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5.
Vom Gotteshause in die Tempel der Kunst. Hofoper, Burgtheater. »König Lear« und Anschütz.

Meine Mitwirkung im Kirchen-Orchester zu Maria-Stiegen wurde indessen doch fortgesetzt; sie förderte meine Sicherheit und Geläufigkeit im Spiel, aber auch meinen Geschmack und mein musikalisches Verständnis. Letzteres wurde bald noch gründlicher und vielseitiger gefördert, als ich durch die Gunst der Umstände Gelegenheit erhielt, die große Oper zu besuchen.

Das k. k. Hofoperntheater war zu jener Zeit an den Italiener Balocchino verpachtet, und Ritter v. Planer war sein juridischer Beirat, resp. Vertreter. Als ein Beneficium dieser Stellung meines Chefs galt der freie Besuch des Opernhauses, und es genügten zwei Zeilen an die Direktion, um eine Loge oder zwei Parketsitze zu erhalten. Ritter von Planer, von Balocchino selbst oft aufgefordert, benutzte nicht selten die Gelegenheit, eine Opern- und Balletvorstellung zu besuchen, und wenn die Gattin meines Chefs nicht Lust oder Zeit hatte, ihn zu begleiten, so lud er seinen Sohn Theodor und mich ein, seine Loge mit ihm zu teilen. Öfter noch wurde ich eines so kostbaren Vergnügens dadurch teilhaftig, dass Freund Theodor einen Zettel um Loge oder Parketsitze schrieb und seinen Vater bat, das Gesuch zu unterzeichnen; solcher Bitte versagte der Vater niemals seine Genehmigung, seit der Sohn Gesangsunterricht erhielt und ich so eifrig nach musikalischer Ausbildung strebte.

Die Oper war damals von Seite der Direktion wie von Seite des Publikums, namentlich des sogenannten vornehmern Publikums, im Sinne der italienischen Musik und des italienischen Gesanges auffallend gefördert und nicht ohne einige Berechtigung, da die italienische Gesangskunst damals noch auf ihrem Höhenpunkte stand und die Meisterwerke italienischer Komponisten auch das Repertoire der deutschen Oper beherrschten. Zwar gab es den größten und besten Teil des Jahres eine deutsche Saison mit Vorführung der besten heimischen Opernwerke durch Künstler wie: Stöckel-Heinefetter, Staudigl, Wild, Forti, Draxler, Binder; aber Donizetti, Rossini, Verdi waren auch im deutschen Repertoire vorwiegend vertreten und mit der italienischen Saison vom Monate Mai an, die ausschließlich italienische Opern brachte, rückten Gesangskünstler ein, wie: Brambilla, Poggi, Rigamonti, Fachinardi, die außerordentliche, oft fanatische Triumphe feierten, bei denen die damals noch so zahlreich in Wien lebenden Italiener das Hauptkontingent der tobenden Fanatiker bildeten ...

Dass die Liebe zur Musik durch diese mir gebotenen Genüsse nicht zu mächtig wurde und mich von den Hauptaufgaben meines Lebens abzog, davor wurde ich bewahrt durch das Gegengewicht anderer Kunstgenüsse, die ich gelegentlich des Besuches des Hofburgtheaters fand und die bald mächtiger und nachhaltiger wurden als der verführerische Reiz der Musik, trotzdem sich mir der Besuch des Hofburgtheaters nicht so bequem und vornehm darbot wie der Besuch der Oper.

Ritter von Planer war nicht auch der juridische Vertreter des Hofburgtheaters und genoss daher auch nicht die Begünstigung des wenigstens zeitweise freien Besuches dieses Musentempels; es musste also für seinen Sohn und mich bezahlt werden, wenn wir den Genuss des Schauspiels erhalten wollten. Dass dies gerne und oft geschah, hatte seinen Grund darin, dass wir uns zu bescheiden wussten mit Kartell in die 4. Gallerie und dass Freund Theodor, der sich mit dem Gedanken trug, einmal sein Glück als Mitglied der Oper zu versuchen, im Hofburgtheater die besten Muster dramatischer Darstellung fand. Also überraschte mich mein Freund eines Tages mit der Einladung, ihn ins Hofburgtheater zu begleiten, und um mir gleich den höchsten Begriff von der Leistungsfähigkeit dieses Kunstinstituts zu verschaffen, hatte er eine der außerordentlichsten Aufführungen, die des »Königs Lear«, gewählt mit Anschütz in der Titelrolle, Löwe in der Rolle des »Narren«, La Roche als »Kent«.

Um drei Uhr des Nachmittags standen wir bereits im großen Hofraum der offenen Burg-Reitschule vor dem noch geschlossenen Eingangspförtchen des alten Burgtheaters, bald um ringt und bedrängt von einer arg anwachsenden Menge, die gleich uns vor Begierde brannte, einen Platz in den obersten Räumen des Hauses zu erobern. Drei Stunden mussten vergehen, bis das Einlasspförtchen sich öffnete und die Schlacht um Eroberung einer Karte an der Kasse mit Lebensgefahr beginnen konnte. Um sechs Uhr hörten wir endlich den Schlüssel des Pförtchens von innen drehen und das Pförtchen selbst ging auf – aber nach außen – gegen das stauende, wild vorwärts drängende Publikum. Wer nicht in Gefahr kommen wollte, mit der Brust gegen die Kante der Türe gedrückt und tödlich verletzt zu werden, der musste mit aller Macht und Vorsicht an der Türe vorübersteuern, um den schmalen Eingang zu erreichen; aber schon war die Bedingung einer zweiten Lebensgefahr da, die Stufen einer kurzen Treppe, über die man hinabmusste, um zur Kasse zu gelangen. Wer auch über diese Fallgrube hinabkam, ohne übern Haufen geworfen und zertreten zu werden, der stand, mehr getragen als auf festem Boden, nach einigen Stunden an der Kassa, umtobt von einer wild aufgeregten rücksichtslosen Menge, die um Karten schrie und kämpfte. War man so glücklich, auch die Karten zu erobern, so musste man wohl informiert sein, um unter den vielen engen Treppen die richtige zu wählen, die nach den Plätzen des vierten Stockes führte. Freund Theodor war in Folge früherer Besuche wohl vertraut mit der verfänglichen Einteilung der Räume, unter seiner Führung drangen wir also tapfer die schwachbeleuchtete, enge Treppe – ersten, zweiten, dritten, vierten Stock hinauf und suchten gute Plätze zu gewinnen; – eitles Bemühen! Der ganze vierte Stock in seinem Ovalrund war bereits dicht besetzt von Besuchern, die von ihren Protektoren: Billeteuren, Dienern und Beamten des Hauses, lange vor Eröffnung des Theaters heimlich eingelassen worden waren. Was blieb übrig? Nach überstandenen, mehrfachen Lebensgefahren die Karten wieder zurückzugeben und mit dem ungeheuern, durch die Gefahren erst recht erhitzten Drang, zu sehen und zu bewundern, das Haus wieder verlassen? Um keinen Preis der Welt! Freund Theodor, schon oft in dieser Lage, riet, unverweilt das zu tun, was er selbst schon oft getan hatte und was wir eben unter stürmischem Drängen andere tun sahen: – wir kletterten die hinter der letzten und höchsten Sitzreihe angebrachte, vielfach durchbrochene Bretterwand hinauf, fanden, oben angelangt, für die Füße feste Unterlagen, für die Hände an Balken und Brettern halt und einen Ausblick nach der fernen Bühne zwischen den Schultern je zweier Besucher vor uns. Eine Stunde lang standen oder vielmehr hingen wir so an der nicht sehr festgenagelten Bretterwand und dann weitere vierthalb Stunden (bis halb 11 Uhr nachts) während der Dauer der Vorstellung ... In welchem Zustand wir nach nahezu fünf Stunden das Theater verließen? Körperlich allerdings hart mitgenommen und wie aus dem Wasser gezogen, geistig aber in einem Aufschwung der Begeisterung, wie ihn nur das höchste Entzücken der Seele verleihen kann. Anschütz, in männlicher Vollkraft, vollendeter Meister dramatischer Darstellung, mit einer Stimme begabt, die, etwas umschleiert, vom weichsten gewinnenden Tone bis zum überwältigendsten Kraftausdruck der Leidenschaft die ganze Skala der Gemütsbewegungen unvergleichlich anzuschlagen verstand, ragte, wie es auch in seiner Rolle lag, so außerordentlich aus dem, an sich selbst geradezu klassischen Ensemble, empor, wie ich später keinen Schauspieler mehr (und ich sah die besten »Leare«) alles um sich in Schatten stellen sah. Von der leichtfertigen Beweglichkeit des reizbaren greisen Lear, der seine Macht und Krone nach augenblicklicher Laune verteilt, durch alle Abstufungen des Ärgers, Zorns, der aufflammenden Wut, Verzweiflung, Seelenverdüsterung hindurch bis zur herzbrechenden Rührung bei später Rückkehr seiner Liebe zu der erst geistig in Verklärung, dann in himmlischer Sanftmut leiblich erscheinenden guten Tochter Cordelia, ist das Äußerste an erschütternder Naturwahrheit, Treue und Kraft geleistet; und wenn ich eines Momentes, des außerordentlichsten in dem gewaltigsten aller Bühnenstücke, nachträglich erwähne, so geschieht es nur, um hervorzuheben, dass der Dichter wie der Schauspieler hier das Äußerste, von andern nicht mehr zu Erreichende erzielt haben. Ich meine die Szene des fünften Aktes von dem Herbeibringen der ermordeten Cordelia bis zu dem jähen Tode Lears, der an gebrochenem Herzen stirbt. Lear bringt die tote Cordelia auf den Armen –

»Heult! Heult! Heult! Heult!«

ruft er in wahnsinniger Verzweiflung und legt den Leichnam neben sich auf den Boden.

»O, ihr seid all' von Stein!«

klagt er gegen seine Umgebung:

»Hätt' ich nur Aug' und Zunge nur, mein Jammer
Sprengte des Himmels Wölbung!«

(Wieder zur entseelten Cordelia gewendet)

»Hin auf immer!«
(Von einem Hoffnungsstrahl erleuchtet:)

»Gebt 'nen Spiegel her;

Und wenn ihr Hauch die Fläche
trübt und streift, Dann lebt sie!«

Nachdem die Anwesenden Kent, Edgar und Albanien ihrer Erschütterung Ausdruck gegeben:

»Die Feder regte sich, sie lebt! O, lebt sie, –
So ist's ein Glück, das allen Kummer tilgt,
Den ich jemals gefühlt!«

Kent lässt sich auf ein Knie nieder und beginnt sein schmerzliches Beileid auszudrücken, aber Lear hält Cordelien jetzt wieder für tot und weist ihn heftig fort:

»Fluch über euch, Verräter, Mörder, all',
Ich konnt' sie retten; nun dahin für immer!
Cordelia, Cordelia!«

(Wieder glaubt er ein Lebenszeichen zu gewahren:)

»Wart' ein wenig, ha!
Was sprachst du?

(zur Umgebung) Ihre Stimme war stets sanft,
Zärtlich und mild; ein köstlich Ding an Frau'n –
Ich schlug den Sklaven tot, der dich erhängt!«

(Zwischenspiel mit der Umgebung; Erkennung Kents, dann wieder zu Cordelia gewendet:)

»O seht! O seht!
Und tot, mein armes Närrchen? Nein! Kein Leben!
Ein Hund, ein Pferd, 'ne Maus soll Leben haben,
Und du nicht einen Hauch? – O, du kehrst nimmer wieder,

Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals! –
(Auf seine Brust deutend:)

Ich bitt' euch, knöpft hier auf – Ich dank euch, Herr –
Seht ihr dies? Seht sie an! – Seht ihre Lippen,
Seht hier – seht hier« – – – (Er stirbt) ...

Diese in jäher Sprunghaftigkeit markerschütternd sich folgenden Gegensätze bildeten die Krone schauspielerischer Meisterleistung des Lear-Darstellers Anschütz.


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