Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Den 26sten

Der Herzog von Northumberland hatte die Güte, mir diesen Morgen seinen sehenswerten Palast en detail zu zeigen. Ich fand hier etwas, was ich lange vergebens zu sehen gewünscht, nämlich ein Haus, in dem, bei hoher Pracht und Eleganz, das Größte wie das Kleinste mit völlig gleicher Sorgfalt und Vollkommenheit ausgeführt ist – où rien ne cloche.

Ein solches Ideal ist wirklich hier erreicht. Man findet auch nicht die geringste Kleinigkeit vernachlässigt, keine schiefe Linie, keinen Schmutzfleck, nichts Faniertes, nichts aus der façon Gekommenes, nichts Abgenutztes, nichts Unechtes, kein meuble, keine Türe, kein Fenster, das nicht in seiner Art ein wahres Meisterstück der Arbeit darböte.

Diese außerordentliche Gediegenheit hat freilich mehrere hunderttausend L. St. und gewiß nicht geringe Mühe gekostet, aber sie ist auch vielleicht einzig in ihrer Art. Die reichste Ausschmückung von Kunstschätzen und Kuriositäten aller Art fehlt ebenfalls nicht. Die Aufstellung der letzteren in, mit violettem Samt ausgeschlagenen, Terrassenschränken, hinter Spiegelgläsern aus einem Stück, war sehr geschmackvoll. Besonders auffallend ist die große Marmortreppe, mit einem Geländer aus vergoldeter Bronze. Die Wange von poliertem Mahagoniholz, welche das Geländer deckt, bildet eine ganz eigentümliche Merkwürdigkeit dar. Es ist nämlich durch eine Vorrichtung, die noch ein Geheimnis ist, das Holz so behandelt, daß es durchaus unmöglich ist, auf der ganzen Länge der mehrmals gewundenen Treppe irgendwo auch nur die mindeste Spur einer Fuge zu entdecken. Das Ganze scheint aus einem Stück zu sein, oder ist es wirklich.

Eine andere Sonderbarkeit ist eine falsche porte cochère in der äußern Hausmauer, die nur bei Festen für den größeren Andrang der Wagen geöffnet wird, und wenn sie zu ist, in der façade nicht mehr aufgefunden wird. Sie ist von Eisen, und durch den Anwurf einer Steinkomposition und ein falsches Fenster so vollständig maskiert, daß man sie von dem übrigen Hause nicht unterscheiden kann. Über die Gemälde ein andermal mehr.

Beim Herzog von Clarence lernte ich abends einen interessanten Mann kennen, Sir Gore Ousely, den letzten Ambassadeur in Persien, den der Verfasser des ›Hadjji Baba‹, Herr Morier, als Legations-Sekretär begleitete.

Ich muß Dir ein paar jenes Land charakterisierende Anekdoten mitteilen, die ich von ihm erzählen hörte.

Der jetzige Schah wurde von seinem ersten Minister Ibrahim Chan, der ihn früher auf den Thron gesetzt, als er noch ein Kind war, lange in solcher Abhängigkeit erhalten, daß er nur dem Namen nach regierte. Es war ihm um so unmöglicher, Widerstand zu leisten, da jede Gouverneurstelle der Provinzen und ersten Städte des Reichs ohne Ausnahme durch Verwandte und Kreaturen des Ministers besetzt worden war. Endlich beschloß der König, um jeden Preis sich einer solchen Sklaverei zu entziehen, und wählte folgendes energische Mittel dazu, welches den echten orientalischen Charakter an sich trägt. Es existiert nämlich, nach den alten Gesetzen des Reichs, eine Klasse Soldaten in Persien, die in allen Hauptstädten nur sparsam verteilt ist, und des ›Königs Garde‹ heißt. Diese befolgen keine andern Befehle als solche, welche unmittelbar vom König selbst gegeben werden, und mit seinem Handsiegel unterzeichnet sind, daher auch diese Garden allein vom alles beherrschenden Minister unabhängig geblieben waren, und die einzige sichere Stütze des Throns bildeten. An die Chefs dieser Vertrauten erließ der König nun im Geheimen selbstgeschriebene Befehle, die dahin lauteten, an einem gewissen Tage und Stunde alle Verwandten Ibrahims im ganzen Reiche zu ermorden. Als die bezeichnete Stunde herannahte, hielt der Schah einen Divan, suchte während desselben Streit mit Ibrahim herbeizuführen und als dieser, wie gewöhnlich, einen hohen Ton annahm, befahl er ihm, sich sofort in das Staatsgefängnis zu begeben. Der Minister lächelte, indem er erwiderte: Er werde gehen, der König möge jedoch bedenken, daß jeder Gouverneur seiner Provinzen deshalb Rechenschaft von ihm fordern werde. »Nicht mehr, Freund Ibrahim«, rief der König heiter; »– nicht mehr –« und indem er seine englische Uhr hervorzog und dem betretenen Minister einen verderbenden Blick zuwarf, setzte er kaltblütig hinzu: »In dieser Minute hat der letzte Deines Blutes zu atmen aufgehört, und Du wirst ihm folgen.« – Und so geschah es.

Die zweite Anekdote zeigt, daß der König zugleich nach dem Prinzip der französischen chanson handelte, welche sagt: ›quand on a dépeuplé la terre, il faut la répeupler après‹.

Sir Gore bat bei seiner Abschieds-Audienz den König, ihm gnädigst zu sagen, wie viel Kinder er habe, um über einen so interessanten Umstand seinem eignen Monarchen Rechenschaft geben zu können, wenn dieser sich darnach, wie zu vermuten stehe, erkundigen sollte. »Hundertvierundfünfzig Söhne«, erwiderte der Schah. »Darf ich nochmals Ew. Majestät zu fragen wagen, wie viel Kinder?« – Das Wort Mädchen durfte er nach der orientalischen Etikette nicht aussprechen, und die Frage überhaupt war schon nach dortigen Ansichten fast eine Beleidigung. Der König indes, der Sir Gore sehr wohl wollte, nahm es nicht übel auf. »Aha ich verstehe«, lachte er ihm zu und rief nun seinen obersten Verschnittenen herbei: »Musa! wie viel Töchter habe ich?« – »König der Könige«, antwortete Musa, sich auf sein Angesicht niederwerfend: »Fünfhundert und Sechzig.« – Als Sir Gore Ousely diese Unterredung in Petersburg der Kaiserin Mutter erzählte, rief sie bloß aus: ›Ah, le monstre!‹


Den 29sten

Da die season sich nun (gottlob!) ihrem Ende naht, so gedenke ich in kurzem eine Reise nach dem Norden von England und Schottland anzutreten, wohin ich auch mehrere Einladungen erhalten habe, mich aber lieber in Freiheit erhalten will, um das Land à ma guise zu durchstreifen, wenn es Zeit und Umstände erlauben.

Wir hatten heute einen der schönsten Tage, seit ich in England bin, und als ich abends vom Lande zurückkehrte, wo ich zeitig beim Grafen Münster gespeist, sah ich zum erstenmal hier eine italienische Beleuchtung der Ferne mit Blau und Lila so reich geschmückt, wie ein Gemälde Claudes.

Apropos, als Notiz zur Nachahmung muß ich Dir noch einen sehr hübschen Blumentisch der Gräfin beschreiben. Die Platte ist kristallhelles Glas, darunter ein tiefer Tischkasten, in welchen feuchter Sand getan wird, und ein feines Drahtnetz darübergelegt, in dessen Zwischenräume man dicht, eine neben der andern, frische Blumen steckt. So schiebt man den Kasten wieder ein, und hat nun zum Schreiben und Arbeiten das schönste Blumengemälde vor sich. Will man sich aber am Dufte erlaben, so schlägt man den Glasdeckel auf, oder nimmt ihn ganz weg, wozu er eingerichtet ist.

Die Kinderbälle sind in dieser season sehr an der Tagesordnung, und ich besuchte abends einen der hübschesten dieser Art bei Lady Jersey. Diese vornehmen nordischen Kinder waren alle möglichst aufgeputzt; und viele nicht ohne Grazie, aber es tat mir ordentlich weh, zu bemerken, wie sehr sie schon aufgehört hatten, Kinder zu sein, denn die armen Dinger waren größtenteils schon ebenso unnatürlich, so unlustig, und so mit sich selbst beschäftigt, als wir größern Figuren um sie her. Italienische Bauernkinder würden hundertmal liebenswürdiger gewesen sein. Nur beim Essen erschien der angebotene Trieb wieder offner und ungenierter, und die durchbrechende Sinnlichkeit setzte die Natur wieder in ihre Rechte ein. Das hübscheste und reinste dieser Naturgefühle war die Zärtlichkeit der Mütter, die sich ohne Affektation in ihren glänzenden Blicken verriet, und manche Häßliche sehr leidlich erscheinen machte, die Schönen aber zu höherer Schönheit verklärte.

Ein zweiter Ball bei Lady R... bot nur die hundertste Wiederholung des gewöhnlichen stupiden Gedränges dar, in dem der arme Prinz B..., für dessen Korpulenz diese Presse nicht geeignet ist, ohnmächtig geworden war, und auf das Treppengeländer gelehnt, wie ein abstehender Karpfen nach Luft schnappte. Vergnügen und Glück werden doch auf sehr seltsame Weise in der Welt gesucht.


Den 3ten Juli

Um eine einsame Fischmahlzeit zu machen, ritt ich nachmittags, nach einem großen Umweg, gen Greenwich. Die Aussicht von der dortigen Sternwarte ist besonders dadurch merkwürdig, daß das ganze Stück Erde, welches man übersieht, fast nur von der Stadt London eingenommen wird, denn immer weiter und weiter breitet sie seit Jahren ihre Polypenarme aus und verschlingt einen der kleinen Örter, die sie umgeben, nach dem andern. Freilich, für eine Population, die bald der des Königreichs Sachsen (seit dieses jüdisch behandelt, nämlich beschnitten wurde) gleichkommt, bedarf es Platz.

Ich kehrte in der Ship-Taverne ein, übergab mein Pferd dem Hausknecht (denn ich war ganz allein, und die Wartung der Pferde ist hier so allgemein vortrefflich, daß man das beste Pferd unbedingt der Sorge des hostler in jedem Gasthofe überlassen kann) und erhielt ein sehr nettes Zimmer, mit einem über die Themse hervorspringenden Erker, unter dem die Fische noch herumschwammen, die ich, menschliches Raubtier, bald unbarmherzig verzehren sollte. Der Fluß war durch hundert Barken belebt, Gesang und Musik tönte freundlich von den vorbeisegelnden Dampfschiffen herüber, und die Sonne senkte sich über der bunten Szene, blutrot im leichten Nebelschleier, dem Horizonte zu. Ich gab, am Fenster sitzend, meinen Gedanken vielfache Audienz, bis die hereinkommenden Seeaale, flounders und sole, alle auf verschiedene Art zubereitet, mich zu materiellerem Genusse aufforderten. Champagner in Eis und Lord Chesterfields Briefe, die ich zu mir gesteckt, würzten das Mahl, und nach einer kleinen Siesta, während der die Nacht eingebrochen war, bestieg ich wieder mein Roß und ritt die anderthalb deutschen Meilen bis zu meiner Wohnung in einer ununterbrochenen Allee von hellschimmernden Gaslaternen, auf der wohlarrosierten Straße langsam nach Hause. Es summte gerade Mitternacht, als ich dort ankam, und ein schwarzbehangener Sarg fuhr, wie eine Geistererscheinung, links an mir vorüber.


Den 5ten

Auf Almacks gab mir B... Deinen Brief, und ich eilte sogleich damit home. Wie sehr haben mich Deine Schilderungen gefreut, und fast hätte ich über die ehrlichen alten Parkbäume geweint, die mir durch Dich zuriefen: O Herr, hörst Du nicht, von tausend Vögelchen belebt, unsrer Wipfel Rauschen?... Ach ja! ich höre es im Geiste, und werde auch nicht eher wieder wahre Freude empfinden, bis ich dort angelangt bin, wo meine treueste Freundin weilt und wo meine Pflanzenkinder mir entgegenwachsen. Für das fünfblättrige Kleeblatt danke ich vielmals, und da das Pferd des beigefügten, tausend Glück bringenden, Wiener Postillons unterwegs seinen Schweif verloren hat, so habe ich diesen durch das Kleeblatt ersetzt, welche Vegetabilie ihm ein wahres heiliges Allianz-Ansehen gibt.

Hier unterbrach mich der alte B...dt mit der Frage, ob er den Rest der Nacht wohl ausgehen dürfe, früh um 8 Uhr sei er wieder da. Ich gab lächelnd meine Erlaubnis und frug, welche Abenteuer er sich denn vorgenommen? »Ach«, war die Antwort, »ich will bloß einmal Hängen sehen und wie sie das hier machen, denn um 5 Uhr sollen fünf auf einmal gehenkt werden.«

Welcher Mißton klang mit diesen Worten in mein Leben voll Saus und Braus! Welcher Kontrast mit den Tausenden, von Tanz und Lust Ermüdeten und Übersättigten, die um jene Stunde zu behaglicher Ruhe zurückkehren, und jenen Unseligen, die unter Todesangst und Schmerzen zur ewigen eingehen müssen. Ich rief wieder mit Napoleon: »O monde, o monde!« und konnte lange nach dem in Frivolität vergeudeten Tage nicht einschlafen, verfolgt von dem Gedanken, daß eben jetzt die armen Unglücklichen geweckt würden, um von der Welt und ihren Freuden einen so schaudervollen Abschied zu nehmen, nicht gehoben und gen Himmel getragen durch das Gefühl, Märtyrer des Guten und Großen zu sein, sondern sich der gemeinen, der erniedrigenden Schuld bewußt. Man bemitleidet den, der unschuldig leidet, weit bemitleidungswerter scheint mir der Schuldige!

Meine Einbildungskraft geht, einmal angeregt, immer etwas weiter als rätlich, und so erschien mir auch jetzt aller eitle Genuß, alle jene die Armut und das Elend höhnenden raffinements des Luxus eine wahre Sünde, und recht oft fühle ich mich in dieser Stimmung. – Nicht selten hat es mir die beste Mahlzeit verbittert, wenn ich die armen Diener betrachtete, die zwar gegenwärtig sein dürfen, aber nur als zureichende Sklaven, und doch von derselben Mutter Natur geboren sind – oder an den Dürftigen dachte, der nach des langen Tages angestrengter Arbeit die karge ärmliche Nahrung am Abend kaum erschwingen kann, während wir, wie auf jener englischen Karikatur, überfüllt von Genuß, den Bettler um seinen Hunger beneiden! Darin eben liegt aber vielleicht die Kompensation und unsere Entschuldigung, daß wir aller dieser guten und gerechten Gefühle ungeachtet (ich schließe von mir auf andere) uns dennoch sehr entrüsten würden, wenn der erwähnte Diener Tantalus einmal mit uns von der wohlbesetzten Tafel zulangen, oder der Arme im unhochzeitlichen Kleide sich selbst bei uns zu Tische bitten wollte. Gott hat es selbst so angeordnet, daß die einen genießen, die andern entbehren sollen, und es bleibt so in der Welt! Jedem Ruf der Freude ertönt am andern Ort ein Echoschrei der Angst und Verzweiflung, und wo Raserei sich hier den Kopf zerschmettert, fühlt ein andrer in demselben Augenblick das höchste Entzücken der Lust!

Also gräme sich niemand unnütz darüber, wenn er auch weder verdient noch begreift, warum es ihm besser oder schlechter als andern geht. Das Schicksal liebt einmal diese bittere Ironie – drum pflückt, o Menschen, die Blumen kindlich so lange sie blühn, teilt ihren Duft, wo ihr könnt, auch andern mit, und bietet männlich dem eignen Schmerz eine eherne Brust.


Den 7ten

Ich kehre wieder zur Tages-Chronik zurück

Nachdem ich bei Sir L... dem Epikureer, gegessen, brachte ich den Abend in einer kleinen Gesellschaft bei der Herzogin von Kent sehr angenehm zu; denn die hiesigen Hofzirkel, wenn man sie so nennen will, haben gar nichts Ähnliches mit denen des Kontinents, welche den distraiten Grafen R... einst verführten, dem Könige von B..., der ihn frug, wie er sich auf dem heutigen Balle amüsiere, zu antworten: »O, sobald der Hof weg ist, denke ich sehr lustig zu sein.«

Ganz spät fuhr ich von hier noch zu einem Ball bei der Fürstin L..., eine Dame, deren Feste ihrer Vornehmheit par excellence stets völlig angemessen sind. Das hier zufällig angesponnene Gespräch mit einem andern Diplomaten verschaffte mir einige nicht uninteressante Notizen. Er erzählte von jener diffizilen Mission, deren Aufgabe war, die Kaiserin der Franzosen mitten aus einer, Napoleon noch ganz ergebenen Armee, die aus wenigstens 12 000 Mann auserlesener Truppen bestand, gutwillig zu entführen. Wider alles Vermuten fand er aber bei Marie Luise fast gar keinen Widerstand und sehr wenig Liebe zum Kaiser (was auch wohl die Folge bestätigt hat). Der kleine fünfjährige König von Rom allein weigerte sich standhaft zu folgen und konnte nur mit Gewalt dazu gezwungen werden, so wie er sich auch, wie durch einen heldenmäßigen Instinkt geleitet, schon in Paris ebenso bestimmt der püsillanimen Abreise der Regentschaft nicht anschließen wollte. Die Rolle, welche manche andere bekannte Männer dabei spielten, übergehe ich, aber sie bestärkte mich in der Überzeugung, daß die französische Nation sich nie so tief unter ihrer Würde gezeigt, als zu der Zeit der Abdikation Napoleons.


Den 10ten

Es wird nun so drückend heiß, wie ich es in diesem Nebellande kaum für möglich gehalten hätte. Der Rasen in Hyde Park gleicht der Farbe des Sandes, und die Bäume sind fahl und vertrocknet, auch die squares in der Stadt sehen ungeachtet alles Begießens, nicht viel besser aus. Demungeachtet werden die Grasplätze fortwährend so sorgfältig geschoren und gewalzt, als ob wirklich noch Gras darauf vorhanden wäre. Gewiß könnte man mit gleicher Pflege und Sorgfalt im südlichen Deutschland schöneren Rasen als hier erzielen, aber man wird es doch nie dahin bringen, denn wir sind zu bequem dazu.

Mit der Hitze leert sich auch London täglich mehr, und die season ist so gut wie vorbei. Zum erstenmal befand ich mich heute ohne irgend eine Einladung und benutzte die Freiheit sogleich zu verschiedenen Exkursionen. Unter andern besah ich die Gefängnisse von King's Bench und Newgate. Das erste, welches hauptsächlich für Schuldner bestimmt ist, bildet eine völlig isolierte Welt im kleinen, einer nicht unbedeutenden Stadt ähnlich, welche jedoch von ungewöhnlichen, nämlich dreißig Fuß hohen, Mauern umgeben ist. Garküchen, Leihbibliotheken, Kaffeehäuser, Buden und Handwerker aller Art, schönere und ärmlichere Wohnungen, selbst öffentliche Plätze und Mädchen, auch ein Markt, fehlen nicht. Auf dem letztern wurde bei meiner Ankunft eben sehr geräuschvoll Ball gespielt. Wer Geld mitbringt, lebt, bis auf die Freiheit, im Bezirk des Orts so gut und angenehm als möglich. Selbst an sehr anständiger Gesellschaft von Damen und Herren ist in der kleinen commune von tausend Menschen nicht immer Mangel, nur wer nichts hat, ist übel dran. Für einen solchen aber ist ja jeder Fleck der Erde ein Gefängnis! Lord Cochrane hat eine Zeit in King's Bench zugebracht, als er, um die fonds fallen zu machen, eine falsche Nachricht hatte verbreiten lassen, und der reiche und angesehene Sir Francis Burdett saß ebenfalls hier geraume Zeit wegen eines Libells, das er verfaßt. Der Gefangene, welcher mich herumführte, war bereits zwölf Jahre ein Bewohner dieses Orts, und äußerte mit dem besten Humor, daß er wohl nie mehr herauszukommen Hoffnung habe. Ähnlich sprach sich eine alte, sehr anständige Französin aus, die gar nicht einmal ihre Verwandten von ihrer Lage unterrichten wollte, indem sie hier zufrieden lebe, und nicht wisse, wie es ihr in Frankreich ergehen möchte, wohl eingedenk, que le mieux est l'ennemi du bien.

Schlimmer sieht es in Newgate, dem Gefängnisse für Verbrecher, aus. Aber auch hier herrschte viel Milde in der Behandlung, und dabei eine musterhafte Reinlichkeit. Das Gouvernement gibt jedem Verbrecher früh eine halbe Kanne dicke Gerstenschleim-Suppe, mittags den einen Tag ein halbes Pfund Fleisch, den andern Fleischbrüh-Suppe, und täglich ein Pfund gutes Brot. Außerdem ist ihnen auch noch anderes Essen und eine halbe Flasche Wein täglich zu kaufen erlaubt. Sie beschäftigen sich den Tag über, wo sie sich in besondern Höfen, die zu einer gewissen Anzahl Stuben gehören, aufhalten können, wie und womit sie wollen. Für diejenigen welche arbeiten wollen, gibt es Werkstätten; viele aber rauchen und spielen nur von früh bis abends im Hofe. Um 9 Uhr morgens müssen sich alle zum Gottesdienst versammeln. Gewöhnlich wohnen 7-8 in einer Stube. Zum Schlafen erhalten sie jeder eine Matratze und zwei Decken, auch Kohlen zum Kochen, und im Winter zum Heizen, so viel nötig ist. Die zum Tode Verurteilten kommen in besondere, etwas weniger kommode Zellen, wo zwei bis drei in einer schlafen. Am Tage haben indes auch diese ihren Hof zur recreation und zum Essen eine besondere Stube. Ich sah sechs Knaben, wovon der älteste kaum vierzehn Jahre zählte, und die alle unter Todesurteil schwebten, sehr lustig hier rauchen und spielen. Das Urteil war indessen noch nicht bestätigt und sie daher noch mit den übrigen Gefangenen zusammen. Man glaubte, sie würden begnadigt und nur zeitlebens nach Botany Bay geschickt werden.

Vier Ältere, die sich in derselben Lage befanden, nur mit dem Unterschied, daß sie, wegen zu schwerer Verbrechen, auf keine Begnadigung rechnen durften und ihr Lebensende in wenig Wochen erwarten mußten, nahmen demohngeachtet ihr Schicksal noch humoristischer auf als jene, denn drei davon spielten sehr geräuschvoll, unter Späßen und Gelächter ›Whist mit dem toten Mann‹, der vierte aber saß auf dem Fensterbrett, wo er eifrig in einer Grammatik studierte, um – französisch zu lernen! C'était bien un Philosophe sans le savoir.


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