränenfeuchten Augen seiner Mutter sah. Dies bewirkte, dass sich mein Herz ängstlich froh an die kleine irdische Welt um mich schloss. Da bleiben, alles lieb haben, alles festhalten, selbst beim Üblen nicht verzagen – sind ja Vater und Mutter immer zur Hand. – Ähnlich trieb, wogte und dämmerte es in der Kinderbrust – um einen Tag des seligsten Stilllebens bald daraus zu genießen, dem ein Ereignis folgte, das geeignet war, die Kinderseele tief zu erschüttern und zu verwirren ...


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