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8.
Still und bewegt.

Ein rechter Kindertag war gekommen. Wir waren auf acht Geschwister angewachsen, alle zu Hause, da es ein schulfreier Tag war; das Jüngste lag in der Wiege. »Wo Tauben sind, fliegen Tauben hin«, sagt das Sprichwort, darum sammelten sich auch gerne die Nachbarskinder bei uns, besonders heute. Wir setzten uns erst auf die Wandbänke herum und spielten: »Ich seh', was du nicht siehst«; dann lockte uns das »Rätselaufgeben«; endlich wurde der Kehrbesen sechsspännig bespannt und unter wildem Fuhrmannsgeschrei in der Stube herumgezogen. Die Mutter hatte schon wiederholt ermahnt, nicht so vorlaut zu sein und lieber im Freien zu spielen. Da es immer ärger wurde, griff sie nach dem unfehlbaren Mittel, sich Ruhe zu verschaffen, sie ging nach der Kammertüre und holte einen Kochlöffel aus dem dort hängenden Behälter. Sofort schwoll es an der Stubentür von Flüchtenden; alles wollte zugleich nach der Vorhalle ins Freie, wobei nur die Letzten zum Handkuss kamen und draußen zu dem Schaden auch noch den Spott tragen mussten. Das hinderte jedoch nicht die fröhliche Spiellust, und der Anger wiederhallte alsbald vom tollsten Treiben, an dem ich aber nicht teilnahm, da ich zu den kleinen Versprengten gehörte, die nicht mit dem Tross geflüchtet waren, sondern unter Bänken und Tischen schützende Verstecke gefunden hatten. Ich saß unterm großen Ecktisch, den Soltan als Deckung neben mir, um abzuwarten, bis es wieder geheuer werden würde, als die Mutter zwei ältere Brüder hereinrief, ihnen einen Teil des Mittagessens für die Feldarbeiter übergab und sich anschickte, mit dem Rest des Essens selbst auf das Feld zu folgen. »Beberl!« hörte ich sie noch rufen, bevor sie ging: »Bleib' schön daheim, wieg' das Schwesterchen, bis ich wieder komm'!« Die Stimme klang liebevoll, wie immer. »Ja«, sagte ich ganz glücklich und kroch hervor. Die Mutter strich mir im Vorübergehen noch den Scheitel, sperrte dann den Stall von innen, die Haustüre von außen zu und ging mit den Brüdern nach dem fernen Bergfeld ... Das war die Lage, in der ich mich am wohlsten fühlte. Lautlose Stille umher, geheimnisvolle Geister schienen durch die Räume zu schleichen, hie und da knisterten Bretter und Balken, die Katze steckte den Kopf durch die halb offene Kammertüre und schaute mit glühenden Augen aus dem Halbdunkel; – froh-schauernd überkam mich's, herumzuspähen, an Lieblingsstellen zu schleichen, zu klettern und zu untersuchen, was ich sonst nur aus der Ferne sehen durfte. Aber das Schwesterchen in der Wiege regte sich; ich eilte hin und schaukelte, bis es wieder einschlief. Es ruhte so selig und sah dabei dem jüngst aufgebahrten Kindlein im Ausnahmshause ähnlich. Da trieb es mich, es auch so schön zu machen, wie das Engelchen im Abendstern. Ich holte das Gebetbuch der Mutter, nahm die schönsten Bilder in Gold und Farben heraus und legte sie um das Köpfchen, auf die Decke über Brust und Schultern; das Schwesterchen erwachte nicht, selig lächelnd schlummerte es weiter. Nun war mein Drang, herumzuspähen, wieder da. Ich kletterte auf den kleinen Ecktisch; noch etwas höher, auf den Geschirrschrank, hob mich auf die Fußspitzen, langte nach dem Bändchen am großen Uhrkasten, zog an – und die Spieluhr – die Gabe eines Händlers, der nicht zahlen konnte – fing wie üblich zu röcheln an und spielte dann hell und munter den Ländler aus dem Freischütz. Erschrocken und glücklich starrte ich eine Weile zu dem Zifferblatt auf, das keine Miene verzog, und kletterte dann sachte wieder in die Stube nieder. Das Schwesterchen war nicht wach geworden; nun schlich ich weiter. In der halbdunklen Kammer sahen jetzt die Augen der Katze hellglimmend und groß vom Treppenmäuerlein herunter. Ich schlich ein Häuschen weiter nach dem Schlafstübchen der Eltern. Dort war der Magnet, der mich anzog. Die Stelle am Bett der Mutter, wo der Zug des Morgenglöckleins zu erreichen war, das den Tag ankündigen und Knecht und Mägde zu wecken pflegte. Mein Seligstes, läuten zu dürfen nach Lust und Muße, war mir jetzt beschieden; ich musste das Vergnügen arg genossen haben, denn ich hörte später, dass am Elternhaus Vorübergehende stille standen und sich erkundigten, was im Hause los sei? Doch war auch diesem Drange endlich Genüge getan. Ich ging nach der Stube zurück, um zu sehen, ob das Schwesterchen noch schlafe. Es schlief noch. Da zog es mich nach der Kammer zurück, ich kletterte die Holztreppe der Kammer hinauf und weiter über zwei vorspringende Balken, die einen Oberboden trugen, der das Ziel geheimer Sehnsucht war. Erst zweimal hatte ich die gefährliche Stelle erstiegen; ein Fehltritt – und ich musste mich tot fallen vom Oberboden die Treppe hinab nach der tiefliegenden Kammer ... Aber da war ich glücklich droben und mitten unter den Merkwürdigkeiten, die hier verborgen und vergessen herumlagen: gesammelte Hopfenköpfe, vertrocknetes Obst, zerbrochene Spinnräder, Bilderrahmen mit Stücken von Glasgemälden und das halbe gläserne Zifferblatt einer alten Wanduhr. Ich legte mich der Länge nach über die Merkwürdigkeiten hin und war ganz Erstaunen über das, was ich sah, besonders über die Art und Wirkung der Malerei auf den Glasstücken. Auf der Rückseite war ein verworrener Klecks, als habe man eine Wolke malen wollen und auf der Vorderseite erschienen klar und hell in verschiedenen Farben Teile von Heiligengestalten und Landschaften; die römischen Ziffern auf der Uhrplatte erregten meine besondere Verwunderung. Ich wendete das Glas nach vorn und rückwärts – es war und blieb unfassbar: rückwärts ein roher dunkler Farbenstrich – vorne ein römisches V von entzückender Reinheit. Wer kann das? Wie vollbringt man das? Wo ist die Wunderwelt, die so was kann? ... Ein leises Geräusch weckt mich aus dem Erstaunen. Die Katze ist mir nachgeschlichen und schaut vom Dachbalken mit grünglühenden Augen auf mich nieder, den ungerufenen Gast in diesem geheimnisvollen Winkel ihrer stillen Jagden. Da vernehme ich ein leises lockendes Pfeifen, ich springe auf, die Katze glaubt sich bedroht, ist mit einem Satz durch die Dachlucke und zieht sich gegen den Schornstein zurück; meine Forschung aber ist nach dem Dach des Nachbarhauses gerichtet. Von dort, durch ein Dachfenster, kommt das lockende Pfeifen, dann taucht ein Kopf durch das Fenster des Nachbardaches auf, bedeckt mit einer weißen Zipfelmütze, die über und über mit roten Täubchen bedruckt ist; es ist der Nachbarknecht, Muckerl, der Taubennarr, der bis an die Brust empor taucht. Er hat einen freien Augenblick benützt, um seine Lieblinge zu rufen, zu sehen, etwas Futter auszustreuen – um dann schleunigst wieder zur Arbeit zurückzukehren, nachdem er dem Heranflattern und Tummeln der Tauben eine Weile zugesehen; – das neuerworbene Lieblingspaar war auch darunter ... Wie hätt' ich dieses Paar mit gar anderen Augen betrachtet, wie es so munter unter den übrigen Flügelgenossen sich herumtrieb, Körner haschte und die Nähe Muckerls suchte, wenn ich das tragische Schicksal hätte ahnen können, das dem schönen Paare, wie seinem Gönner und Freunde – dem Muckerl – bevorstand. – Eine Täuschung entführte mich bald von der Dachlucke, denn ich glaubte durch die Bodentüre herauf zu vernehmen, dass das Schwesterchen erwacht sei und weine; da war Eile nötig und Vorsicht, die Balken und steile Treppe glücklich hinabzukommen. – Es gelang und zwar in dem Augenblicke, als die Mutter vom Felde wieder zurückkam ... Das Schwesterchen war nicht erwacht; die Mutter fand es noch ruhig schlummernd, mit den Bildern ihres Gebetbuches geschmückt. »Du getan?« fragte die Mutter mit einem betroffenen Blick auf das Kind: »Warum?« »Es hat auch so schön sein sollen wie das Regerl im Abendstern!« Die Mutter nahm rasch die Bilder weg, erklärte, warum ich das Schwesterchen nicht mehr so schmücken solle –, »es könnte leicht eine Vorbedeutung werden – und jemand sterben«, sagte sie ...

Die gute Mutter! Es war eine Vorahnung, in der sie sprach; denn wirklich – starb jemand bald darauf – jemand, von dem es keine Seele erwartet hätte! ... Mich überläuft's noch heute, wenn ich daran denke!!!

Es war an einem Montag, gegen Abend; wir hatten uns eben zu Tische gesetzt, als die erschütternde Nachricht kam: – »Eben ist er gefunden worden,« hieß es: »Auf dem Strohboden beim Nachbarn liegt er, mit der Schnur eines Häckselsackes hat er's getan, der Kleinknecht habe ihn entdeckt, abgeschnitten und sei dann vor Entsetzen die Stiege hinab gefallen!«

»Wer? Wer?« hieß es von allen Seiten –

»Der Muckerl« – erfuhr man nach einigem Zögern –

»Der Muckerl?« wiederholte Maxenz mit schreckhaftem Tone, sprang auf und eilte aus der Stube; – war ihm doch der einzige und beste Freund gestorben ... »Warum?« Weil er auf erschütternde Weise um sein Liebstes auf Erden, um sein schönstes Taubenpaar – und zugleich um seine geliebte alte Mutter gekommen war! ...

Er hatte sonntags zuvor sein Lieblingstaubenpaar seiner Mutter in einem Nachbardorfe zu besonderer Pflege überbracht und sich für diesen Tag zu Gast geladen. Vor Mittag besuchte er noch den Knecht eines Nachbarhofes, und als er zurückkam, begrüßte ihn seine gute, aber vor Alter halb blödsinnige Mutter mit seltsam grinsender Freundlichkeit, sagte, was sie ihm für eine Mahlzeit bereitet habe, er möge die Herrlichkeit nur sehen – und setzte ihm – die zwei Lieblingstauben – gebraten auf den Tisch! ... Der Schmerz und die Verzweiflung Muckerls waren unbeschreiblich und wirkten auf die alte Mutter so erschütternd zurück, dass diese, vom Schlage gerührt, plötzlich tot zu seinen Füßen fiel ... Nun war es aus mit allem, was die Erde für den armen Muckerl noch Liebes gehabt. Wie im Wahnsinn stürmte er von der Leiche weg ins Freie, nach dem Orte und Hofe seines Dienstherrn zu und legte Hand an sich selbst …

Es dauerte Wochen und Monate, bis sich das Entsetzen schwächte, das uns alle ergriffen hatte. Am ersten Abend wagte man sich kaum zu Bette in den dunklen Räumen des Hauses. Mein Vater musste sich ernstlich ins Mittel legen, um eine gefasstere Stimmung herbeizuführen; doch wollten die Mahnungen des Vaters bei Maxenz am wenigsten verfangen. Maxenz war der vertrauteste Freund des Verunglückten, sie hatten die trostreichsten Stunden miteinander zugebracht, gegenseitig ihr Innerstes kennen gelernt. Maxenz war daher von dem Tod des Freundes am gewaltigsten ergriffen; sein Weh, wenn auch nicht laut, so doch tief erschütternd. Es wurde mir unheimlich, wenn mich Maxenz nach dem Futterkasten zog und Seltsamstes mit gepresster Stimme sprach, davon ich wenig oder nichts verstand. Es sind mir nur Worte und Andeutungen geblieben, die von Armen und Verlassenen handelten, auf die sich Leid und Not wie Felsblöcke wälzen, die nicht Trost und Hilfe finden. Die Welt kam schlecht weg, und der Himmel musste harte Worte hören. Dass Muckerl bei Nacht und Nebel zwischen vier ungehobelten Brettern fortgetragen und in einem ungeweihten Winkel des Friedhofs eingegraben, das Grab mit Scherben beworfen wurde, presste Maxenz wilde Rufe des Ingrimms und Abscheus aus. Daher ging er auch jeden Sonntag nach dem unheimlichen Friedhofswinkel und legte Wiesenblumen, im Winter mindestens Tannenzweige auf den Hügel Muckerls – »damit die Welt doch sehe, dass der Unglückliche da drunten einen treuen Freund auf Erden zurückgelassen habe.«


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