Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Achtundvierzigster Brief

Paris, den 20. Januar 1829

Liebe Julie!

Es ist gewiß eine schöne Sache in Paris, einen solchen Spaziergang, wie das Museum bietet, täglich zu seiner Disposition zu haben, und, um dem Regen oder Schnee zu entgehen, in den Sälen der Götter und unter den Schöpfungen des Genius umher wandeln zu dürfen! Vive le Roi! für diese Liberalität gegen alle.

Nachdem ich meinen Vormittag in den Prachtsälen zugebracht, und auch das neue ägyptische Museum gesehen, von dem ich Dich später unterhalten werde, fand ich zufällig, beim Essen, eine interessante Gesellschaft an einem General de l'Empire, dessen Unterhaltung ich dem Theater heute vorzog. Er erzählte mir als Augen- und Ohrenzeuge eine Menge Anekdoten, die ein lebhafteres Bild, und zum Teil einen tiefern Blick in die ganzen Verhältnisse jener Zeit zuließen, als es Memoiren vermögen, in denen man die Wahrheit nie ganz ohne Schminke entfalten kann. Es würde zu weitläufig sein, Dir hier viel davon erzählen, und obendrein diese Mitteilung des belebenden Kolorits des Worts zu sehr entbehren müssen, weshalb ich das meiste für mündliche Unterhaltung aufbewahre. Nur einige Züge zur Probe.

Es ist nicht zu leugnen, sagte mein Berichterstatter, daß im Innern der Familie Napoleons viele gemeine Verhältnisse stattfanden, welche die roture verrieten (worunter keineswegs die nicht vornehme Geburt, sondern eine mangelhafte und würdelose Erziehung zu verstehen ist). Namentlich herrschte der größte Haß und die elendesten gegenseitigem Intrigen zwischen der Familie Napoleons und der Kaiserin Josephine, welche auch zuletzt das Opfer davon ward. Napoleon nahm früher stets die Partei seiner Frau, und wurde von seiner Mutter deshalb oft in's Angesicht mit dem Namen eines Tyrannen, Tiberius, Nero, und noch weniger klassischen Ausdrücken gescholten. Übrigens habe Madame oft gegen ihn geäußert, sagte der General, daß Napoleon schon als kleines Kind stets habe allein herrschen, immer nur sich und das Seinige schätzen wollen. Seine Brüder wären von Anfang an von ihm tyrannisiert worden, nur mit Ausnahme Luciens, der nie die geringste Beleidigung ungerächt gelassen. Es errege daher oft ihr Erstaunen, wie gleich sich, durch die ganze Folgezeit, der beiderseitige Charakter der Brüder geblieben. Der General behauptete, daß Madame Lätitia die feste Überzeugung gehabt, Napoleon werde übel enden, und kein Geheimnis daraus gemacht, daß sie nur für diese Katastrophe spare. Lucien teilte diese Überzeugung und sagte dem General schon 1811 die merkwürdigen Worte: ›L'ambition de cet homme est insatiable, et vous vivrez peut-être, pour voir sa carcasse et toute sa famille jettées dans les égouts de Paris.‹

Bei der Krönung Napoleons hatte die Kaiserin Mutter, bei welcher der General, nach verlassenem Militärdienste, eine Hofcharge innehatte, (er sagte mir nicht welche) ihm aufgetragen, genau Achtung zu geben, wie viele fauteuils, Stühle und tabourets für die kaiserliche Familie aufgestellt worden wären und, sowie sie hereinträte, ihr unbemerkt seinen Rapport darüber abzustatten. Der General, damals mit Hofsitten ziemlich unbekannt, wunderte sich über den seltsamen Auftrag, richtete ihn aber pünktlich aus, und meldete, er habe nur zwei fauteuils, einen Stuhl und soundso viel tabourets gezählt. ›Ah! je le pensais, bien‹, rief Madame Mère, rot vor Zorn, ›la chaise est pour moi – mais ils se trompent dans leur calcul!‹ Schnell auf den ominösen Stuhl zuschreitend, frug sie den diensttuenden Kammerherrn mit bebenden Lippen, wo ihr Sitz sei? Dieser wies mit einer tiefen Verbeugung auf den Stuhl – die tabourets waren schon von den Königinnen und Schwestern eingenommen. Den Stuhl ergreifen, ihn dem Kammerherrn auf die Füße stoßen, der vor Schmerz beinahe laut aufschrie, und in das Kabinett eindringen, wo der Kaiser und Josephine warteten, war für die empörte Korsin das Werk eines Augenblicks. Hier folgte nun die indezenteste Szene, während die Kaiserin Mutter in den stärksten Ausdrücken erklärte, daß, wenn ihr nicht augenblicklich ein fauteuil gegeben werde, sie den Saal verlassen und vorher laut den Grund ihrer Handlungsweise angeben wolle. Napoleon, obgleich wütend, mußte bonne mine à mauvais jeu machen, und half sich dadurch, daß er die ganze Sache den armen Grafen Ségur, als eine bévue, die von ihm allein herrühre, ausbaden ließ ›et on vit bientôt‹, setzte der General hinzu, ›le digne Comte arriver tout effaré, et apporter lui-même un fauteuil à sa Majesté l'impératrice mère‹. Charakteristisch, und ein Beweis, daß keineswegs Josephine, sondern der Kaiser selbst Schuld an dem Vorfall war, ist, daß bei der Heirat mit Maria Louise sich genau dieselbe Sache wiederholte, und die, nun schon zu sehr eingeschüchterte und gedemütigte Mutter nicht mehr den Mut hatte, zu widerstreben.

Napoleon war bigott erzogen worden, und obgleich zu scharfsichtig, um so zu bleiben, oder es vielleicht je ernstlich zu sein, hatte doch die Gewohnheit wie bei allen, mehr oder weniger, auch auf ihn einen so starken Einfluß, daß er sich von den ersten Eindrücken nie ganz frei machen konnte. Es arrivierte ihm sogar zuweilen, wenn etwas ihn plötzlich frappierte, unwillkürlich das Zeichen des Kreuzes zu machen, eine geste, der den skeptischen Kindern der Revolution, bei einem Manne wie dem Kaiser, höchst befremdend vorkam.Mein Freund schrieb auch mir damals von jener Unterredung und erwähnte einer komischen Partikularität, die in den Briefen an eine Dame freilich nicht Platz finden konnte, aber hier in einer Note wohl hazadiert werden darf, da sie zugleich den Ton der Großen jener Zeit und ihres Herrn so gut schildert.Damen warne ich jedoch im voraus. Napoleon machte nämlich, in Gegenwart des Erzählers und mehrerer andern Militärs, dem Marschall Massena scherzhafte Vorwürfe, daß er nie ohne Weiber leben könne. ›Ich begreife dies weibliche Wesen nicht‹, sagte der Kaiser. ›So lange ich in Italien kommandierte, ließ ich mir nie eine Frau zu nahe kommen, um mich nicht von wichtigeren Dingen zu zerstreuen, mais j'ai ma saison comme les chiens‹, setzte er hinzu, ›et j'attends jusque là.‹ Der General versicherte, daß seitdem, wenn man bei Hofe eine besondere Disposition zur Eifersucht bei der Kaiserin Josephine bemerkte, die Höflinge sich lächelnd zuzurufen pflegten: Ah! l'Empereur est dans sa saison.‹ A. d. H.

Nun noch zuletzt ein artiger trait Karl des IV., dem man kaum so etwas Zartes zutrauen wird, obgleich die, welche ihn persönlich kannten, wissen, daß dieser unendlich liberale und gute, wenngleich höchst schwache und ungebildete Prinz, als Mensch viel mehr wert war, denn als König.

Als Lucien nach Spanien ging, um dort den Posten eines Ambassadeur der Republik einzunehmen, begleitete ihn der General als Gesandtschafts-Sekretär. Der vorige Gesandte hatte alle Grobheit der republikanischen Sitten, zum höchsten Skandal des etikettenreichsten und förmlichsten Hofes der Welt, affichiert, und man fürchtete vom Bruder des französischen Staats-Oberhauptes eine noch größere Arroganz. Lucien hatte indessen le bon esprit, gerade das Gegenteil zu tun, erschien sogar in Schuhen und Haarbeutel, und erfüllte alle Zeremoniell- und Hofpflichten mit solcher Pünktlichkeit, daß man vor Freuden und Dankbarkeit darüber am Hofe in wahres Entzücken geriet. Lucien wurde nicht nur höchst populär, sondern der wahre Liebling der ganzen königlichen Familie. Er erwiderte, wie mein Erzähler versicherte, diese Freundschaft aufrichtig, und warnte oft den König wie den Friedens-Fürsten ernstlich, ebensosehr vor der Treulosigkeit, als dem unersättlichen Ehrgeiz seines Bruders, über den er, bei jeder Gelegenheit ganz ohne Rückhalt, sprach. Das Zutrauen des alten Königs pour son ›grand ami‹, wie er Napoleon nannte, blieb jedoch bis zum letzten Augenblick unerschütterlich.

Vor seinem Abgang setzte Lucien seiner Popularität noch durch ein prachtvolles Fest die Krone auf, desgleichen man in Spanien nie gesehen, und welches gegen 400 000 Franken gekostet haben soll. Die höchsten Personen des Hofs, viele Grande, und die ganze königliche Familie beehrten es mit ihrer Gegenwart, und letztere namentlich schien dem Ambassadeur nicht genug Verbindliches darüber sagen zu können. Wenige Tage darauf erhielten alle Mitglieder der Gesandtschaft prächtige Geschenke, nur der Ambassadeur ging leer aus, und die republikanische Familiarität erlaubte sich daher, im Palais des Gesandten, mehrere deshalb an ihn gerichtete Neckereien. Indes war die Abschieds-Audienz vorübergegangen, Luciens Abreise auf den nächsten Tag bestimmt, und alle Hoffnung auf das erwartete Präsent nun ganz aufgegeben, als ein Offizier der wallonischen Garden mit Eskorte im Hotel ankam und dem Gesandtschafts-Sekretär ein in eine Kiste gepacktes großes Gemälde, als ein Andenken des Königs für den Bruder Napoleons, überbrachte. Als man Lucien dies meldete, äußerte er, es sei ohne Zweifel die Venus von Titian, die er mehreremal in des Königs Beisein gerühmt, und allerdings ein Gemälde von Wert, indessen sei ihm doch jetzt dieser Transport unbequem und er müsse gestehen, er hätte etwas anderes lieber gesehen. Nichtsdestoweniger ward der Offizier mit großer Artigkeit bedankt und entlassen, bei welcher Gelegenheit ihn Lucien seine eigne kostbare Busennadel anzunehmen bat. Hierauf befahl der Gesandte, daß das Gemälde aus der Kiste genommen, der Rahmen hier gelassen, und es so aufgerollt werde, daß man es auf die Imperiale eines Wagens packen könne. Der Sekretär tat, wie ihm geboten; kaum hatte man aber die umgebende Leinwand weggeschoben, als ihm statt der gepriesenen Venus das, nichts weniger als schöne, Gesicht des Königs freundlich entgegenlächelte. Schon wollte er, schadenfroh über das komische quid pro quo, zum Gesandten eilen, um es ihm scherzend mitzuteilen, als, beim völligen Hinwegnehmen der enveloppe, ihn eine noch viel größere Überraschung zurückhielt. Das ganze Gemälde war nämlich, gleich einer miniature, mit großen Diamanten eingefaßt, die Lucien später für 4 000 000 Franken in Paris verkaufte. Dies war doch eine wahrhaft königliche Überraschung, und der Ambassadeur hatte Recht, einen solchen Rahmen nicht, wie er früher befohlen zu Hause zu lassen.

In Badajoz wurde, nach der Behauptung des Generals, Lucien sehr intim mit der Königin von Portugal bekannt, welche ihm dort ein politisches Rendezvous gegeben hatte, und, meinte der, D... M... könne wohl die Frage davon sein. Gewiß ist es, und ich schrieb Dir es bereits von London, daß dieser Prinz Napoleon auffallend gleicht.


Den 13ten

Die gaieté kam bei meiner heutigen Theater-Inspektion an die Reihe, und ich wage zu bekennen: daß ich mich sehr gut dort unterhielt. Diese kleinen Melodramen- und Possen-Theater sind jetzt, die Franzosen mögen noch so vornehm dagegen tun, doch ihre eigentlichen National-Bühnen, welche sogar an dem so auffallenden Übergang des Publikums zur Romantik nicht ganz unschuldig sein mögen – denn die Menschen waren der magern Kost herzlich müde geworden, des... pathos tragique, qui longtemps ennuya en termes magnifiques.

Neulich, als ich Dir den Theaterbericht des einen Abends schuldig blieb, geschah es deswegen, weil ich mich im ›Théâtre Français‹ auf eine wahrhaft widrige Weise gelangweilt hatte. Mademoiselle Mars spielte nicht, und ich fand den Schauplatz der einstigen Größe Talmas und Fleurys, zur größten Erbärmlichkeit herabgesunken. Ich will Dir jetzt eine ganz kurze Skizze beider Vorstellungen geben, von dem National- und dem Vorstadt-Theater, und obgleich bei dem letztern nur von einem Melodram, folglich von grob aufgetragenen Farben, leichter Arbeit und théâtre-coup die Rede sein kann. so überlasse ich Dir doch zu entscheiden, ob der klassischen oder melodramatischen Vorstellung der Vorzug zu geben sei. Ich fange mit dem Melodram der gaieté an, und bemerke nur im allgemeinen voraus, daß die Schauspieler gewandt, die Kostüme zweckmäßig, Dekorationen, sowie alle szenischen Anordnungen, sehr gut, und das ensemble (wie fast auf den meisten Pariser Theatern, ausgenommen beim ›Théâtre Français‹) vortrefflich waren.

Das Stück beginnt mit Tanz und Fröhlichkeit. Matrosen und Fabrikarbeiter feiern ein Fest im Garten ihres Prinzipals, des Herrn Vandryk, eines sehr reichen Partikuliers, der seit sechs Jahren, wo er aus der Neuen Welt hier angekommen, der Wohltäter der holländischen Landschaft geworden ist, in der er sich niedergelassen. Man hört jedoch, daß er sich dadurch auch die Eifersucht und den Neid der Regierung zugezogen, deren erster Justiz-Beamter namentlich, verschiedner Demütigungen wegen, die ihm die Liebe des Volks zu Vandryk zugezogen, sein Todfeind geworden sei. Während der Belustigungen erscheint Vandryk selbst mit seiner lieblichen Tochter, welche vom Sohne des Senators und Barons von Steewens, dem jungen Friedrich, geführt wird. Jubel und Vivatrufen empfängt sie, Vandryk teilt Geschenke unter die Verdientesten aus und trägt seiner Tochter mit dem jungen Baron auf, seine Kinder nun zum Gastmahl zu führen, das im Nebenhause bereitet sei. Sinnend bleibt er selbst stehen, und sein Monolog verrät uns, daß alles Glück, alle Ehre und Liebe, die ihn umgäben, den Fluch, der ihn verfolge, doch nicht heben könnten, ja ihn nur noch empfindlicher machten! Er überläßt sich dem tiefsten Kummer, dessen Ursache aber unbekannt bleibt. Sein alter Diener tritt ein, und in einer kurzen Unterhaltung erfährt man, daß dieser allein um alles Vergangene wisse, die Befürchtungen seines Herrn aber für chimärisch halte, indem er ihn mit der Versicherung zu beruhigen sucht, daß sein Geheimnis ja ganz sicher und jede Entdeckung fast unmöglich sei. Die Tochter kehrt jetzt mit ihrer Amme zurück und bittet den Vater um Erlaubnis, auch ihre Freundinnen zum Feste abholen zu dürfen. Eine zärtliche Szene folgt, wo der Vater sich an den so herrlich aufgeblühten Reizen der Tochter weidet und sie endlich mit einer feierlichen Umarmung entläßt, in einer Bewegung, die nur dem alten Diener verständlich ist. Noch in der Türe begegnet sie dem Vater des jungen Barons, der, reich gekleidet und von seinem Gefolge begleitet, erscheint. Vandryk empfängt ihn mit großer Ehrfurcht, die Familiarität und Freundschaft des Barons fast abwehrend, bis dieser seine Lobeserhebungen und Achtungsbezeigungen gegen Vandryk damit beschließt, daß er, obgleich er einer der reichsten und angesehensten Edelleute im Lande ist, für seinen Sohn um Vandryks Tochter anhält. Dieser erklärt in der höchsten Agitation, eine solche Verbindung sei unmöglich, und vergebens dringt der Baron in ihn, obgleich er ihn deutlich merken läßt, daß das junge Paar bereits einig und schon durch die innigste Zärtlichkeit verbunden sei. »Dies fehlte noch zu meinem Elend!« ruft Vandryk fast in Verzweiflung aus, als die Türe aufgerissen wird und seine Tochter, mit der Amme an der Hand, atemlos hereinstürzt, verfolgt von einem glänzenden jungen Wüstling, der beim Anblick des Barons und Vandryks zwar einen Augenblick betroffen stehen bleibt, sich aber schnell faßt, und mit der Geistesgegenwart eines Mannes von Welt sein Betragen zu entschuldigen sucht. Der Baron fragt verächtlich, wer er sei? worauf der junge Mann mit stolzem Anstand antwortet: »Mein Name ist Ritter Vathek, erster Sekretär des Rats-Pensionärs von Holland, Grafen von Assefeldt, der soeben hier angekommen ist, um den Zustand der Provinz zu untersuchen.« – »Ist der Graf schon hier?« fragt der Baron, mit mehr Höflichkeit, »dann muß ich ja eilen, ihn zu bewillkommen, da er mir die Ehre erzeigt, bei mir zu wohnen, denn ich bin Baron Steewens und dies Herr Vandryk, der Vater der jungen Dame, die...« – Vathek verbeugt sich unterbrechend und nähert sich Vandryk, um auch ihm seine Entschuldigung zu wiederholen, bleibt aber sprachlos stehen, als er dessen Gesicht erblickt. Doch bezwingt er sich augenblicklich, schiebt seine Verwirrung auf die Verlegenheit seiner Lage und eilt nach einigen Gemeinplätzen davon. In der Türe wendet er sich noch einmal unbemerkt von den übrigen um, wirft einen sorgsamen Blick auf den mit seiner Tochter beschäftigten Vandryk, und mit den Worten: »Beim Himmel, er ist's!« verläßt er das Haus.

Die Szene verändert sich.

Wir sehen ein reiches Gemach, in welches Graf Assefeldt vom Baron geführt wird. Nach einiger Konversation über den Zustand der Provinz, erwähnt der Baron Vandryks, seiner Verdienste um das Land, und fügt hinzu, daß er dessen Tochter erst heute für seinen Sohn verlangt, überzeugt, daß Vandryks Tugend, sein Einfluß, sein Reichtum und die Würde seines Charakters ihn jedem Edelmanne gleichstellen müßten. Man sieht während dieser Äußerung den jungen Sekretär höhnisch lächeln, der jetzt vortritt, um die Behörden der Stadt anzumelden. Diese kommen dem Rats-Pensionär ihre Ehrfurcht zu bezeigen, wobei der Zuschauer zugleich erfährt, daß ihr Chef, jener erwähnte Feind Vandryks, des jungen Ritters Onkel ist. In dem Rapport, den dieser nun dem Grafen Assefeldt macht, beschuldigt er Vandryk öffentlich, nur ein raffinierter Ruhestörer zu sein, der unter der Maske eines Fabrikherrn das Volk zu verführen suche, appuyiert dabei auf die ganz rätselhafte Unbekanntheit seiner Familie, die gänzliche Ungewißheit, woher er selbst komme, wer er, und was seine Endabsicht sei, und gibt endlich zu verstehen, daß er wohl als Spion im Solde einer fremden Macht stehen könne. Graf Assefeldt zeigt sich ruhig und kalt, aber wohlwollend, ermahnt zur Einigkeit und gemeinschaftlichem Eifer für das allgemeine Beste, entläßt die Behörden nebst dem Baron, und wendet sich nun mit Strenge an seinen Sekretär, dem er die Unanständigkeit seines Betragens an diesem Morgen, worüber der Baron Klage geführt, nachdrücklich verweist. Der Ritter bittet, mit verbißnem Ärger, um Verzeihung, fügt aber hinzu, daß sein, allerdings tadelnswertes Betragen dennoch zu einer merkwürdigen Entdeckung geführt habe, nämlich, wer der verehrte Herr Vandryk eigentlich sei. »Nun, und wer ist er?« fragt der Graf gespannt. »Der Henker von Amsterdam.« – Der Graf schlägt erstaunt die Hände zusammen, und der Ritter fährt in seiner Erklärung fort: »Als siebenjähriges Kind«, sagte er, »entwendete ich, in unbewußter Spielerei, meiner Mutter einen kostbaren Diamantring. Er ward lange vergebens gesucht, und um mich nachher für immer von einer so üblen Gewohnheit zu heilen, fiel meine Mutter auf das sonderbare Mittel, den Scharfrichter nebst seinem Erben und gesetzlichen Nachfolger, den ältesten seiner Söhne, kommen zu lassen, beide in ihrer furchtbaren Amtskleidung und dem breiten Schwerte in der Hand. Der Jüngste ergriff mich, und indem er das Schwert schwang, rief er mir zu: dies kalte Eisen würde mir den Tod geben, wenn ich mich je wieder dem schändlichen Verbrechen des Stehlens überließe. Eine wohltätige Ohnmacht befreite mich hier von aller ferneren Angst, aber nie kam mir seitdem das für mich so schreckliche Antlitz des jungen Mannes aus dem Gedächtnis, und selbst nach 20 Jahren erkannte ich es heute, nicht ohne innerliches Schaudern, auf den ersten Blick.«

Der Graf bleibt ungläubig, hebt die Unwahrscheinlichkeit hervor, daß eine Erinnerung der ersten Kindheit nach zwanzig Jahren noch so zuverlässig sein könne, und gebietet seinem Sekretär vorderhand jedenfalls das tiefste Stillschweigen.

Wir werden nun wieder in das Haus Vandryks zurückgeführt, wo seine Tochter ihm ihre Liebe zu Friedrich gesteht, und ehe sie ihn verläßt, dringend um seine Einwilligung fleht. Der Vater teilt in der nächsten Szene alles dem treuen Diener mit, welcher ihm so lange zuredet, und die Unmöglichkeit der Entdeckung seines Geheimnisses so plausibel macht, daß er endlich selbst äußert, sich noch nie beruhigter und sicherer gefühlt zu haben, und mit Tränen väterlicher Liebe den Befehl gibt, das junge Brautpaar zu holen, um ihnen seinen besten Segen zu erteilen. Freude und Glück aller scheint vollkommen, und der alte Baron, der ebenfalls hinzukommt, teilt ihr Entzücken. Er lade Vater und Tochter vorläufig zu einem Feste ein, das er dem Grafen Assefeldt heut gebe, wobei er die beste Gelegenheit finden würde, seine künftige Schwiegertochter und Vandryk dem Rats-Pensionär vorzustellen, und seinem Wohlwollen zu empfehlen.

Alle gehen ab, und das Theater verwandelt sich in eine Bildergalerie mit einem anstoßenden prächtigen Saale, den man von einer zahlreichen Gesellschaft angefüllt, hinter einer Seitengalerie, erblickt. Der Graf im Vordergrunde unterhält sich noch mit den Regierungsbeamten, welche respektvoll Platz machen, als der Baron Steewens erscheint, um die Familie Vandryk vorzustellen, welche er laut ›die Wohltäter der Provinz‹ nennt. Der Graf, sich höflich gegen die Tochter verneigend, sagt mit Bedeutung: »Eine solche Jugend ziert jeden«, und den Vater fixierend, setzt er hinzu: – »von welchem Stande er auch sei« – worauf er ihm schnell den Rücken kehrt. Vandryk verrät ängstliche Verlegenheit, während der seitwärts stehende Vathek kein Auge von ihm verwendet und seine Tochter ihn ängstlich fragt, ob ihm nicht wohl sei, da er so plötzlich erblasse? »Nichts, nichts«, stammelt er, »ich folge gleich«, und legt ihre Hand in die Friedrichs, der sie zögernd in den Saal führt. Alle gehen ab, bis auf Vandryk, der, noch halb bewußtlos die Hand an die Stirne gehalten, stehen bleibt, und Vathek, der, in einen Winkel zurückgezogen, wie ein Tiger auf seine Beute zu lauern scheint. Plötzlich tritt der Ritter hervor, drückt den Hut auf den Kopf, und Vandryk auf die Schulter schlagend, ruft er mit lauter Stimme: »Unverschämter! der erste Magistrat Hollands verbietet Euch, sich in seiner Gegenwart zu Tisch zu setzen.« Diese Szene ist von ergreifender Wirkung. Der Unglückliche sinkt außer aller Fassung in die Knie, und ruft: »Gnade!« Doch schon ist Vathek verschwunden, und läßt ihn vernichtet zurück. »Gerechter Gott«, ruft er mit dem Schmerz der Verzweiflung, »ist denn Kains Zeichen auf meiner Stirne eingebrannt, daß Fremde selbst darauf meine Schande lesen müssen!« Jetzt eilt seine Tochter, die ihn nicht aus dem Auge gelassen, aus dem Saale wieder herbei und beschwört ihn, ihr die Ursache seiner unbegreiflichen Bewegung mitzuteilen; doch ehe ihr noch andere folgen können, reißt er sie mit sich fort: »Laß uns fliehen, meine Tochter«, flüstert er ihr ins Ohr, »nur Flucht und Nacht kann uns vor den Menschenaugen verbergen.« Er stürzt mit ihr aus der Tür, und der Vorhang fällt.

 

Nach den Gesetzen Hollands war das Amt des Scharfrichters zu Amsterdam erblich, und der zu seinem Nachfolger designierte Sohn konnte sich, ohne ein Krüppel zu sein, demselben nicht entziehen. Die Familie wurde als Leibeigene des Staates betrachtet, und ihre Flucht als Felonie betrachtet. Auf Vandryk ruhte also die doppelte Last der damals allgemein angenommenen Unehrlichkeit seines Handwerks, und des Verbrechens, ihm heimlich entflohen zu sein. Durch seltnes Glück in allen seinen Unternehmungen begünstigt, hatte er im Auslande ein großes Vermögen gewonnen, und nach so langer Zeit erst zurückkehrend, gehofft, unerkannt bleiben, und sein Leben im Vaterlande beschließen zu können, doch hatte das Bewußtsein seines ElendsGewissen –? ihm nie einen Augenblick Ruhe gegönnt.

 

Alle diese Details erfahren wir in einer Unterredung Vandryks mit seinem alten Diener, im verschlossenen Hause, wo er alles zur Flucht vorbereitet. Seine Tochter erscheint in Tränen, und beschwört ihren Vater um Erklärung aller Rätsel, die sie umgeben. Die Szene, welche sehr erschütternd ist, endet mit dem Geständnis, das der Vater nicht auszusprechen Kraft findet und auf ein Blatt Papier schreibt. Mit Zittern ergreift es die Tochter, öffnet es langsam, und das furchtbare Wort lesend, ruft sie erst, seine Füße umklammernd, in Schmerzenstönen, »Vater!« dann zusammensinkend stammelt sie bewußtlos: »Henker!« und fällt ohnmächtig zu Boden. Ihr Vater, der den Anblick nicht ertragen kann, entflieht durch die Tür. Als sie in den Armen des treuen Dieners wieder zu sich kommt, winkt sie ihm, sie allein zu lassen. Sie betet, wirft sich dann auf einen Stuhl, stützt den Kopf in beide Hände, und weint bitterlich. Ein starkes Geräusch am Fenster schreckt sie von neuem auf. Mit Erstaunen sieht sie einen Mann, in einen roten Mantel vermummt, herabspringen. Es ist Vathek. Sie will um Hilfe rufen, doch dieser bittet ehrfurchtsvoll nur um einen Augenblick Gehör, um ihres Vaters willen. Eine feurige Liebeserklärung folgt, er erbietet sich mit ihr zu fliehen, sie und ihren Vater für immer in Sicherheit zu bringen, wenn sie sein werden wolle, droht aber Verderben jeder Art im Verweigerungsfalle. Da er indes nur mit ebensoviel Kälte als Würde zurückgewiesen wird, sagt er ihr zuletzt mit losbrechender Wut: Er wisse sehr wohl, wer ihm eigentlich im Wege stünde, aber auch Friedrich solle ihm nicht entgehen, und sein Tod, ehe noch wenig Stunden vergingen, ihr Werk sei. Jetzt ruft die Geängstete um Hilfe, Diener und Fabrikarbeiter Vandryks sprengen die Türe, doch Vathek zieht sein Schwert, und den Mantel als Schild gebrauchend gewinnt er, sich durchschlagend, das Freie.

Wir sehen jetzt eine Galerie im Palast des Barons. Es ist Nacht, nur spärlich von einer einsamen Lampe erleuchtet. Friedrich geht unruhig auf und ab, überlegend was er tun solle. Er kann sich die plötzliche Flucht Vandryks und seiner Tochter nicht erklären, und verliert sich in Hypothesen. Indem klopft eine leise Hand an seine Türe. Er öffnet verwundert, und Marias Amme tritt verhüllt ein, mit einer Botschaft ihrer Gebieterin, die Friedrich beschwört, in den Garten herabzukommen, da ein furchtbares Schicksal sie zwinge, alle Rücksichten aus den Augen zu setzen, um ihn noch einmal zu sprechen. Immer mehr erstaunt folgt er der, ebenso befremdenden als lieben, Einladung – die Dekoration verändert sich, und eine schöne Mondbeleuchtung zeigt uns einen sorgfältig unterhaltenen holländischen Garten mit Buchsbaum-Figuren und Blumenbeeten, wo Maria in Reisekleidern ängstlich ihres Bräutigams harrt. Friedrich tritt ein, und nachdem sie unter vielen Tränen und geheimnisvollen Worten auf ewig von ihm Abschied genommen, sagt sie, der Hauptzweck ihres Besuchs sei, ihn vor Vathek zu warnen, der seinen Tod geschworen. Friedrich glaubt jetzt, Vathek sei die Ursache ihrer Trennung, und vielleicht nicht ganz unbegünstigt von der Familie. Er überhäuft die unglückselige Maria noch mit Vorwürfen, und sein Zorn erreicht den höchsten Gipfel, als jetzt Vathek selbst hinter einer Hecke hervortritt, und den Degen ziehend ihm spöttisch zuruft: »Gib Maria auf, oder streite um sie wie ein Ritter!« Maria und ihre Amme schreien um Hilfe, während die Jünglinge auf Tod und Leben kämpfen. Der Baron und Graf Assefeldt in Nachtkleidung, eilen mit einigen Dienern und Fackeln herbei, kommen aber nur in dem Augenblick an, als Vathek, tödlich getroffen, niedersinkt. Sich und seinen Mörder verfluchend, erklärt er noch im Sterben, daß er von Friedrich meuchlings überfallen worden sei, »aber«, schließt er, »Vandryk wird mich an meinem Mörder rächen – Vandryk Polder, der Henker von Amsterdam!« Friedrich und der Baron schaudern entsetzt zurück, Maria liegt ohnmächtig in den Armen ihrer Amme, und Vathek stirbt. Hier fällt der Vorhang zum zweitenmale.

Einige Tage scheinen vergangen. Die Szene zeigt uns einen Gerichtssaal, dessen Türen das Volk belagert. Friedrich wird zum letztenmal verhört, und des Mordes als überwiesen erklärt, worauf ihn die Richter, unter dem Vorsitz von Vatheks Onkel, einstimmig zum Tode verurteilen. Der gegenwärtige Graf Assefeldt kann, obgleich tief betrübt, den Lauf des Gesetzes nicht aufhalten. Das empörte Volk sprengt zwar die Pforten, um Friedrich zu befreien, der Graf bezähmt aber die Meuterer durch eine würdevolle Anrede, bei deren Schluß er ihnen sagt, daß das Gesetz über ihnen allen stehen müsse, daß aber dennoch jede Hoffnung noch nicht verloren sei, da der General-Statthalter das Recht der Begnadigung üben könne, zu welchem er daher auch bereits, von dem Ausgang des Spruches unterrichtet, den Baron Steewens nach dem Haag abgeschickt habe. Vandryks Feind benutzt jedoch den Aufruhr, um die Beschleunigung der Hinrichtung anzuordnen, und setzt den Vorstellungen des Grafen keck seine Pflicht als Magistrat entgegen, die er zu verantworten wissen werde. Hier tritt Vandryk, oder vielmehr Polder ein, und bittet den Grafen fußfällig um Gnade für den unglücklichen und, der Aussage seiner Tochter nach, ebenso unschuldigen Baron. Dieser beklagt jedoch, daß das Zeugnis seiner Tochter unter den obwaltenden Umständen keine Gültigkeit gegen die deutliche Anklage des Sterbenden haben könne, Friedrich jedenfalls, es sei nun auf welche Art es wolle, Vatheks Tod verschulde, und seine, des Grafen, Autorität nicht so weit gehe, den Lauf der Gesetze hemmen zu können. Alles hänge jetzt nur von der ersten Magistrats-Person, dem Onkel des Getöteten, ab, der hier vor ihm stehe. Dieser fixiert den Geängsteten mit teuflischem Lächeln, und als er sich vor ihm niederwirft, sagt er freundlich: »Wohlan, lieber Polder, Ihr erscheint hier, wie gerufen! Ich höre, daß Ihr Euer Meisterstück noch nicht abgelegt habt, und requiriere Euch hiermit im Namen der Regierung und in Ermanglung jedes andern, der Euer Amt verrichten könnte, zu der bevorstehenden Exekution.« Polder, stumm vor Entsetzen und Wut starrt zuerst seinen unmenschlichen Feind lange schweigend an, und bricht dann in glühende Worte aus, die sich einigemal fast zur tragischen Würde erheben. Endlich ruft er: »Ich habe noch nie das Blut eines Nebenmenschen vergossen und werde es nie, aber müßte ich es, so sollte es doch nur das Deinige sein, Unmensch!« Doch, wie plötzlich inspiriert und umgewandelt, setzt er nach einer Pause hinzu: »Verzeiht! Der Schmerz nahm mir die Sinne. Es sei – ich gehorche dem Befehl. Erlaubt mir nur eine kurze Vorbereitung.« Mit Verwunderung und erschüttert sehen ihm beide nach, und folgen ihm schweigend.

Wir finden jetzt Friedrich in seinem Kerker, wo Graf Assefeldt eben eintritt, um den Verurteilten zu fragen, ob er ihm noch in irgend etwas dienen könne? Friedrich verlangt bloß zu wissen, ob eine schnell vollzogene Verbindung mit Maria und ihre Einsetzung zu der Erbin seines Namens und Vermögens, unter den jetzigen Umständen gültig sei? »Allerdings«, antwortet der Graf, »aber – der wahre Name und Stand müssen in dem Dokument deutlich und richtig ausgedrückt sein.« Friedrich schaudert, bleibt aber seinem Vorsatz getreu. Der Graf verläßt ihn um Maria zu rufen, die, ein Bild trostloser Verzweiflung, hereingeführt wird. Hierbei muß ich bemerken, daß die Schauspieler in Frankreich dafür sorgen, bei solchen Gelegenheiten so auszusehen, wie es ihre Gemütsstimmung mit sich bringen muß, und nicht, wie ich es in Deutschland so oft erblickte, in der Todesangst und Verzweiflung mit roten Pausbacken erscheinen, oder gar in diesem blühenden Zustande sterben. Friedrich und Marie bieten ein treues Bild des höchsten Schmerzes dar. Er dringt in sie, ihm zu seiner Beruhigung die Gewährung einer Bitte zuzuschwören. »Sein Wort«, ruft sie eifrig, »sei ihr Gebot!« und fällt weinend auf ihre Knie, um seine Vergebung anzuflehen. Sie aufhebend, sagt er: »Was hätte ich Dir zu verzeihen! Dir allein, Maria, danke ich das wenige Glück, dessen ich genoß! In wenig Minuten wirst Du mein Weib, in wenigen Stunden meine Witwe sein. Vergiß dann die Vergangenheit ganz und lebe ein neues glücklicheres Leben!« Die traurige Zeremonie geht in Gegenwart des Grafen vor sich. Eine Ordonnanz tritt gleich darauf ein, und bringt einen Brief des alten Barons. »Gottlob«, ruft der Graf, auf die Begnadigung des Statthalters hoffend. Im Lesen aber verhüllt er sein Gesicht: »der unglückliche junge Mann«, sagt er, tief seufzend, »jetzt ist er verloren!« denn der Baron schreibt, daß er den Statthalter nicht im Haag gefunden, ihm zwar sogleich nachgereist sei, aber noch nicht wisse, wo er ihn antreffen werde. Er beschwört daher um Aufschub, den der Graf leider nicht imstande ist zu gewähren, ohne die Einwilligung des Onkels Vatheks, welche nicht zu hoffen steht. Die Wache erscheint jetzt, und Friedrich wird abgeführt. Die sich verwandelnde Szene führt uns in eine freie Landschaft mit belebten Kanälen im Hintergrunde. Haufen Volks versammeln sich, die Exekution mit anzusehen, stoßen aber dabei wilde Drohungen gegen die grausamen Richter aus, welche zuletzt in Empörung ausarten. Das Schafott wird gestürmt und zertrümmert, Soldaten rücken an, Tumult und Gefecht füllt das Theater. Vatheks Onkel, an der Spitze des Militärs, stellt jedoch die Ordnung wieder her, und befiehlt, da das Schafott zertrümmert sei, den Balkon eines nahen Hauses zur Hinrichtung einzurichten. Man hört, seitwärts der Bühne, die Arbeiter beschäftigt, während Graf Assefeldt vergebens seine Bitten um Aufschub mit ernsten Drohungen vermischt. Der Zug erscheint. Friedrich, gefesselt in der Mitte, und Polder im roten Gewande seines Amts, das breite Schwert entblößt in der Hand haltend, ziehen im Hintergrund der Bühne vorüber. Soldaten mit gefälltem Bajonett wehren der empörten Menge. Langsam verschwindet der Zug, der Graf bleibt allein, in höchster Bekümmernis, mit einem Diener zurück. Wie in der ›Jungfrau von Orleans‹, gibt der Diener, der auf eine Erhöhung gestiegen ist, dem Grafen, der sich voll Abscheu abgewendet hat, Nachricht von dem, was vorgeht. Endlich ruft der Späher von oben herab: »Jetzt kniet der junge Herr Baron nieder... sie verbinden ihm die Augen – der Scharfrichter naht sich ihm... O mein Gott!...« und hier hört man einen dumpfen Schlag hinter der Szene, wie von einem Schwert, das auf den Block fällt. Der Graf verhüllt sein Gesicht und tritt schaudernd zurück, als Polder leichenblaß in seinen Mantel gehüllt, von zwei Bürgern unterstützt, herbeigeführt wird, während lautes Getöse hinter der Szene erschallt. »Gerechter Himmel! Was habt Ihr getan!« ruft der Graf. »Seht hier, was ich getan«, erwidert Polder mit schwacher Stimme, und den Mantel aufschlagend, hält er ihm den verbundenen Stumpf seines rechten Armes hin, von dem er sich eben die Hand selbst abgehauen. »Mein junger Freund«, setzte er matt hinzu, »ist nun wenigstens auf mehrere Stunden sicher.« Das Volk strömt in dumpfer Betäubung herbei, aber mit ihnen auch Vatheks Onkel, der wütend befiehlt, den pflichtlosen Scharfrichter sogleich in das tiefste Gefängnis zu werfen. Doch indem er noch spricht, erschallt von fern ein ängstliches Rufen, man hört den Galopp eines Pferdes, und sieht Baron Steewens, vom schäumenden Roß springend, den ›Pardon‹ des Statthalters hoch empor halten, laut: »Gnade! Gnade!« rufen, und dann erschöpft den Umstehenden in die Arme sinken. Graf Assefeldt öffnet das Papier, liest laut die Begnadigung Friedrichs, und kündigt zugleich dem ersten Magistrat vorläufige augenblickliche Dispensation seines Amtes an. Tief gerührt umarmt er den Befreiten, und der Vorhang fällt. –

Ich weiß recht gut, welche lange Litanei Kunstrichter hier hören lassen können, von gemeinen Verhältnissen, théâtre-coup, Unwahrscheinlichkeiten u.s.w. Man bedenke, ich wiederhole es, daß nur von einem Melodram die Rede ist, an das man keine großen Forderungen machen darf, aber dennoch bin ich überzeugt, daß kein unbefangner frischer Sinn diese Vorstellung ohne lebhaft erregtes Interesse sehen wird. Laß uns nun zu dem Théâtre Français übergehen, das ich, der Bekanntschaft der Stücke wegen, kürzer abfertigen kann.

Nach einem griechisch-französischen Trauerspiel, in dem die antiken Gewänder vergebens Franzosen zu Griechen stempeln sollten, der alte Held der Provinzen, Joanny, vergebens eine schwache Kopie des göttlichen Talma aufzustellen versuchte, und auch die (wahrlich jetzt au delà de la permission häßliche) Duchesnois mit weinerlicher, veralteter und versteinerter Manier am Ende jeder Phrase vergebens mit den Händen in der Luft, ebenfalls à la Talma, gezittert, die übrigen aber eine wahrhaft trostlose Mittelmäßigkeit abgehaspelt hatten, wurde, zum Schluß, der ›Mercure galant‹ aufgeführt. Die abgetragenen gestickten Seidenkleider verrieten die längst vergangene Zeit, in der dieses Stück spielt, ebensosehr, als es die Unbehilflichkeit tat, mit der diese Tracht von den neuen Schauspielern getragen wurde. Die Damen hatten es sich dagegen bequem gemacht, und waren nach der neuesten heutigen Mode gekleidet. Die Komödie ist ganz ohne Intrige, nur ein damaliges Gelegenheitsstück, das jetzt zu geben fast absurd ist. Als Haupt-pointe erscheint ein alter Herr, der, kurz vor der Hochzeit, das Verhältnis mit seiner jungen Braut abbricht, und als er, vor dem jungen Mädchen und ihrer Freundin, darüber vom Bruder zur Rede gestellt wird, ganz einfach antwortet: »C'est tout simple, j'ai peur d'être cocu«, worauf er ein paar Hundert Verse rezitiert, die dieses Thema in's grellste Licht setzen. Das Stück schließt mit der Aufgabe eines Rätsels. Niemand kann es erraten, der Autor enthüllt es also selbst. Was ist es? – un pet. »Ah«, ruft die junge Dame, »il fallait avoir bon nez pour deviner cela« – und mit diesem klassischen Witz fällt der Vorhang. Ce pauvre pet me semblait, en vérité, le dernier souffle du Théâtre Français!

Abgerechnet, que tous les genres sont bon, hors le genre ennuyeus, möchte der Inhalt dieser letzten pièce sich doch wohl besser für ein Winkelgäßchen der Vorstadt geschickt haben. Was aber noch merkwürdiger erscheint, ist, daß auf diesem hochtrabenden klassischen National-Theater selbst notgedrungen jetzt auch Melodramen, (wenigstens dem Inhalt nach, wenn auch ohne Musik), gegeben werden, und nur diese noch Zuschauer herbeiziehen, wie das einzige dermalige Kassenstück, ›Der Spion‹, zur Genüge beweist.

So pflanzt ein Theater nach dem andern die romantische Fahne mehr oder weniger glücklich auf, und Tragödien und Schauspiele, à la Shakespeare, wie die Franzosen sagen, erscheinen daselbst täglich, die, ohne fernere Gewissensbisse des Autors und Publikums, alle verehrten Einheiten über den Haufen werfen.

Die Revolution hat die Franzosen in jeder Art neu geboren; – auch ihre Poesie wird eine neue werden, und das nimmer neidische Deutschland ruft ihnen freudig zu: Glück auf!


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