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19.
Winter-Leiden und -Freuden.

Erschien ein schulfreier Tag im Winter, dann gab es der Freuden und Erlebnisse im Elternhause, wie außerhalb desselben, nicht weniger als am schönsten Sommertage. Morgens nach ausgiebiger Bewunderung der zierlichen und schwungvoll gezeichneten Eisblumen an den Fenstern wurden größere und kleinere Münzen vom Vater erbeten, um sie zu erstaunlich treuen Abdrücken auf den Eisflächen der Scheiben zu verwenden. Die Münzen durften nur warm angehaucht, rasch an das Eis gedrückt und sorgfältig wieder abgenommen werden, und das Bild des Kaisers mit Umschrift oder die Kehrseite mit dem Adler war fertig. Diese Münzabdrücke zerflossen aber bald bei zunehmender Wärme der Stube, dann wurden an deren Stelle, insbesondere nach dem Hofe zu, größere Aussichtsstellen vom Eise frei gehaucht, um zu sehen, ob das Brett mit Futter und Rosshaarschnüren von den Vögelchen, meist Ringelspatzen und Ammerlingen, zahlreich besucht sei. War dies der Fall, so wurde vor das Haus geschlichen, plötzlich in die Hände geklatscht und gesehen, ob einer oder der andere der Vögel in den Schnüren sich gefangen habe. Zappelte einer, am Schnürbrett festgehalten, so wurde der arme Gefangene befreit, frohlockend nach der Stube getragen, im rückwärtigen Fach des Ecktisches in ein Nest getan und reichlich mit Futter versehen. Ein Verbot des Vaters machte der Gefangenschaft der Vögel ein- für allemal ein Ende, zu unserem großen Jammer. Bald aber wusste die Großmutter uns zu trösten, die dem gefiederten Arrestanteil Unterstand gab und ihnen sogar eine Hühnersteige einräumte. Ein besonders aufgeweckter Mitschüler war auf den Einfall geraten, den gefangenen Sperlingen die Flügel zu beschneiden, ihnen aus rotem Wachs Kämme auf die Köpfe zu kleben und sie so wie junge Hühnerchen in der Stube sich herumtreiben zu lassen. Die Sache machte sich zu possierlich, wir ahmten den Einfall sogleich nach und hatten bald eine Spatzen-Hühnerschar von dreißig Kerlchen beisammen; aber ein neuerliches Verbot des Vaters, der dahinter kam, machte dem Unfug wieder ein Ende. Es durften keine Vögel mehr gefangen und ihre Flügel nicht mehr gestutzt werden; die einmal flugunfähigen durften behalten werden, mussten aber reichlich Futter erhalten und, wenn sie starben, ehrenvoll begraben werden. Das gab nach und nach rührende Begräbnisse; die Vogelleichen wurden, auf dem Rücken liegend, schön aufgebahrt, im Sommer mit Blumen und Blättern geschmückt und unter Absingung von Kinderliedern im Garten in sorgfältig gegrabene Ruhestätten begraben ... In meinen Schilderungen der Sitten und Gebräuche ist der Winterfreuden meiner Heimat mehrfach, aber bei Weitem nicht erschöpfend gedacht. Die Schilderungen der Faschingsfreuden, des »Schönheit- und Stärketrinkens«, der Gebräuche der schönen Weihnachts- und Neujahrstage sind noch reichlich zu ergänzen durch Mitteilungen über Spinnstuben-, Lese- und Volksspiel-Abende ... Ich bin weit entfernt, mit vielen anderen der Übertreibung zu huldigen, dass im Volke ein Übermaß von Weisheit, Rechtssinn und Sitte herrsche, aber ich muss bekennen, dass ich noch viel weiter entfernt bin, die Ansicht derjenigen zu Teilen, welche im Volke nur einen Ausbund von Rohheit, Verworrenheit und Gemeinheit sehen. Ein Winterabend könnte manchen Übelwollenden belehren, wie viel mehr Weisheit, Ernst, Humor und Lebensfreudigkeit z. B. in einer Spinnstube entfaltet wird als an Unterhaltungsabenden mit Vorträgen und Gesang in der Stadt. Das fröhliche Völklein der Spinnerinnen, zu denen sich die aufgewecktesten Burschen einfinden, ist an sich schon sehenswert; ergötzliche Schnurren, Neckereien, hell ausklingende Gesänge wechseln ab; zwischen die Speichen der Spinnräder gelegte glühende Kohlen bilden ein artiges Feuerwerk, an dem sich jäh ausschnurrende Speiteufel lebhaft beteiligen; das Schreien und Lachen der Mädchen wird verstärkt, indem die Stubentüre sich öffnet und Burschen mit Larven hereintreten, zwischen den Zähnen glühende Kohlen führend, die durch den Atem angehaucht, den Mund bis zum Rachen wahrhaft erschreckend beleuchten ... Ist frischer Schnee gefallen, der sich leicht ballen lässt, so genügt ein flüchtiger Aufruf, um die Spinnerinnen und Burschen in den großen Hofraum zu locken und eine mörderische Schlacht mit Schneeballwerfen zu entfesseln, in welcher die Mädchen sich durch Tapferkeit und Ausdauer hervortun; gerade die Burschen und Mädchen, die sich am meisten zugetan sind, feuern ihre Schneekugeln am rührigsten gegeneinander, und es gelingt am Schlusse gewöhnlich nur einem konzentrierten Angriff der doch überlegenen Burschen, um die Mädchen zum Rückzug nach der Spinnstube zu bewegen. Eine kleine Bewirtung der Hausfrau pflegt Sieger und Besiegte gewöhnlich sehr zu befriedigen und zu ergötzen ... An Abenden, welche mehr beschaulicher Ruhe gewidmet sind, folgen den geselligen Besprechungen häufig Vorlesungen, die in mancher Hinsicht bezeichnend sind. Biblische Geschichten sind in erster Reihe üblich und immer willkommen. Die rührenden Erlebnisse des ägyptischen Josefs und seines jüngsten Bruders Benjamin können nicht oft genug gelesen werden. Von diesen bis zu den schwerwirkenden Ritter-, Räuber- und Geistergeschichten, die sehr beliebt waren und noch sind, war ein großer Abstand, beinahe so groß, wie von diesen zu den während meiner Jugendjahre äußerst beliebten milden und erbaulichen Jugendschriften von J. Christian Schmidt, die von meinem Vater gerne vorgelesen und von seinen Zuhörern teilnahmsvoll angehört wurden. »Der Weihnachtsabend« war meine Lieblingsgeschichte; wenn er vorgelesen wurde, setzte ich mich gewöhnlich in einen entfernten Winkel der Stube, um nicht beobachtet zu werden, wenn mich die Teilnahme an dem Schicksale des armen wandernden Anton heftig erfasste und mir zahllose Tränen erpresste ... Nun gab es aber auch Winterabende, an denen alle geselligen Versammlungen entfielen und jede Familie einsam und wenig angeregt in ihren Stuben daheim saß. Es waren die Abende zurzeit außerordentlicher Schneefälle und Kälte, die den Verkehr von Haus zu Haus fast unmöglich machten. Ich erinnere mich an Winter, die mit Oktober begannen und im Monat Mai noch nicht ganz zu Ende waren; Mitte Mai stiegen wir Kinder oft noch in Hohlwegen auf klafterhohen gefrornen Schneeschichten umher und feierten artige Schlittenfahrten. Es ist unsagbar, welche Schneemassen an solchen sibirischen Wintern vom Himmel fielen und als gefrorene Schichten übereinander liegen blieben; die Kälte stieg in solchen Wintern manchmal bis zu 29, auch 30 Graden. Allem Leben und Gedeihen schien ein Ende bereitet zu werden; aller Verkehr stockte auf dem Lande; nur einzelne kräftige Männer, in dichte Mäntel gehüllt, die weichen Röhren ihrer Stiefel bis über die Hälfte der Schenkel heraufgezogen, unter ihren Hüten noch Zipfelmützen über dem Kopf und Verbandtücher um den Hals, wagten sich von Ort zu Ort. Waren solche Winter schon für Menschen bedrängnisvoll, so richteten sie unter den armen Tieren, die im Freien leben mussten, wahre Verheerungen an. Krähen, Raben, Elstern umlagerten hungernd die tief eingeschneiten Häuser; Hasen und Rehe, die damals unter herrschaftlicher Pflege reichlich gehegt wurden, schlichen während der Abenddämmerung und Nacht scharenweise in die Hofräume und Gärten und nagten den Bäumen, deren Äste und Zweige auf hohen Schneewehen erreichbar waren, Rinden und Knospen ab. Die Bauern suchten sich für ihren Schaden dadurch zu entschädigen, dass sie in ihren Scheuern Luftlöcher öffneten, die Hasen hineinschlüpfen ließen und mit Knütteln zu Hunderten totschlugen ... Hinderten aber Schnee und Kälte den äußeren Verkehr im Dorf und mit den Nachbarorten, so gestaltete sich das häusliche Leben und Treiben in den abgeschlossenen Höfen umso lebhafter. Wir Kinder waren nie um Spiele und Beschäftigungen verlegen; der Vater und Maxenz nahmen, der erstere in der Stube, der letztere im Stall, ihre »Heinzelbänke« vor und schnitten Schindeln, Rechenstäbe oder verbesserten Schäden an den Hausgeräten; der zweite Knecht und die Mägde mussten in freien Stunden, besonders abends, Bettfedern, die in den Handel kamen, schleißen, an welcher Beschäftigung wir Kinder uns auch gerne beteiligten; war das Abendessen vorüber und für eine gemeinsame Beredung der Hausgenossen keine Anregung vorhanden, so nahm der Vater Anlass, die Abendandacht merklich zu verlängern, so dass wir Kinder, wenn wir nicht früher zu Bett gebracht wurden, am Ende der Andacht gewöhnlich schlafend auf den Knieen oder in einem Winkel hockend gefunden wurden ... Als ein erfreulicher Umstand darf wohl bei dieser Erinnerung an jene sibirischen Winter nicht unerwähnt bleiben, dass die außerordentliche Kälte unserer Gesundheit ganz besonders zuträglich war und aus jenen Tagen mir kein Krankheitsfall im Elternhause oder im Dorfe erinnerlich ist; einzelne Vorfälle, die bewiesen, welche außerordentliche Widerstandskraft die menschliche Natur gegen grausame Winterheimsuchungen besitzt, sind mir aus jenen Tagen schaudernd in Erinnerung geblieben. Den einen dieser Vorfälle will ich hier für den werten Leser einschalten, da er auch Zeugnis gibt, wie selbst an den tollsten Wintertagen zeitweise ein Ereignis dem Volksleben Überraschung und Ergötzen bietet; das Intermezzo folge unter dem Titel:


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