Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Sechsundvierzigster Brief

Salisbury, den 27sten Dezember 1828

Geliebte Freundin!

Gestern abend sieben Uhr verließ ich Bath, wiederum mit der mail, für Salisbury. Ich fand mich allein im Wagen mit einer Witwe in tiefer Trauer, demohngeachtet hatte sie sich schon wieder einen Liebhaber angeschafft, der vor dem Tore, als blinder Passagier, (aber kein Amor, sondern echter John Bull) Einlaß erhielt. Er unterhielt uns, wenn er nicht von der Landwirtschaft sprach, mit gräßlichen Tagesneuigkeiten, die die Engländer so sehr lieben, daß ihre Zeitungskolonnen täglich damit angefüllt sind. Zwei junge Leute, erzählte er unter andern, Arbeiter in einer Tuchfabrik in Exeter, fielen vor acht Tagen, miteinander schäkernd und sich jagend, in eine kochende Masse, welche viele Grade heißer als hochsiedendes Wasser ist. Obgleich beide nach vorwärts fielen, sprangen doch auch beide im Nu wieder heraus, rannten aber, wie wahnsinnig, gegen die vorstehende Wand, wo sie in Konvulsionen verschieden. Ihr Anblick sollte, nach Aussage der Augenzeugen, über alle Beschreibung furchtbar gewesen sein, weil in der ungeheuern Hitze alles von den Kleidern ungeschützte Fleisch, im Augenblicke gänzlich konsumiert worden war, und sie daher mit noch lebenden Totenschädeln auf den Schultern aus der Pfanne hervorstürzten. Vielleicht war auch der Mann, der uns solche furchtbaren Dinge mitteilte, nur ein accident-maker, denn er hörte nicht auf mit Schreckensgeschichten und behauptete nachher, die Holyhead-mail, dieselbe, mit der ich gekommen, sei einige Tage darauf bei einem Wolkenbruch weggeschwemmt worden, und Pferde und Kutscher nebst einem der Passagiere dabei ertrunken. Ist es wahr, so freue ich mich allerdings, eine so viel passendere Zeit zu ihrem Gebrauch gewählt zu haben. Nach einigen Stunden verließ mich das zärtliche Paar in einem Orte, wo die Witwe einen Gasthof besaß (wahrscheinlich der wirkliche Gegenstand von John Bulls Zärtlichkeit), und ich blieb nun ganz allein. Es dauerte aber nicht lange, so bat ein sehr hübsches junges Mädchen, das wir in der Dunkelheit einholten, sie bis Salisbury mitzunehmen, da sie sonst die Nacht im nächsten Dorfe zubringen müsse. Ich erteilte die Erlaubnis sehr gern und versprach sogar dem Kutscher die Bezahlung zu übernehmen, worauf ich von der Dankbaren vernahm, daß sie eine Putzmacherin sei, und zur Christmas sich bei ihren Eltern etwas über die Zeit verspätet, aber gleich auf die Durchfahrt der mail gerechnet habe. Die Unterhaltung war jedenfalls angenehmer, als neulich mit der siebenzigjährigen Puritanerin, so daß ich die Zeit sehr kurz vergangen fand, als wir um Mitternacht die Stadt erreichten, wo ich ein gutes Souper, dann aber nur ein rauchendes und kaltes Schlafzimmer zur Nachtruhe erhielt.


Den 28sten

Schon früh am Morgen weckte mich das eintönige Geplätscher eines sanften Landregens, so daß ich noch immer (es ist bereits Mittag) lesend beim Frühstück sitze. Ein gutes Buch ist doch eine wahre Elektrisiermaschine! Die eignen Gedanken sprühen dabei auch manchmal wie ein Feuerwerk; sie verlöschen aber gewöhnlich ebenso schnell, denn wollte man die Funken gleich mit Feder und Tinte fixieren, so hörte der Genuß auf, und, wie beim Traume, wäre es nachher der Mühe doch vielleicht nicht wert. Das Buch, von dem ich mich heute magnetisieren ließ, ist eine sehr ingeniöse, und admirabel zum Selbstunterricht eingerichtete, fortlaufende Verbindung von Geschichte, Geographie und Astronomie, in ihren Grundzügen. Diese kleinen Enzyklopädien sind eine große Bequemlichkeit unsrer Zeit. Freilich kommt wahrer Nutzen immer erst mit dem Studium des Details, indessen müssen die Mauern doch erst hergestellt sein, ehe man die Gemächer ausschmücken kann. Bei einem wie dem andern Studium aber, halte ich Selbstunterricht für den erfolgreichsten, wenigstens war er es bei mir – gewiß ist es jedoch, daß manche Menschen überhaupt und auf keine Art etwas wahrhaft lernen können. Studieren sie z. B. Geschichte, so macht sie ihnen nie das Ewige und Wahre anschaulich; es bleibt für sie nur eine Chronik, die ihr vortreffliches Gedächtnis an den Fingern abzählt. Jede andre Wissenschaft wird von ihnen ebenfalls nur mechanisch erlernt und bleibt bloßes Buchstabenwerk. Dennoch wird in der Regel grade dies gründliches Wissen genannt, ja die meisten Examinatoren von Profession verlangen nichts mehr. Das Unwesen, das in dieser Hinsicht noch an manchen Orten getrieben wird, würde zu ergötzlichen Anekdoten Anlaß geben, wenn man es näher beleuchtete. Ich kenne unter andern einen jungen Mann, dem, im diplomatischen Examen, welches erst kürzlich in einer gewissen Residenz eingeführt worden war, die Frage vorgelegt wurde: ›wieviel wiegt ein Kubikfuß Holz?‹ – Schade, daß er nicht antwortete: ›wieviel wiegt ein Goldstück‹, oder ›wieviel Gehirn hat ein Dummkopf?‹ Einen andern vom Militärfach frug man daselbst: welches die merkwürdigste Belagerung sei? Ohne zu stocken erwiderte dieser (ein in Deutschland nationalisierter Ausländer): ›die Belagerung von Jericho, weil die Mauern mit Trompeten eingeblasen wurden‹. Man könnte conundrums davon machen, und ich glaube fast, daß diese langweilige Spielerei sich von dergleichen Examinierungen herschreibt. Viele Geistliche fragen jetzt wieder: ›Glauben Sie an den Teufel?‹ Ein mauvais plaisant, der sich vor dem Repuls nicht eben allzusehr fürchtete. antwortete neulich: ›Samiel hilf!‹


Abends

Gegen drei Uhr klärte sich der Himmel ein wenig auf und da ich nur darauf gewartet, eilte ich in den schon im voraus besprochenen gig zu steigen, und fuhr mit einem alten hunter im Galopp nach Stonehenge, dem großen Druidentempel, Grabmal, oder Opferalter. Die Gegend um Salisbury ist sehr fruchtbar, aber leer von Bäumen, und in keiner Art pittoresk. Auch das wunderbare Stonehenge steht nur auf einem weit ausgedehnten kahlen Wiesenhügel. Die feuerrote Sonnenkugel ohne Wolken berührte in demselben Augenblick den Horizont, als ich, erstaunt über das unerklärliche Denkmal, das vor mir lag, an den ersten Druidenstein trat, den die untergehenden Strahlen mit schönem Rosa färbten. Kein Wunder ist es, daß dieses Monument vom Volke dämonischen Kräften zugeschrieben wird, denn kaum würde, selbst in unsern Zeiten, mit allen Hilfsmitteln der Mechanik, ein solches Werk zum zweitenmal zustande zu bringen sein. Wie wurde es also einem fast wilden Volke möglich, solche Massen aufzurichten, und dreißig Meilen weit (denn näher befindet sich kein Steinbruch) herzutransportieren? Das Ganze bildet einen unregelmäßigen Kranz, teils noch aufrecht stehender, teils umgeworfner, halb in die Erde wieder versunkner Cromlechs (zwei aufgerichtete Steine, über die ein dritter gelegt ist). Mehrere von diesen bestehen aus einzelnen Steinen von fünfundzwanzig Fuß Länge und zehn Fuß Breite, wahre Felsen, so daß manche behauptet haben, Stonehenge sei nur ein Spiel der Natur, was jedoch keinem Augenzeugen zu glauben einfallen wird. Ich war nicht der einzige Beschauer. Ein einsamer Fremder wurde mehrmals sichtbar, der, ohne von mir Notiz zu nehmen, schon seit einer Viertelstunde beständig zählend unter den Steinen umherging und sehr ungeduldig etwas zu betrachten schien. Ich nahm mir daher die Freiheit, ihn, als er eben wieder hervortrat, mit einer Frage über sein sonderbares Benehmen zu stören, worauf er mir auch sogleich höflich erwiderte, man habe ihm gesagt, niemand könne diese Steine richtig zählen, jedesmal käme eine andere Zahl heraus, und dies sei ein trick (Schabernack), den Satanas, der Erbauer dieses Werks, den Neugierigen spiele. Er habe nun schon siebenmal, seit zwei Stunden, die Erfahrung bestätigt gefunden und werde gewiß noch närrisch werden, wenn er sie weiter fortsetze. Ich riet ihm daher, lieber davon abzustehen, und sich zu Hause zu begeben, da es ohnehin dunkel werde, sonst könne ihm am Ende Satanas einen noch viel üblern Streich vorbehalten haben. Er fixierte mich satyrisch, mit ganz unheimlichen Augen, sah sich wie nach jemand um, rief dann mit einemmal: »Good bye Sir«, und zog ohne Schatten wie Schlemihl (die Sonne war freilich untergegangen) mit wahren Siebenmeilen-Schritten über die Wiese, wo er unter dem Hügel plötzlich verschwand. Ich eilte nun auch von meiner Seite, mich zur Rückkehr zu rüsten, und trabte bald dem hohen Turme von Salisbury wieder zu, den schon die Dämmerung verdeckte. Kaum war ich indes eine Meile scharf gefahren, als der morsche, hohe gig zusammenbrach und der Kutscher wie ich selbst, ziemlich unsanft auf den Rasen geworfen wurden. Der alte Gaul aber lief mit der abgelösten Gabel, lustig wiehernd, und in verstärkterem Tempo der Chaussee und Stadt zu. Während wir uns mühsam aufrichteten, hörten wir auch Pferdegetrappel hinter uns – es war der Fremde, der auf einem schönen, schwarzen Roß vorbeigaloppierte, und mir lächelnd zurief: »Der Teufel läßt schönstens grüßen, verehrter Herr! Au revoir!« – und damit sprengte er, wie ein Wirbelwind, davon. Dieser Hohn war wirklich ärgerlich. »O, Sie unzeitiger Spaßmacher«, schrie ich ihm scheltend nach, »helfen Sie uns lieber, statt Ihrer Fadaisen!« Aber nur das Echo seiner Hufschläge antwortete uns durch die einbrechende Dunkelheit. Mein Kutscher lief zwar dem entflohenen Klepper eine Meile nach, kam aber bald unverrichteter Sache zurück. Es half nichts, wir mußten uns entschließen, da auch nicht eine Hütte sich auf unserm Wege befand, die übrigen sechs Meilen zu Fuße zu gehen. Nie schien mir ein Weg langweiliger, und wenig nur entschädigten mich die Wundergeschichten, die mir der Kutscher unterwegs von seinem hunter erzählte, als derselbe vor zwanzig Jahren noch der leader (Anführer) der Salisburyschen hunt gewesen sei.


Den 29sten

Ich benutzte den heutigen Tag sehr gut, trug aber, wahrscheinlich noch als Nachwehen von der gestrigen Nachtpartie, abends ein derbes Kopfweh davon. Da es indessen nur rheumatischer Natur ist, kehre ich mich nicht daran, setze meine Füße in Senf, Salz und heißes Wasser, und beginne.

Salisburys weitberühmte Kathedrale rühmt sich des höchsten Turms in Europa. Er ist vierhundertundzehn Fuß hoch, welches fünf Fuß höher ist, als der Straßburger Münster, wenn ich nicht irre, doch ist jener wenigstens weit schöner. Das Äußere des großen Doms zeichnet sich vorzüglich durch ein auffallendes Ansehen von Neuheit und Nettigkeit aus, sowie durch seine gänzliche Vollendung in jedem Detail. Er verdankt dies zwei Hauptreparaturen, die im Laufe der Zeit mit ihm vorgenommen wurden, die erste unter Christoph Wren, die zweite unter Wyatts Aufsicht. Auch die Lage dieser Kirche ist eigentümlich, da sie, wie ein Modell, ganz frei auf einem schöngehaltenen Platze kurzen Rasens steht, den auf der einen Seite des Bischofs Palast und die Cloisters, auf der andern hohe Linden umgeben. Der Turm endet in einer obeliskenartigen Spitze mit einem Kreuze, auf dem, ominös genug, eine Wetterfahne befestigt ist. Dieser geschmacklose Gebrauch schändet die meisten gotischen Kirchen in England. Der Turm steht fünfundzwanzig Zoll aus dem Lot, ohne daß man es jedoch bemerkt, nur im Innern sieht man die weichende Biegung der Pfeiler, die zu seiner Stütze bestimmt sind. Dies Innere des hehren Tempels ist äußerst imposant und von Wyatts Genie noch mehr hervorgehoben. Eine vortreffliche Idee war es, die merkwürdigen alten Monumente von den Wänden und Winkeln abzulösen und frei zwischen die prachtvolle doppelte Pfeilerallee aufzustellen, deren, durch nichts unterbrochne, schlanke Höhe fast Schwindel erregt. Nichts kann sich schöner ausnehmen, als diese lange Reihe von gotischen Sarkophagen, auf denen die Riesenfiguren der Ritter und geistlichen Fürsten ausgestreckt in ihrem ewigen Schlafe liegen, während die Stein- und Metallrüstungen von den bunten Glasfenstern mit allen Regenbogenfarben überglänzt werden. Unter Templern und anderen Rittern liegt hier auch ›Richard Langschwert‹ begraben, der mit dem Eroberer nach England kam; neben ihm eine Riesengestalt in Alabaster, der Schwertträger Heinrich des VII., der bei Bosworth Field blieb und stets mit zwei langen Schwertern, eins rechts, eins links, focht, mit denen er auch hier abgebildet ist.

Die Klöster sind ebenfalls sehr schön. Lange, kunstreiche Galerien führen im Viereck, um den Kapitelsaal, welchen letztern nur eine einzige Säule in der Mitte stützt, wie den Remter in Marienburg. Die Basreliefs, die in breiten Bändern den Saal umgaben, scheinen von sehr guter Arbeit zu sein, sind aber zu Cromwells Zeit halb zerstört worden. In der Mitte steht noch ein halb vermoderter Tisch von Eichenholz aus dem 13ten Jahrhundert, auf dem, nach ziemlich glaubwürdigen Nachrichten, die Arbeiter am Kirchbau jeden Abend ausgezahlt worden sein sollen, und dies zwar damals mit einem Pfennig pro Tag. Die Besteigung des Turms ist sehr beschwerlich. Die letzte Hälfte muß man, wie beim Stephansturme in Wien, auf schmalen Leitern hinanklimmen. Endlich kommt man an eine kleine Dachtüre, dreißig Fuß unter dem Kopfe. Aus dieser Türe steigt der Mann, welcher die Turmfahne wöchentlich ölt, auf eine so gefährliche Art hinaus, daß es beinahe unbegreiflich scheint, wie der siebzigjährige Greis, der diesen Posten bekleidet, es auszuführen imstande ist. Über dem Fenster hat, wie gesagt, die schmale Turmspitze noch dreißig Fuß Höhe, wo nichts als eiserne Klammern außerhalb zum Hinaufklettern befestigt sind. Der Alte muß nun rückwärts aus der kleinen Luke steigen, sich, wegen des Regendaches, mit dem Oberleibe tief aus derselben hinabbiegen, und so nach der ersten Klammer darüber tappen, ohne sie noch sehen zu können. Hat er sie durch das Gefühl endlich erreicht und fest gefaßt, so schwingt er sich, an ihr in der Luft hängend, daran hinauf, und sucht, während dem, mit den Füßen das Regendach zu gewinnen, von dem er dann von Klammer zu Klammer hinaufsteigt. Gewiß wäre es leicht, eine bequemere und weniger gefährliche Vorrichtung anzubringen, aber der Türmer ist es einmal so von seiner Kindheit an gewöhnt und will es nicht anders haben. Selbst bei Nacht ist er schon diesen halsbrechenden Weg gegangen und freut sich, daß nur selten ein Fremder, selbst Matrosen, die sonst überall hinklettern, es gewagt hat, ihm zu folgen.

Als wir zur ersten, frei um den Turm führenden, Galerie wieder hinabkamen, zeigte mir der Führer einen Habicht, der nur zwanzig bis dreißig Fuß über uns schwebte. »Seit vielen Jahren«, sagte er, »hält sich ein Paar dieser Vögel auf dem Turme auf, und nährt sich von des Herrn Bischofs Tauben. – Ich sehe oft einen oder den andern«, fuhr er fort, »über dem Kreuz sich wiegen und dann plötzlich auf die Vögel unten stoßen; manchmal läßt er sie auch auf das Kirchdach oder die Galerie wieder herabfallen, geht aber nie ein zweitesmal nach einer so verlornen Beute und läßt sie gewiß dort verfaulen, wenn ich sie nicht weghole.« Des Bischofs Palast und Gärten breiteten sich malerisch unter uns aus, und alle Schornsteine rauchten freudig, denn His Lordship waren eben angekommen, präparierten sich aber auch schon wieder zu einer neuen Badereise. In der Kirche, meinte mein Führer, sähe man den Herrn Bischof kaum zwei bis dreimal des Jahres. Predigen täten Hochdieselben nie. Ihr heiliges Geschäft bestehe bloß darin, 15 000 Pf. Sterl. mit so viel Geschmack zu verzehren, als Ihnen der liebe Gott verliehen habe – die Arbeit aber werde hinlänglich von Subalternen verrichtet. Diese schöne Einrichtung ist das einzige, was uns noch auf dem Kontinent fehlt, um ganz glücklich zu sein, das einzige, was der Mühe wert wäre, aus England nachzuahmen. Auf dem Rückwege spazierte ich in dem dämmernden Dom noch eine Weile, unter den herrlichen Monumenten und den alten Rittern umher, die meine Einbildungskraft von neuem aus ihren Gräbern auferstehen ließ – denn alles dies, gute Julie, haben wir ja auch früher miterlebt, und betrachten jetzt mit Verwunderung unsre eignen alten Bilder, wie wir einst als Nachkommen, in tausend Jahren, wieder die jetzigen anstaunen werden. –

Ich hatte Sorge getragen mir für heute einen solideren Wagen als den gestrigen zu verschaffen, und fuhr nun in diesem recht gemächlich nach Wilton, dem schönen Schlosse des Grafen Pembroke. Hier ist eine wertvolle Antiken-Sammlung, die von dem verstorbenen, kunstliebenden Grafen sehr geschmackvoll aufgestellt worden ist. Sie befindet sich in einer breiten, rund um den innern Schloßhof laufenden Galerie, die mit sämtlichen Appartements des ersten Stockes kommuniziert, und ihr reichliches Licht nur von einer Seite erhält. Winter und Sommer gewährt sie daher den interessantesten Spaziergang, und wird mit wenigen Schritten aus jedem Zimmer erreicht. In den Fenstern hat man die bunten Wappen aller Familien angebracht, mit denen die Pembrokes im Laufe der Zeiten durch Heirat alliiert wurden, eine reiche Sammlung, unter der sich auch das Königlich Englische Wappen befindet. In der Halle aber sind die Rüstungen der alten Kriegshelden aus der eignen Familie aufgestellt, und die ihrer vornehmsten Gefangenen, als der Konnetabel von Montmorency, ein französischer Prinz von Geblüt, und mehrere andere. Gewiß, diese alten Erinnerungen einer hohen und mächtigen Aristokratie haben ihre poetische Seite.

Die Kastellanin, welche mich herumführte, schien selbst aus einer jener kolossalen Rüstungen hervorgekrochen zu sein, denn sie war ihre volle sechs Fuß hoch und mit einem Schnurrbart geschmückt, dessen sich der alte Konnetabel nicht zu schämen gebraucht hätte. Auch konnte man nicht besser in der Geschichte des Mittelalters bewandert sein; dagegen mißhandelte sie die Namen römischer Kaiser und griechischer Philosophen auf eine barbarische Weise, erklärte aber ohne Scheu einige sehr leichtfertige Darstellungen ganz richtig und mit sehr drolligen Kennerausdrücken.

Einer der anstoßenden Säle ist abermals mit Familien-Portraits angefüllt, die jedoch mehr Glanz durch Holbein und Van Dyck, als durch die dargestellten Personen erhalten. Nach einiger Zeit überstrahlt in der Regel der Kunstadel den angebornen, comme de raison. Das Schloß enthält außerdem noch mehrere Bilder von Bedeutung, unter denen mir eine Grablegung von Albrecht Dürer, mit großem Detail in Wasserfarben ausgeführt, am auffallendsten war. Ein Garten der Gräfin, auf den sich die Bibliothek-Türen öffnen, ist im altfranzösischen Geschmack angelegt und wird durch einen kleinen, sehr reichlich verzierten Tempel geschlossen, der eine besondere Merkwürdigkeit an sich trägt. Es ist nämlich vom Maler Holbein erbaut, darum aber um nichts geschmackvoller, sondern im Gegenteil ein häßlich überladnes Monument. Desto niedlicher ist der Garten, und es gereicht den englischen Frauen von Rang zur Ehre, daß sich die meisten durch eine ganz überlegne Kunstfertigkeit in dieser Hinsicht auszeichnen. Man würde sich sehr irren, wenn man hoffte, daß irgendein englischer Gärtner imstande wäre, Meisterstücke von Gartenausschmückung, wie ich Dir in meinen früheren Briefen viele geschriebenDiese Briefe gehören den ersten Teilen an, die noch nicht publiziert werden konnten. A. d. H. anzulegen. Diese verdanken alle ihr Dasein nur dem Kunstsinne und der liebenswürdigen Häuslichkeit der Besitzerinnen.

Ich hätte dieses Schloß nicht zu sehen bekommen, da es durchaus verboten war, irgend einen Fremden, ohne eine schriftliche Erlaubnis des Besitzers, einzulassen, wenn ich nicht die unschuldige List gebraucht hätte (welche der Herr des Hauses, wenn er es erfahren, mir nun wohl verziehen haben wird) mich bei der ritterlichen Kastellanin für einen russischen Verwandten der Familie auszugeben, mit einem für sie unlesbaren und unaussprechbaren Namen. Es ist zu unangenehm 4 Meilen gefahren zu sein, eines solchen Zweckes halber, und dann unverrichteter Sache wieder zurückkehren zu müssen, daher lade ich meine Notlüge auf die Schuld der inhumanen englischen Sitten, denn bei uns ist man nicht so grausam, und nie wird hier einem Engländer mit gleicher Illiberalität vergolten.

Auf der andern Seite der Stadt liegt eine zweite interessante Besitzung, Longford, dem Grafen Radnor gehörig, ein weiter Park und sehr altes Schloß, von sonderbarer dreieckiger Form mit ungeheuer dicken Türmen, deren Mauern Mosaik nachahmten. In unansehnlichen, niedrigen und schlecht möblierten Zimmern fand ich hier eine der kostbarsten Gemälde-Sammlungen, ausgesuchte Bilder der größten Meister, wie es deren so viele bei englischen Privatpersonen gibt, verborgene Schätze, die niemand sieht und niemand kennt. Ein Sonnenauf- und -untergang von Claude Lorrain steht oben an. Der Morgen zeigt uns Äneas mit seinem Gefolge am glücklichen Strande Italiens landend, und man beneidet die Ankömmlinge um das Landschaftsparadies, das sich vor ihnen erschließt. Auf dem Abendbilde vergoldet die sinkende Sonne prächtige Ruinen verwachsener Tempel und Paläste, die eine einsame, verwilderte Gegend umgibt. Auf- und Untergang des römischen Reichs sollten dadurch allegorisch dargestellt werden. Wasser, Wolken, Himmel, Bäume, die durchsichtige zitternde Sonnenatmosphäre – es ist, wie immer bei Claude, die Natur selbst, die man nur wie neu geschaffen sieht. Es ist gewiß schwer zu begreifen, wie ein Mann im fünfunddreißigsten Jahre noch Koch und Farbenreiber sein, und im fünfundvierzigsten die Welt mit solchen nie erreichten Meisterstücken beschenken konnte! Der wunderschöne Kopf einer Magdalena von Guido, deren tränende Augen, und heißer, bald geöffneter Rosenmund freilich mehr zu tausend Küssen als zur Reue einladen, eine in aller Pracht des Kolorits glänzende Santa Familia von Andrea del Sarto, und mehrere andere Meisterstücke andrer gefeierter Meister hielten mich noch mehrere Stunden hier fest. Ein Portrait des Grafen Egmont hätte schlecht zum Titelkupfer vor Goethes Tragödie gepaßt, denn der lebenslustige Schwärmer erschien hier als ein ziemlich korpulenter Vierziger mit einer Platte auf dem Kopf, und einer wahren Alltags-Physiognomie auf dem Gesicht. Ein ganz anders geistvolles Antlitz zeigte sein neben ihm hängender Freund von Oranien. Zwischen beiden saß der finstere, die Grausamkeit als Luxus treibende, Alba zu Pferde.

Außer den Gemälden und einigen Antiken enthält das Schloß noch eine andre seltne Kostbarkeit, einen Stuhl oder Thron von Stahl, den die Stadt Augsburg dem Kaiser Rudolf II. schenkte, die Schweden unter Gustav Adolph erbeuteten, und ein Vorfahr des Grafen Radnor in Stockholm kaufte. Die Arbeit ist bewunderungswürdig. Wie schwinden vor diesem Kunstwerke alle Zierlichkeiten unsrer Tage, von Birmingham, der Berliner Eisenfabrik etc., zu elenden Spielereien und wahrem Tand! Man glaubt ein Werk Benvenuto Cellinis vor sich zu sehen, und weiß nicht, was man mehr bewundern soll, ob die herrliche Ausführung und Grazie des Details, oder die geschmackvolle und künstlerische Anordnung des Ganzen@


London, den 31sten

Den gestrigen Tag mußte ich meinem Erbfeinde, der Migraine, opfern; heute reiste ich in fortwährendem Regenwetter nach der Metropolis, und setze morgen früh meinen Weg nach Frankreich fort. Die Gegend bot wenig Anziehendes dar, desto animierter war das Gespräch auf unsrer Imperiale und roulierte, fast den ganzen Tag, über ein berühmtes boxing-match, wobei, wie es schien, ein Yankee den John Bull angeführt und durch Bestechung des Haupt-Boxers, wie man sagte, 10 000 Pf. St. gewonnen hatte. Diese Betrügereien bei allen Arten von Sport, sind so gang und gäbe in England, unter den niedrigsten wie den höchsten Klassen, geworden, wie es das falsche Spiel zu den Zeiten des Grafen von Gramont war. Viele rühmen sich fast öffentlich damit und ich habe nie gefunden, daß solche, die als die most knowing-onesSolche, die andere am pfiffigsten anzuführen verstehen. A. d. H. bekannt sind, dadurch an ihrer Reputation in der Gesellschaft gelitten hätten – au contraire, sie passierten für geistreicher als die übrigen, und man warnte nur hier und da lächelnd, sich vor denen in acht zu nehmen. Einige der ersten Mitglieder der Aristokratie sind in dieser Hinsicht ganz notorisch, und ich weiß, daß der Vater eines solchen nobleman, dem man die Besorgnis äußerte, daß sein Sohn doch einmal von einem blackleg (Betrüger) angeführt werden könne, antwortete: »Ich bin dabei weit mehr für die blacklegs, als für meinen Sohn besorgt!« – Ländlich, sittlich! Was auch, wiewohl auf einer untern Stufe, England charakterisierte, war, daß der Kutscher, der uns fuhr, in dem besagten unglücklichen match ebenfalls 200 Pf. St. verloren hatte, und darüber nur lachte, indem er zu verstehen gab, er würde schon einen anderen dupe finden, der es ihm mit intérêts wieder einbrächte! Wie weit wird der march of intellect auf dem Kontinent noch wandern müssen, ehe die Postillone des Fürsten von Thurn und Taxis und die Eilwagenführer des Herrn von Nagler dergleichen Wetten mit den Reisenden unternehmen können.

Einige Stunden von Windsor kamen wir durch eine in England seltene Gegend, die bloß aus Sand und Kiefern besteht. Hier hat man ein prachtvolles Palais mit Park und Gärten erbaut, die neue Militärschule, welche mit allem Luxus einer fürstlichen Besitzung ausgestattet ist. Die Kiefern erschienen mir heimatlich, der Palast nicht. Während ich noch mit den ersten liebäugelte, car à toute âme bien née la patrie est chère, erblickten wir einen altersgrauen Fuchs, der mit nachschleppender Rute, über das Heidekraut hergaloppiert kam. Der wettlustige Kutscher sah ihn zuerst, und schrie: »By God a fox, a fox!« – »It's a dog«, behauptete ein anderer. »I bet You five pounds to four, it is a fox!« erwiderte der Rossebändiger. »Done!« rief der Zweifler, und mußte gleich darauf zahlen, denn es war wirklich ein nicht mehr zu bezweifelnder Fuchs, wiewohl von seltner Größe. Jetzt erschienen mehrere verlaufene Jagdhunde, die die Spur verloren hatten, und auch einzelne Rotröcke wurden in dem Kieferdickicht sichtbar. Alles schrie ihnen von der mail zu, wohin der Fuchs gelaufen, ohne es ihnen jedoch verständlich machen zu können. Die Zeit der mail ist streng gemessen, und jeder unnötige Aufenthalt verpönt, aber hier war ein nationales Unglück im Spiel – denn die Meute und Jäger hatten den Fuchs verloren! Der Kutscher hielt an, und mehrere sprangen herab, dem Troß, der nun sich mit jedem Augenblick vermehrte, den rechten Weg zu zeigen. Nicht eher wurden wir wieder flott, bis wir von neuem die Jagd in vollem Gange sahen, wozu wir die Hüte schwenkten und ›Tallyho!‹ riefen. Sobald unser Gewissen hiernach gänzlich beruhigt war, und der Fuchs in der plain seinem unvermeidlichen Schicksal überliefert, peitschte der Kutscher in die Pferde, die Versäumnis nachzuholen, und den Rest des Weges jagten wir im sausenden Galopp davon, als wenn der wilde Jäger selbst hinter uns wäre.

Aber 12 Uhr hat's geschlagen und bald hätte ich vergessen, nach guter alter Sitte, Dir zu gratulieren – denn

Ein neues Jahr beginnt,
Schon Sand auf Sandkorn rinnt,
Wird's Glück bedeuten,
Oder Unheil bereiten?

Im wachenden Traume erscheint mir das Bild meines rätselvollen Lebens –

Die Wolken zieh'n, die Stürme sausen,
Der Donner rollt, die Fluten brausen,
Gefahrvoll ist das Schiff zu schauen,
Wer mag dem falschen Meere trauen!

Doch hinter jenem schwarzen Schleier
Erhellt die Nacht ein goldner Blick –
Ist es der Mond in sanfter Feier,
Oder der Sonne Abschiedsblick!


Dover, den 1sten Januar

Der Bock der mail ist mein Thron geworden, von dem ich auch zuweilen regiere, und die Zügel vier rasender Rosse sehr gut zu führen weiß. Stolz überschaue ich dann das Land, flüchtig eile ich vorwärts, (was nicht alle Regierer von sich rühmen können) und dennoch wünsche ich mir manchmal Flügel – um noch schneller bei Dir zu sein.

In London tat ich den ganzen Morgen nichts als, Deinem Befehl gemäß, eine würdige Gemahlin – für Francis aufzusuchen, aber die echten Blenheim-Spaniels sind verzweifelt rar. Was ich auch sah, es paßte nicht. – Entweder waren die Ohren zu lang, oder zu kurz; die Beine zu krumm, oder zu auswärts; das Fell zu bunt, oder nicht reich genug gefleckt; der Humor zu bissig, oder zu schläfrig – kurzum, ich mußte bald von der unnützen Jagd abstehen.

Als ich in Canterbury ankam, flaggten alle Türme zum Neujahrstage, ich aber feierte ihn noch herrlicher in der stolzesten und schönsten aller englischen Kathedralen. Dieser romantische Bau, der von den Sachsen angefangen, von den Normannen fortgesetzt, und neuerlich mit Verstand restauriert worden ist, bildet eigentlich drei ganz verschiedene, aber zusammenhängende Kirchen, mit vielen unregelmäßigen Seitenkapellen und Treppen, auf und niedersteigendem schwarz und weiß gegatterten Steinboden, und einem Wald von Pfeilern darauf, in harmonischer Verwirrung. Auch die gelbliche Farbe des Sandsteins wirkt sehr vorteilhaft, besonders in dem normännischen Teil der Kirche, wo er mit schwarzen Marmorsäulen abwechselt. Hier liegt das Bild in Erz des Schwarzen Prinzen, auf seinem Stein-Sarkophage. Über ihm hängt ein halb vermoderter Handschuh, nebst dem Schwerte und Schild von Poitiers. Eine Menge anderer Monumente zieren außerdem die Kirche, unter andern das Heinrichs des IV. und des Thomas Becket, welcher in einer der Steinkapellen ermordet ward. Ein großer Teil der alten bunten Fenster ist erhalten, und von ungemeiner Schönheit der Farben. Einige bieten bloße Muster und Arabesken, gleich durchsichtigen Samttapeten, dar, andere scheinen, wie Juwelierarbeit, aus Edelsteinen aller Farben zusammengesetzt. Historische Gemälde stellen nur wenige dar. Was diesem grandiosen Dom einen besondern Vorzug vor den übrigen in England gibt, ist, daß hier der störende Schirm in der Mitte nicht existiert, und man die ganze Ausdehnung des Schiffes von 4-500 Schritt Länge mit einem Blicke übersieht. Die Orgel ist in einer der obern Galeriebögen versteckt angebracht und macht von da aus, wenn sie ertönt, einen zauberischen Effekt. Ich traf es so glücklich, daß eben als ich gehen wollte, schon halb im Dunkeln die Sänger und Musiker eine Übungsstunde hielten, und ihre schönen, unsichtbaren Himmels-Chöre zu gleicher Zeit den Dom erfüllten, als die letzten Sonnenstrahlen im Saphir-Blau und Rubin-Rot der Fenster erglühten. Der Erzbischof von Canterbury ist Primas von England und der einzige Untertan, in Großbritannien, der, außer dem Königlichen Blut, die Fürstenwürde hat, jedoch nur in seinem Erzbischofs-Sitz, nicht in London, so viel ich weiß. Dieser protestantische Geistliche, hat 60 000 Pf. St. Revenuen und darf heiraten. Weiter wüßte ich eben nichts, was ihn von den katholischen Kirchenfürsten unterschiede.


Calais, den 2ten

Endlich sehe ich mich wieder in dem geliebten Frankreich! So wenig vorteilhaft auch der erste Kontrast auffällt, doch begrüßte ich, fast mit dem Gefühl eines aus langer Gefangenschaft Zurückgekehrten, den halb heimischen Boden, die reinere Luft, die ungezwungenere, freundlichere, vertraulichere Sitte.

Um 3 Uhr waren wir schon in Dover geweckt worden, und hatten in völliger Dunkelheit das Paketboot erklettert. Wir wandelten bereits eine halbe Stunde darin auf und ab, ohne daß man Miene zum Absegeln machte. Mit einemmal verbreitete sich das Gerücht, der Boiler (Dampfkessel) sei schadhaft geworden. Die Furchtsamsten retteten sich sogleich auf den Quai, die übrigen schrien nach dem Capitain, dieser war aber nirgends zu finden; endlich schickte er jemand, der uns ankündigte, man könne ohne Gefahr nicht segeln, und die Sachen würden auf einen französischen Steamer gebracht werden, der um 8 Uhr abginge. Ich benutzte daher diesen Zwischenraum, um die Sonne von dem Fort aufgehen zu sehen, das die hohen Kalkfelsen über der Stadt krönt. Die Engländer, welche Geld genug besitzen, um jeden nützlichen Plan auszuführen, haben, statt eines äußern Weges, ein Tunnel durch den Felsen gesprengt, der eine Art Trichter bildet, in welchem zwei Wendeltreppen 240 Fuß hoch hinaufführen. Der Anblick von oben ist höchst pittoresk, und die Sonne stieg über die weite Aussicht, fast wolkenlos, aus dem Meer empor. Ich hätte indes über die Extase, der ich mich überließ, bald die Abfahrt des Schiffes versäumt, das wirklich grade mit dem Moment meiner Ankunft absegelte. In 2½ Stunden warf uns der heftige Wind hinüber. Diesmal war die Seekrankheit zu ertragen und ein vortreffliches dîner, wie es kein englischer Gasthof bietet, restaurierte mich in Calais vollkommen. Dies Hotel (Bourbon) ist aber auch, was die Küche betrifft, eins der besten Frankreichs.

Als wir die, überall gehässigen, Paß- und Polizei-Geschäfte beseitigt hatten, und dem Innern der Stadt zueilten, war ich Zeuge einer lächerlichen Szene, die mich gleich, in medias res, nach Frankreich versetzte. (Verzeih' die naturalia, weil sie non sunt turpia, was Dir der Superintendent übersetzen wird.) Also mein Begleiter, ein Engländer, trat aus einer leicht zu erratenden Ursache, in einen nichts weniger als reinlichen Seitenhof. Kaum war er indes dort geschäftig, als eine sehr gut gekleidete junge Dame aus der Türe sprang, und anstatt, wie eine Engländerin in gleichem Fall getan haben würde, erschrocken und mit vor dem Gesicht gehaltenen Händen eine schnelle Flucht zu ergreifen, sogleich der Gefahr in die Augen sah, höchst erzürnt auf den Eindringling losging und ihm mit der eigentümlichen französischen Volubilität zurief: »Comment Monsieur, quelle insolence de p... dans notre maison! Est-ce que la rue nest pas assez grande pour cela? Vous êtes un grand polisson! Maman, Maman, voilà un Monsieur qui p... dans notre maison!« Der Zorn der kleinen Virago, und die Konfusion des bestürzten Engländers waren malerisch, erreichten aber den höchsten Grad, als nun auch die herbeigerufene Maman, eine würdige Matrone, erschien, sich ebenfalls vor den Unglücklichen hinstellte, die Arme übereinander schlug, ihn, ohne sich an den Zustand seiner Toilette zu kehren, von oben bis unten mit durchdringenden Blicken maß, und dann mit bedächtiger und ernster Miene ironisch fragte: »Eh bien Monsieur, est-ce que vous ne finirez point? – Monsieur, permettez-moi de vous dire qu'on ne p... pas ainsi chez les personnes, on p... dans la rue Monsieur.« – »Vraiment, je crois, qu'il se moque de nous Maman« – unterbrach sie die Tochter jetzt halb weinend, »l'insolent, il ne bouge pas.« – Was weiter daraus geworden ist, weiß ich nicht, denn ich überließ, von Herzen lachend, den die beiden Damen noch immer anstierenden Engländer seinem Schicksal und jene den jetzt schwierig hergestammelten Entschuldigungen des verblüfften Sünders.


Den 3ten

Der erste Morgen-Spaziergang in Frankreich behagte mir köstlich. Dieser permanente Sonnenschein, der klare Himmel, den ich lange nicht mehr gesehen, und endlich wieder eine Stadt, deren Häuser und Dächer man von keinem Nebel und Kohlenrauch getrübt, klar in der Luft sich abschneiden sehen konnte. – Alles wurde von mir wahrhaft angestaunt. Ich fühlte mich wieder zu Haus und wandelte jetzt nach dem Hafen, um den letzten Abschied vom Meere zu nehmen. Da lag's vor mir, spiegelglatt und blau, endlos überall, außer an der englischen Küste, deren Dasein ein schwarzes Wolkengebirge, (wahrscheinlich die kompakt gewordenen Nebel jener Insel) verriet. Ich folgte der jettée (einer Art Holzdamm), die wohl eine Viertelstunde in die See hineinführt, und fand mich am Ende derselben bald ganz allein, nichts Lebendes mehr erblickend als einen Wasservogel, der mit Blitzesschnelle vor mir in der Silberflut umherschwamm, oft plötzlich untertauchte und dann, erst nach Minuten, an einer weit entferntem Stelle wieder zum Vorschein kam. Das Spiel setzte er lange fort, und so gewandt und lustig war das Tier dabei, daß man hätte glauben sollen, es wolle mir absichtlich alle seine Künste vormachen. Ich war schon im Begriff, allerhand Phantasien an dies Schauspiel zu knüpfen – da hörte ich aber die Tritte und das Gespräch einer englischen Familie hinter mir, und schnell entflohen wir beide, der Vogel und ich.

Auf dem Stadtwall begegnete ich einem französischen Hausmädchen mit zwei wunderhübschen englischen Kindern, sehr elegant in coquelicot-cachemire und weiß gekleidet. Die Kleinste hatte sich fest an einen Baum geklammert; und refüsierte, mit englischer Freiheitsliebe, auf das bestimmteste, zu Hause zu gehen. Die arme Französin radebrechte umsonst alle englische Schmeicheleien und Drohungen, deren sie nur habhaft werden konnte, alles blieb vergebens: »Mon darling come allons«, rief sie wehmütig. »I won't« – war die lakonische Antwort. Der kleine Trotzkopf interessierte mich so sehr, daß ich gefällig mich selbst zum Baume begab, um ebenfalls mein Heil bei ihr zu versuchen. Es gelang mir auch besser, denn nach einigen englischen Späßen folgte sie mir glücklich, und ich führte sie triumphierend der bonne zu. Als ich mich aber nun selbst entfernen wollte, packte mich der kleine Dämon mit allen Kräften beim Rock und sagte laut lachend: »No, no, You shan't go now. You forced me away from the tree, and I'll force You to remain with us.« Und ich kam wirklich nicht eher fort, immer streng festgehalten, bis wir unter Schäkern und Streiten beim Hause der Eltern angelangt waren. »Now I have done with You«, schrie die Kleine, indem sie mich losließ, und jubelnd ins Haus rannte. »O You little flirt!« rief ich ihr nach – »an Dir wird die französische Erziehung auch wenig Früchte bringen«.

In die Stadt zurückgekehrt, besuchte ich den berühmten Br.... Ich sehe, Du schlägst vergebens den Dictionaire Historique und des Contemporains auf, und kannst diesen berühmten Namen nicht finden. Hat er sich in der Revolution, oder einer Contre-Revolution ausgezeichnet, ist es ein Krieger, ein Staatsmann? Vous n'y êtes pas. – Er ist viel mehr und viel weniger, wie man es ansehen will. – Mit einem Wort, es ist einer der berühmtesten und seiner Zeit mächtigsten dandies, die London je gekannt. Br... beherrschte einst durch den Schnitt seines Rockes eine ganze Generation, und lederne Beinkleider kamen außer Gebrauch, weil ein jeder verzweifelte, sie in der Vollkommenheit der seinigen nachahmen zu können. Als er aber aus wichtigen Gründen endlich Großbritannien den Rücken kehrte, hinterließ er seinem Vaterlande noch, als letztes Geschenk, das unsterbliche Geheimnis der mit Stärke gesteiften Halsbinden, dessen Unergründlichkeit vorher die elegants der Hauptstadt so gequält hatte, daß, nach der ›Literary Gazette‹, zwei davon aus Verzweiflung wirklich selbst Hand an sich gelegt haben sollen, und ein junger Herzog vor Kummer darüber an einem ›broken heart‹ jämmerlich verstarb. Der Anfang dieser Krankheit war jedoch schon früher bei ihm dadurch gelegt worden, daß er, bei einer feierlichen Gelegenheit Br... schüchtern um sein Urteil über den eben anhabenden Rock gebeten; dieser aber, ihn nur flüchtig anblickend, mit Verwunderung gefragt hatte: »Do You call this thing a coat?« (Nennt Ihr das Ding einen Rock?) Sein Ehrgefühl blieb hierdurch unwiederbringlich verletzt.

Obgleich nun heutzutage es die Kleidung nicht mehr ist, womit man in London den Ton angibt, so ist doch nur das Vehikel, die Sache selbst aber keineswegs geändert. Den Einfluß, welchen Br..., ohne Vermögen und Geburt, ohne eine schöne Gestalt, oder hervorstechenden Geist, bloß durch eine edle Dreistigkeit, einige drollige Originalität, Lust an der Geselligkeit und Talent im Anzug, in London viele Jahre lang auszuüben wußte, gibt noch immer einen vortrefflichen Maßstab für das Wesen jener Gesellschaft, und da ich Dir in meinen vorigen Briefen diejenigen hinlänglich geschildert habe, welche jetzt (wiewohl mit weit geringerer Machtvollkommenheit) Br...s Stelle einnehmen, so wirst Du vielleicht mit mir einverstanden sein, daß er derselben immer noch mit mehr Genialität sowohl als größerer Unschuld der Sitten vorstand. Es war eine freiere, mehr ein originelles und zugleich harmloseres Ganze bildende, Torheit, die sich zu der jetzigen ohngefähr so verhält, wie die Komik und Moralität in Holbergs Lustspielen zu denen des Kotzebue.

Der Gewalt der Mode kann man es freilich nur zuschreiben, wenn man es witzig fand, daß Br... einem Landjunker, der ihn fragte: »Do You like green peas?« antwortete: »I once ate one.« Ergötzlicher aber sind seine Streitigkeiten mit dem Prinzen von W..., dem er, zuerst von ihm in die Mode eingeführt, nachher den Szepter derselben aus der Hand wand, und sogar später seinen Vorsatz: to cut the prince, mit großem Erfolg ausführte. Lange hatte sich Br... der höchsten Gunst dieser erlauchten Person erfreut, behandelte sie aber zuletzt mit so wenig égard, daß dadurch ein Bruch herbeigeführt wurde. Eines Tags nämlich vergaß er sich so weit, dem Prinzen nach Tisch zuzurufen: »Pray G..., will You ring the bell for me!« (Bitte G... klingeln!) Der Prinz von dem indiskreten Lachen der Gesellschaft, wie der impertinenten Familiarität des avanturiers tief beleidigt, stand gelassen auf und klingelte – als aber der Diener hereintrat, sagte er, mit den Fingern auf Br... weisend: »This person wants his carriage« (diese Person verlangt ihren Wagen). Br... verlor die Fassung nicht, sondern erwiderte lachend: »Capital G...y!« (Bravo kleiner G...!) »aber bei Gott, ich vergaß ganz, daß die schöne Herzogin auf mich wartet! Ich mache also aus Spaß Ernst und verlasse Euch. So good-bye to Y.R.H.« Von diesem Augenblick sah ihn der Prinz nicht mehr in seinem Hause. Dies tat jedoch ihm selbst in der fashionablen Welt der damaligen Zeit beinahe mehr Schaden als Br..., der die Sache zu tournieren wußte, als habe er mit dem Prinzen gebrochen. Er pflegte zu seinen intimen Freunden zu sagen: ›That fellow has first ruined me in champagne, won my money afterwards, and now he thinks he can cut me!‹ (Der Bursche hat mich erst in Champagner ruiniert, mir dann mein Geld im Spiel abgewonnen, und nun denkt er, er kann tun als kenne er mich nicht.) Einige Tage darauf wollte es der Zufall, daß Br... dem Prinzen mit einigen berühmten Modeherrn in New Bond Street begegnete. Dieser tat als wenn er ihn nicht sehe, Br... aber näherte sich, mit aller ihm eigenen aisance und effronterie, dem Obristen P..., einem der Gesellschaft, und zugleich einem der damaligen Koryphäen der eleganten Welt, und indem er ihm mit jener impertinenten Herablassung, in der er Meister war, die Hand geschüttelt, ergriff er sein quizzing-glass, und den Prinzen damit fixierend, flüsterte er dem Obristen allgemein verständlich zu: »Who the devil, Colonel, is Your fat old friend, You were just talking to?« (Wer Teufel, Obrister, ist Euer alter fetter Freund dort, mit dem Ihr eben spracht?) Hiermit ließ er die konsternierte Gesellschaft stehen, bestieg sein Pferd, und ritt lachend davon. Diese Anekdoten wurden mir aus ganz authentischer Quelle von einem Augenzeugen mitgeteilt, weniger gewiß weiß ich ob es wahr ist, daß früher, wie man erzählt, bei einem dîner wo man schon über das Maß getrunken hatte, der Prinz auf eine sarkastische Bemerkung des neben ihm sitzenden Br..., diesem, im halben Rausche, ein Glas Wein ins Gesicht goß. Br..., der solches an der Person des Prinzen nicht erwidern konnte, ergriff sogleich mit großer Geistesgegenwart sein eignes Glas, und es dem andern Nachbar über den Rock schüttend, rief er mit Laune: »der Prinz hat befohlen, daß es links weiter gehen soll!«

Noch lange fuhr Br... nachher fort, in London zu regieren und seinen hohen Antagonisten zu verdunkeln, ja in dieser seiner Zeit war es, wo sein Genie den höchsten Flug nahm, und er, um dem Prinzen, der dafür berühmt war sein Halstuch in einen unnachahmlichen Knoten zu knüpfen, den empfindlichsten Stoß zu versetzen – den Gebrauch der Stärke und Hausenblase für die Krawatten erfand. Von diesem memorablen Augenblick an war Br...s Sieg entschieden, und jahrelang marterten sich, wie schon erwähnt, die dandies vergeblich ab, die Halsbinde wie er zu tragen. Endlich vollbrachte das Spiel, was dem Prinzen mißglückt war, nämlich Br... aus der exklusiven Gesellschaft zu verdrängen. Br... verlor Hab und Gut, und mußte flüchten – auf seinem Schreibtisch aber hinterließ er dem Vaterland ein versiegeltes Paket. Als man es aufmachte, fand man nichts als folgende, mit großen Buchstaben geschriebene, Worte darin: ›My friends! Starch is the thing.‹ – (Freunde! Stärke ist das Ding. –)

Und wie große Männer in ihren Werken noch fortleben, wenn sie selbst auch längst verschollen sind, so bleibt auch Br... s Stärke noch immer am Halse jedes fashionable sichtbar und verkündet seinen hohen Genius. Er selbst aber lebt seitdem in Calais, wohin seiner Gläubiger Autorität nicht reicht, und jeder Zugvogel aus der großen Welt, der seinen Weg hierdurch nimmt, trägt dem ehemaligen Patriarchen den Tribut einer Visite, oder der Einladung zu einem dîner pflichtschuldigst ab.

Dies tat auch ich, wiewohl unter einem angenommenen Namen. Leider war mir hinsichtlich des dîner schon ein andrer Fremder zuvorgekommen, und ich kann daher nicht einmal davon urteilen, wie ein coat eigentlich aussehen müsse, oder ob der lange Aufenthalt in Calais, nebst dem herannahenden Alter, den Anzug des ehemaligen Königs der Mode weniger klassisch gemacht haben – denn ich fand ihn bei meinem Besuch noch bei der zweiten Toilette (drei sind deren früh nötig) im geblümten Schlafrocke, einer Samtmütze mit Goldquasten auf dem Kopf und türkischen Pantoffeln an den Füßen, sich selbst rasierend und nachher, mit den beliebten roten Wurzelstückchen, sorgfältig die Reste seiner Zähne putzend. Das ameublement um ihn her war ziemlich elegant, ja zum Teil noch ganz reich zu nennen, wiewohl bedeutend faniert, und ich kann nicht leugnen, sein ganzes Benehmen schien mir damit übereinzustimmen. Obgleich gedrückt von seiner jetzigen Lage, zeigte er indes noch immer einen ziemlichen Fonds von Humor und Gutmütigkeit. Sein Benehmen war das der guten Gesellschaft, einfach und natürlich und von größerer Urbanität, als die jetzigen dandies aufzuweisen imstande sind. Lächelnd zeigte er mir seine Pariser Perücke, die er sehr auf Kosten der englischen rühmte, und nannte sich selbst: le ci-devant jeune homme, qui passe sa vie entre Paris et Londres. Er schien hinsichtlich meiner etwas neugierig, frug mich über gesellschaftliche Verhältnisse in London aus, ohne jedoch die gute Lebensart durch irgendeine Art von Zudringlichkeit irgend zu verleugnen, und ließ es sich dann sichtlich angelegen sein, mich zu überzeugen, daß er noch immer von allem, was in der englischen Modewelt wie der politischen vorginge, sehr wohl unterrichtet sei. »Je suis au fait de tout«, rief er, »mais à quoi cela me sert-il? On me laisse mourir de faim ici. – J'espère pourtant que mon ancien ami, le Duc de W..., enverra un beau jour le Consul d'ici à la Chine, et qu'ensuite il me nommera à sa place. Alors je suis sauvé...« und wirklich die englische Nation sollte billig etwas für den tun, der die gestärkten Halsbinden erfand! Wie manche sah ich in London, mit schwerwiegenden Sinecuren, die weit weniger für ihr Vaterland getan haben. –

Als ich Abschied nahm und die Treppe hinunter ging, rief er mir noch, die Türe öffnend, nach: »J'espère que vous trouverez votre chemin, mon suisse n'est pas là, je crains.« – Helas! dachte ich, point d'argent, point de suisse. –

Um Dich nicht zu lange ohne Nachricht zu lassen, sende ich diesen Brief von hier ab. Vielleicht folge ich ihm bald selbst. Jedenfalls will ich mich jedoch vierzehn Tage in Paris aufhalten und auch dort alle Deine Aufträge besorgen. Gedenke mein indessen stets mit der alten Liebe.

Dein treuer L...


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