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21.
Von Geschwistern. Wandel in Wünschen und Träumen.

Ich habe das Leben im Dorf ein erweitertes Familienleben genannt und darf wohl im Hinblick auf Lebensweise und Ereignisse, die der ganzen Gegend gemeinsam sind, von einem erweiterten »Dorf-« oder »Heimatleben« sprechen; in Sitten und Gebräuchen, in Arbeiten, Denk- und Fühlweise prägt sich das Gemeinsame des Heimatlebens, das eigenartige Volkstum einer Gegend, vielgestaltig und farbenreich aus. Hier wäre nun, nachdem ich dem Leben im Elternhause ausführlich und nebenbei auch dem Leben im Dorfe flüchtig Ausdruck gegeben, der geeignete Moment, dem Heimatleben eine anschauliche Schilderung zu widmen, um zu zeigen, unter welchen engern und weitern Lebenserscheinungen ich geboren worden und herangewachsen bin; allein eine solche Schilderung würde zu weit führen und von dem Zwecke dieses Büchleins ablenken. Es genüge daher der Hinweis auf die Schilderungen des Volkslebens »Aus dem Böhmerwalde«, welche ich vor Jahren verfasst und herausgegeben habe, um durch gelegentliche Lektüre jener Schilderungen zu ergänzen, was in der vorliegenden Darstellung nicht wohl Platz finden kann. Dieser Hinweis gestattet mir, bei dem Gegenstände dieses Büchleins, meinem Elternhause und dessen Bewohnern und Ereignissen, zu verbleiben, und ich beginne mit einer Erinnerung an die bisher nur flüchtig erwähnten Geschwister, deren ältestes natürlich den geziemenden Vortritt hat. Der Erstgeborene erschien etwa zwölf Jahre vor mir auf der kleinen Bühne unsers Lebens und hieß Andreas. Er war insoferne vom Glück begünstigt, als seine Geburt in eine Zeit fiel, in der die Eltern sich einiger fruchtbarer Jahre erfreuten und der Kinderzuwachs noch in ungewisser Ferne lag. Die Mittel reichten also ganz wohl aus, den Erstgebornen studieren zu lassen; er erhielt die nötige Vorbereitung, besuchte und absolvierte das Gymnasium in Klattau, bezog die Universität in Wien und erwählte dort nach den philosophischen Jahrgängen statt des Studiums der Theologie zur stillen Betrübnis der Eltern das Studium der Medizin und zwar als Zögling des damals in hohem Ansehen stehenden k. k. Josefinums, das zur Ausbildung von Militärärzten gegründet war ... In meiner Erinnerung hat sich das Bild des Bruders festgesetzt und wohl erhalten aus den Tagen, da er als Studentlein seine Ferien im Elternhause zu verleben heimkam. Andreas war eine hübsche Erscheinung, über mittelgroß, dunkelblond, mit kräftigen breiten Schultern. Über den immer frischen, leicht geröteten Wangen leuchtete ein Paar dunkelbrauner seelenvoller Augen. Aus diesen Augen sprachen Charakter, Geist und Gemüt. Seinen Studien entsprach der Bruder ohne Anstrengung, und während die Väter einiger Kollegen zu Beginn der Ferien mit ihrer Besorgnis über den Fortgang ihrer Söhne nicht zurückhielten, sah mein Vater dem Zeugnis meines Bruders jedes Jahr mit Ruhe entgegen; und er täuschte sich nie. Zu diesem Bruder nun musste mich zur Zeit der frühesten Kindheit eine tiefe Neigung und Verehrung hinziehen; wenn seine Heimkehr erwartet wurde, saß ich oft schon Stunden lang auf dem Feldrain einer Anhöhe und spähte nach einem Föhrenwäldchen, an dessen Rande er hervortreten musste. Erschien er nun, ein Ränzchen umgehangen und den Spazierstock in der Hand, da war ich lautlos in der Höhe und sprang ihm entgegen, die Augen feucht von kindlichem Entzücken. Hand in Hand mit ihm, alle paar Schritte glückselig zu ihm aufblickend, legte ich dann den Weg nach dem elterlichen Hause zurück und war voll seliger Rührung, wenn die Nachbarn auf den Feldern, die herzuspringenden älteren Geschwister und endlich Vater und Mutter das heimkehrende Studentlein herzlich grüßten. Auch so ein Studentlein zu werden, auch so willkommen heimzukehren und freundlich begrüßt zu werden, war der tiefinnigste Wunsch meines Kindesherzens, den ich aber geschämig nicht zu äußern wagte, bis von anderen Leuten halb scherzhafte Äußerungen fielen, es werde wohl nichts übrig bleiben, als dass ich auch studiere – weil ich daheim, auf Wanderungen durch die Felder und in den Wald an der Hand des brüderlichen Studentleins unzertrennlich zu finden war. Die erste ähnliche Äußerung im Elternhause kam über die Lippen des Vaters, als eines Tages Eltern, Geschwister und ein paar Nachbarn um den Ecktisch saßen und ich, dem Bruder Andreas zunächst gerückt, andächtig aufsah und jedes Wort des Letzteren begierig hörte. Plötzlich legte sich eine Hand an meinen Scheitel, und der Vater sagte lächelnd zu dem Bruder: »Wenn wir gute Jahre haben und du kannst einmal was für den Beberl tun, so könnten wir ihn in Gottes Namen auch in die Studie geben!« Der Bruder sagte: »Gern will auch ich was für ihn tun«, und sah lächelnd zu mir nieder. Die Versammelten nickten Beifall und lachten zum Teil wie über einen Scherz, der mich glücklich machen sollte; der Maxenz, der von dem Vorfall hörte und mich nachmittags zu sich auf den Futtertrog hob, bemerkte ganz ernsthaft: »Alsdann studieren sollst du, Beberl? Weißt du, dass ich jetzt weiß, wo du in Klattau als Studentlein wohnen wirst?« »Wo?« fragte ich sehr gespannt. »Am Reichstor, rechts in der Flohgasse Nummer 1450, Sonnenseite.« Ich sprang vom Futtertrog und rannte fort, in der Bemerkung Maxenz' eine schelmische Ironie ahnend. Der Kleinknecht hatte die Bezeichnung meines Studentenquartiers gehört und verbreitete den Scherz im Hause und in der Nachbarschaft; ich hatte Jahre lang, zum Bedauern des Maxenz, unter seiner scherzhaften Äußerung zu leiden, doch fand ich Trost in den Bemerkungen des Bruders, der mir ernstlich versprach, mir später zum Studieren zu verhelfen, wenn ich recht brav bleiben und in der Schule fleißig lernen würde; selbst in seinen Briefen an den Vater fehlte selten ein besonderer Gruß an den »Beberl«. Allein Zeit und Umstände drängten nach und nach die »Flohgasse« und den Gedanken an das Studium in den Hintergrund, da die Zahl der Geschwister sich mehrte und Elementarunfälle, Missernten und Hagelschläge sich einstellten. Der Bruder hatte das Gymnasium inzwischen verlassen und die Universität in Wien bezogen; er kam nur selten mehr nach Hause, da er die Ferien öfter bei einem befreundeten Geistlichen in Niederösterreich verlebte; doch griff auch Leben und Umgebung in meine Gedanken und Ideen leise umwandelnd ein, das Volksleben mit seinen frischen und vielfach ergötzenden Auftritten trat dem Herzen immer näher und hielt die Ereignisse, die in der Welt vorfielen, in dunkler gleichgültiger Ferne. Heimat, Heimatleben und die Vorfälle im Elternhause waren dem Herzen über alles lieb geworden und beherrschten meine Neigungen und Wünsche, besonders seit auch drei andere Brüder herangewachsen waren und an den Sitten und Gebräuchen Anteil nahmen. Wenn diese Brüder an Sonn- und Feiertagen in der üblichen Volkstracht, roter Seidenweste, schwarzen hirschledernen Kniehosen, weißen Strümpfen und Schuhen in der Stube erschienen, war ich ganz Bewunderung; wenn sie dann im Rock und den mit einigen Blumen geschmückten Hut auf dem Kopf nach der Kirche gingen, hing ich mich stets an die Hand des einen oder andern, um eine kleine Strecke mit zu wandern. War im Dorf Musik, da wollte ich die Brüder tanzen sehen und wusste mit einigen Kameraden, knapp bei den Musikanten, ein Winkelchen aufzufinden und zu behaupten. Die Musik erhöhte das Glück und den Wunsch, einmal, größer geworden und auch so schön gekleidet, mitzutun. Nachts, wenn die Burschen jauchzend und singend durch das Dorf zogen, horchte ich im Bette aufrecht sitzend und glaubte die Stimmen der Brüder herauszuhören. Auch da einmal mitzutun, erschien höchst anziehend; und als mein älterer Bruder beim Pfingstwettrennen teilnahm, der Erste über's Ziel hinschoss und dann die Feststange mit der Fahne und den Preisen schwingend, belobt und bejubelt unter Musik in großem Gedränge nach dem Dorfe zurückritt, war ich außer mir vor Entzücken und musste öfter unter den Pferden hervorgeholt werden, um nicht zertreten zu werden, denn ich wollte immer zunächst neben unserm »Schecken«, auf dem der Bruder saß, mich durchdrücken. Wie schön, wie erhebend war das alles; Schöneres konnte die Welt nirgends bieten – darum wollte ich der Heimat für immer treu bleiben und in ihr glücklich werden, wie ich die Brüder glücklich sah und alle daheim glücklich wähnte. In jener Zeit spielten einige Vorfälle in unser heimisches Leben herein, die nicht den Eindruck machten, als ob in der Welt sich erbauliche und verlockende Dinge ereigneten. Eines dieser Ereignisse folge hier unter dem Titel –


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