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18.
Dorfschul-Erlebnisse im Winter.

Der Winter, diese grimme Jahreszeit für lebende Wesen, war für uns Kinder doch eine Zeit großer Zerstreuungen und Freuden, selbst bei Wanderungen nach der fernen Schule. Morgens, in voller Dunkelheit, wenn es bei herrschender Windstille dicht und unablässig schneite, war es ein durchschauerndes Vergnügen, in dem lautlosen Flockenfall dahinzuwandern und sachte aus den Taschen die am Vorabend auf dem großen Kachelofen gerösteten Rübenspältchen zu genießen; wurde es lichter, so reizten die aufgehäuften Schneewände, mit ausgebreiteten Armen rücklings an sie hinzusinken lind Leibesabdrücke darin zurückzulassen. War es sehr kalt und rundete sich der Schnee zu Kügelchen, die der Sturm schmerzlich gegen das Gesicht trieb, da war dem Kindervergnügen freilich wenig Anlass gegeben, aber eine heitere Seite wurde dem Übel doch abgerungen, indem wir uns im Gänsemarsch ordneten, die größten voran, die kleineren eins hinter dem andern drein, wodurch wir, mit Ausnahme des Allervordersten, die Annehmlichkeit erzielten, dass wir Stirne und Gesicht hinter den Rücken der Vorschreitenden gegen Sturm und Schneegeschosse leidlich schützen konnten. Aber oft, erinnere ich mich, wurden Kälte und Schneesturm derart streng und erbarmungslos, dass wir die Lebenskraft erstarren fühlten und für Augenblicke Schutz suchten selbst nur hinter einem Zaun oder einem höhern Fahrwegrand. Besonders willkommen war uns in solchen Fällen eine kleine Kapelle, die zwischen unserm und dem Pfarrdorfe am Feldweg steht. Hinter dieser Kapelle kauerten wir dann eine Weile lautlos und enggedrängt, nur froh, vor den Eiskrallen des Sturmes die Gesichterchen bergen zu können, die dann wieder Wärme fingen und wie Feuer zu brennen begannen. Ersatz für diese Unbilden fanden wir wieder an Wintermorgen, die, windstill und milde, die Wanderung nach der Schule besonders anziehend machten. Der Mond stand oft noch am Himmel, auf der ruhigen Schneelandschaft zeichneten sich die Linien der Wege etwas dunkler ab und hinter uns folgten Scharen von Raben und Elstern, die gewohnt waren, von uns gefüttert zu werden. Gesottene Kartoffeln, die wir mitführten, wurden zerdrückt und entlang des Weges gestreut; die Gefolgschaft, die sich knapp hinter uns fressend, kreischend und flatternd sammelte, diente uns zu großem Ergötzen und folgte uns oft bis vor den Eingang in die Schule ... In dieser selbst bot der Winter manches Eigene und den Kindern immer Willkommene. Der große, wohlgeheizte Kachelofen war von festem Holzgitter eingefasst, auf das wir sofort nach der Ankunft kletterten und in drastischen Gruppen hingen, zappelten, ruhten. Kurz vor Beginn des Unterrichtes flog dann die Türe des Schulzimmers auf und die »Herr Lehrerin«, wie man die Mutter des unverheirateten Lehrers nannte, kam fliegenden Schritts herein, in der Hand einen brennenden und rauchenden Wacholderbusch, den sie, durch die Gänge zwischen den Bänken eilend, lebhaft drehte und schwang, um die Schulstube gesund und angenehm zu durchräuchern. Das tat auch not; denn die Schulstube wurde im Winter an ganzen Unterrichtstagen nicht gelüftet, es sollte an Holz gespart und den Kindern aus fernern Orten, die auch über Mittag in der Schule blieben, an Stubenwärme das Nötige erhalten werden. zu den über Mittag bleibenden Kindern gehörten auch die unseres Dorfes. Wir brachten daher an sehr kalten Tagen unser Mittagessen: übliches Gebäck, Butterbrot oder sonst ein Gericht, das kalt zu essen war, gleich in die Schule mit oder es wurde uns von ältern Brüdern oder Knechten kurz vor Zwölfuhrläuten das Nötige in die Schule nachgebracht. Wie oft wurde da die Schultüre sacht geöffnet, ein freundlich-errötender Kopf steckte sich dazwischen und richtete die Augen nach meinem Platze; es war Maxenz, der mir in einem Tuch mein noch warmes Gebäck nachbrachte ... Schloss nun der Lehrer um elf Uhr den Unterricht und entfernten sich die Kinder des Schuldorfes, da entstand unter den zurückbleibenden ein fröhlicher Tumult, die mitgebrachten oder nachgesendeten Nahrungsmittel wurden hervorgeholt, gegenseitig versucht oder auch ausgetauscht, dann bestieg man die Bänke und saß einzeln oder in Gruppen herum oder erkletterte wieder das Holzgitter am Ofen, immer jubelnd, lachend, essend, mitunter auch durch kleine Balgereien die vom ruhigen Sitzen steif gewordenen jungen Glieder frisch und gelenkig machend. Der Beginn des Nachmittags-Unterrichts führte nach einer Stunde die übliche Ordnung wieder her, bis um drei Uhr das Schlussgebet gesprochen und die Türe der Schulstube ausgemacht wurde, durch die wir, wie erlöst von beschwerlichem Zwang, ins Freie stürmten und ohne Unterlass den morgens zurückgelegten Weg nach Hause eilten – wo nach flüchtigem Genuss des in der Ofenröhre warm gestellten Mittagessens die Winterfreude erst recht ihren Anfang nahm mit Schleifen, Schlittenfahren und Schlachtenliefern mittelst Schneeballen. Die Abendglocke mahnte endlich zur Heimkehr, und in der Elternstube hatten sich inzwischen die an jedem Abend erscheinenden Nachbargäste eingefunden zu ernsten und heitern Gesprächen, zu Mitteilungen über die neuesten Ereignisse des Dorfes und der Gegend, zu Erzählungen von Ritter- und Räubergeschichten und insbesondere zu Erinnerungen an die großen Hungers- und Kriegsjahre zur Zeit der Herrschaft des Länder und Völker überwältigenden Antichrists, des Soldaten-Kaisers Napoleons des Ersten. Bei letzteren Erinnerungen war mein Vater stets in seinem Element und seine Art zu erzählen bot gar drastische Schilderungen von Durchmärschen, Scharmützeln, Brandschatzungen, Einquartierungen, Land und Leute ausplündernden Kriegeslagern. zu solchen Schilderungen war mein Vater reichlich ausgerüstet durch Erlebnisse aller Art, die oft sogar sein Leben gefährdeten. Denn war ein Durchmarsch der Franzosen angemeldet, so flüchtete Jung und Alt nach den nächsten Wäldern und mein Vater musste unter Beistand von ein paar beherzten Nachbarn und einer alten, riegelsamen Dienstmagd, für Hunger und Durst der Feinde, die immer sehr groß waren, Sorge tragen, durch kluge, maßvolle und eindringliche Vorstellungen den Zorn aufbrausender Offiziere beschwichtigen, wenn die geforderte Brandschatzung absolut nicht beizuschaffen war und beim Suchen nach Schlachtvieh und Futtervorräten Ställe und Scheunen leer gefunden wurden. Kleine Geldgeschenke, die meinem Vater unter der Hand immer zur Verfügung standen, mussten schließlich dort das Äußerste abwenden, wo Klagen und Bitten ganz vergebens blieben. Von solchen Schilderungen lenkte mein Vater gerne zu den End- und Glanzpunkten jener Kriege ab: zu den Schlachten bei Aspern und Leipzig, und da wuchs er förmlich über seinen Stand hinaus durch drastische, hinreißende Schilderungen. Erzherzog Karl war sein Lieblingsheld, den er auch während eines Durchmarsches »der Unsrigen« in Neumark einmal zu sehen die Ehre gehabt hatte. Um derlei Erinnerungen aber nicht allzu ernst abschließen zu lassen, wurden an solchen Abenden auch heitere Kriegsanekdoten zum Besten gegeben, von denen eine hier Platz finden möge. Als Napoleon I. von der Insel Elba nach Frankreich zurückgekommen war und Europa wieder mit Angst und Schrecken erfüllte, kam der sogenannte Armenvogt (Kriaga-Pingat) in Neumark, eine kleine, narrige Persönlichkeit, die aus Mitleid den Posten erhalten hatte und papiernen Sturmhut und hölzernen Degen führte, auf den Marktplatz gelaufen und rief ein- über das andere Mal: »Die Franzosen sind wieder da! Ich habe den Pferdeschweif auf dem Helm eines französischen Kürassiers gesehen!« Man zog Erkundigung ein und was stellte sich heraus? Eine Kuh hatte, von Bremsen gestochen, zu »bisen« (zu flüchten) begonnen und hatte, zwischen zwei Kornfeldern laufend, den Schweif hoch gehoben und geschwenkt; diesen Schweif hatte der tapfere Vogt gesehen und, noch vom Kriegsfieber erregt, für die Helmzier eines französischen Vorpostens gehalten. Der flüchtige Schrecken hierüber sollte dem bewaffneten Vogt jetzt übel heimgezahlt werden. Der Volkshumor trieb üppige Blüten; wer dem Vogt begegnete, schilderte ihm den überstandenen Schrecken und die üblichen Anstalten zur Flucht vor den Franzosen – so rief der Weihermüller, als er den Vogt erblickte: »Unglücksmann – wie deine Meldung kam, hatt' ich nichts Eiligers zu tun, als mein Mühlrad auf den Rücken nehmen, zwei Mehlsäck unterm Arm und das jüngste Schweindl in den Sack – und damit dem Walde zu!« – Der lustige Binder-Michel rief: »Franzosen da? Ich will nur schnell mein Weib nehmen und auf und davon mit ihr – vergreif' mich aber an der schönern Nachbarin und gewahr's erst am nächsten Morgen, wo ich tapfer wieder heimkehr'; – naja«, setzte er hinzu: »hat doch die Sturzbaumliesl ihren Liebsten im Kleekorb auf dem Rücken nach dem Wald gerettet!« – So ging es fort und erheiterte die Gegend lange Zeit besonders an solchen Winterabenden ...


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