Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22.
Die schöne Närrin.

Es war zur Zeit des Abendessens; die große Schüssel dampfte auf dem eichenen Ecktisch. Die ganze Familie: Vater, Mutter, Brüder und Schwestern, saß in bunter Reihe mit Knecht' und Mägden um den Tisch und ließ sich's munden. Da gerade kein Gespräch im Gange war und der milden Luft wegen die Fenster offen standen, vernahm man um so besser den sonderbaren Gesang, der draußen vor dem Hause jetzt erscholl. Der Oberknecht wendet sich zurück, lugt zum Fenster hinaus und sagt erstaunt:

»Seht euch das an!«

»Was ist's?« fragt der Vater.

»Da steht eine im Bach«, sagt der Knecht, »sie wäscht sich Gesicht, Arm und Hals und singt dazu!«

Nun sucht alles hinaus zu sehen, aber die Sängerin ist bereits aus dem Bach gesprungen, eilt geraden Wegs nach der Haustür und steht nach wenigen Augenblicken zwischen der aufgestoßenen Stubentüre – ein wundersames Bild für einen Maler!

Es ist ein Mädchen von mittelgroßer, üppiger Gestalt, kaum siebzehn Jahre alt, in kurzem dunklen Rock, das Hemd am Halse bedenklich offen. Eine Fülle dunkler Locken hängt aufgelöst um ein blendend schönes, rundes Gesicht, zwei große Augen sehen starr nach dem Tische, die triefenden Hände hängen schlaff herunter. So, mit tiefem Ernst, macht die Erscheinung nach kurzer Pause einen Knix, sagt in etwas fremdem Dialekt: »Gute Hochzeit, schöne Elster!« und geht ohne Aufenthalt nach der Kammertüre, wo immer ein langes, grobleinenes Handtuch neben dem Kochlöffelbehälter hängt. Mit Heftigkeit trocknet und reibt sie das arme Gesichtchen und sagt in einem Ton, halb Freude, halb Trauer:

»So gehn die Flecken und Sünden weg – Mutter kann mich wieder loben!«

Doch streckt sie gleich darauf die Arme vor sich hin und ruft mit ängstlicher Stimme:

»Geht nicht allein! Lasst mich mit! Ich will was umtun – die Welt ist schlimmer als Bär und Werwolf!«

Und singend fährt sie mit den Fingern in die Haare, wirft sie über die Schultern zurück, lacht: »Wir tragen keine Mäntel!« und beugt sich vor, um die Arme züchtigst über Brust und Hals zu kreuzen. »Lasst den Teufel nicht zu«, ruft sie angstvoll: »Er ist dort – er ist hier – er ist der Brummkäfer vor dem Kloster!«

Wir Kinder waren vom Tisch gesprungen und standen, erschrocken schauend, nicht weit vom Eingang in die Küche, der die »Hölle« heißt.

Der Vater schob uns zurück und sagte: »Geht, Kinder!« Dann trat er der ängstlich Wimmernden näher und sagte: »Mein Kind, wer bist du? Woher kommst du?«

»Weg, weg!« ruft sie: »So haben sie alle gesagt und haben mich dann verlassen!«

»Aber wo bist du daheim? Wer ist dein Vater?«

»Sie nennen ihn Grösselwirt und singen ihm garstige Lieder!« ist die Antwort.

In diesem Augenblicke ruft jemand: »Gott und mein Heiland!« und aller Augen richten sich nach dem zweiten Knecht, der den Löffel weggelegt hat und das Gesicht in beide Hände birgt.

»Was ist's?« fragen mehrere Stimmen am Tisch.

Der Knecht verharrt in seiner Stellung, und es zucken seine Schultern wie von heftigem Schluchzen; endlich springt er auf und eilt wie toll aus der Stube.

Nun fragt auch mein Vater, was es gebe, und als er das Seltsame gehört, folgt er dem Knecht, um von ihm Näheres zu erfahren! Die Mutter aber und die älteste Magd stellen sich vor die schöne Närrin, um niemand sehen zu lassen, wie sie nun unter Klagen und Scherzen ihren Anzug zu ordnen sucht ...

Nicht lange darauf hören wir Männerschritte und dumpfe Stimmen draußen. Zwei Fremde, Bauern von jenseits der Grenze, sind in Begleitung des Dorfrichters gekommen und treten auch bald in die Stube. Der eine der Bauern, hochgewachsen, breitschulterig, die Röhrenstiefel weit über die Schenkel heraufgezogen und einen großen Bergstock in der Hand, grüßt, ernst und traurig, erkundigt sich sogleich, ob nicht eine Fremde angekommen, und beschreibt sie mit wenigen Worten; aber die Antwort ist noch nicht gegeben, als von der Kammertüre her ein Schrei ertönt, als habe die Fremde einen Stich ins Herz erhalten. Sie liegt auf den Knieen, presst ihr Gesicht in die Hände, zittert am ganzen Leibe und jammert dumpf, wie jemand, der hilflos, treulos in Gefangenschaft abgeführt werden soll. Sofort steht der große Fremde vor ihr, stumm und traurig, beide Hände über den Griff des Bergstocks gelegt.

»Roserl«, sagt er nach einer Pause mild und halblaut: »Kennst du mich?« Und als sie nicht antwortet, setzt er hinzu: »Erkennst du deinen Vater?«

Statt aller Antwort springt sie auf, dringt zwischen dem Fragenden und der älteren Magd hindurch mit Blitzesschnelle nach der Kammer und klettert trotz der Dunkelheit über die hölzerne Treppe nach dem Boden; – und eh' man's hindern kann, hören wir fliehende Schritte über uns, bald fliegt der Riegel von der Bodentüre, die Bretter des äußeren Hausgangs ächzen; – bald darauf vernehmen wir einen Schrei, einen dumpfen Fall – und die Fremde liegt in einer Furche des Gemüsegartens, mitten in einem wilden Rosenstrauch ...

Ich weiß nur noch, dass ich bald mit meiner Mutter allein in der Stube war, das Herz voll dumpfen Schreckens und seltsamen Wehs; die Mutter führt mich nach einem Fenster, das nach dem Gemüsegarten zeigt, sie sieht hinaus und stößt leise Klagen aus, während ich, auf der Wandbank kniend, verwirrt und schauernd zu entziffern suche, was die Menschengruppe draußen vorhabe; in der Dunkelheit sehe ich endlich einen weiblichen Körper aufheben, dessen Arme und Haare nur so herunter hangen ...

Wohl gingen den Abend und die folgenden Tage seltsame Reden unter den Erwachsenen, allein wir Kinder durften nichts davon erfahren, hätten wohl auch von alledem nichts verstanden; – das Merkwürdigste für mich war am nächsten Morgen, dass der zweite Knecht, ein schöner, kräftiger Bursche, aus dem Dienst getreten und mit den Fremden fortgezogen war; – erst in späten Jahren, da ich das Wundersame des Tages nicht vergessen konnte und immer wieder fragte, erhielt ich eine Aufklärung, die in wenige Worte zusammengefasst also lautete:

Der zweite Knecht hatte vor Jahr und Tag im Hofe des Grösselwirtes gedient und, so bescheiden er auch auftrat, das Herz der schönen Tochter des Hauses ganz gewonnen. Niemand außer den Liebenden wusste von dem Geheimnis; da warb eines Tages der Sohn eines angesehenen Nachbars um die Hand der Rosi und wurde von dem Mädchen zurückgewiesen. In der Leidenschaft und Bedrängnis gestand die Unglückliche ihre Neigung zu dem jungen Knecht und führte dadurch die erschütterndsten Auftritte herbei. Der Knecht wurde augenblicklich fortgeschickt und die Bewerbung des Nachbarsohnes mit rücksichtsloser Heftigkeit fortgesetzt; das Verstummen des Mädchens, dessen Zerstreutheit und menschenscheues Ablehnen jeden Umgangs wurde als der Anfang von besserer Gesinnung angesehen, bis leider starke Anzeichen von Irrsinn eintraten und zu spät erkennen ließen, was man angerichtet ... Rosi war das einzige Kind ihrer Eltern; eines Tages schien es, als ob die Geisteskrankheit einer auffallenden Besserung weiche; – da verschwand die Unglückliche; man setzte alles in Bewegung, um die Spur zu finden, und fand sie endlich, wie wir gesehen haben ... Der Sturz auf den dichten Rosenstrauch und auf lockeres Erdreich hatte dem schönen Kinde nicht geschadet; es war nach einer kurzen Ohnmacht zu sich gekommen und wurde merkwürdiger Weise in einem viel helleren Geisteszustand in ihr Elternhaus gebracht. Der Vater Rosis hatte unsern zweiten Knecht gleich mit sich genommen und mehr als alle anderen Bemühungen dienten dessen Nähe und Ansprache dazu, den Irr- und Trübsinn des Mädchens zu verscheuchen. Nach Jahr und Tag war die Vernunft wieder ganz zurückgekehrt – und als wir eines Mittags (es war an einem Sonntag im September) wieder um den Ecktisch saßen, ging die Türe auf, und ein schönes kräftiges Bauern-Ehepaar trat herein: Unser früherer Knecht und die schöne (vollständig geheilte) Närrin ... Sie war heiter und gesprächig, teilte Geschenke unter uns Kinder aus und setzte dann ihren Weg nach einem Wallfahrtsorte fort. Von dem traurigen Erlebnisse früherer Tage redete niemand und in der schönen Bäuerin schien auch keine Spur einer Erinnerung zurückgeblieben zu sein.


 << zurück weiter >>