Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Den 8ten Mai

Seit einer Woche klingen mir die Ohren von drei bis vier Konzerten jeden Abend, oder jede Nacht, wie man es hier richtiger nennt, die plötzlich zur wahren rage geworden sind, von den Höchsten und Erlesensten bis zu allen nobodies herab. Die Damen Pasta, Caradori, Sontag, Brambilla, die Herren Zuchelli, Pellegrini und Curioni singen ewig dieselben Arien und Duetts, welche die Leute dennoch nie müde zu hören werden. Oft singen sie, ohne Zweifel vom ewigen Einerlei selbst ermüdet, äußerst nachlässig, doch darauf kommt es hier gar nicht an. Die Ohren, welche sie hören, sind selten musikalischer Natur, sondern nur von der fashion begeistert, und die, welche in der foule den letzten Platz inne haben, unterscheiden gewiß oft kaum, ob ein Bassist oder die Primadonna eben an der Reihe ist, geraten aber nichtsdestoweniger in Entzücken. Für die Künstler ist die Sache sehr einträglich. Die Sontag z. B. erhält in jeder Gesellschaft, wo sie sich mit irgend etwas hören läßt, und oft geschieht dies in drei bis vier verschiedenen an einem Abend, wenigstens 40 L. St., zuweilen 100. Die Pasta, deren Gesang mir noch lieber, grandioser, tragischer ist, rivalisiert mit ihr, die andern, obgleich auch verdienstlich, stehen doch nur in zweiter Linie.

Außerdem ist Moscheles, Pixis, die Gebrüder Bohrer, enfin eine Herde von Virtuosen hier, die, wie die Mücken dem Licht, alle dem englischen Golde zufliegen, ohne sich daran zu verbrennen, sondern im Gegenteil, was die weiblichen wenigstens betrifft, rechts und links oft neue Flammen erregen, die überdies zuweilen noch mehr als das Künstlertalent einbringen.

Die Konzerte beim Prinzen Leopold sind in der Regel die angenehmsten, wo auch das unerträgliche Gedränge in einem großen Local mehr vermieden wird. Dieser Prinz ist weniger populär als er es verdient, weil die Engländer ihm den Ausländer nicht ganz verzeihen können.


Den 9ten

Auf einem Spazierritt mit M... kamen wir zufällig in einer reizenden Gegend nach Strawberry Hill (Erdbeerhügel) einem von Horace Walpole gebauten Schloß, dessen er so oft in seinen Briefen erwähnt, und das man seitdem in nichts geändert und wenig bewohnt hat. Es ist der erste Versuch des Modern-Gotischen in England, ganz im Clinquant-Geschmack jener Zeit, das Steinwerk in Holz nachgeahmt, gar vieles – was glänzt, ohne Gold zu sein. Doch sieht man auch mehrere gediegnere Kunstschätze und manche Kuriositäten. Zu den ersteren gehört unter andern ein prächtiges mit Juwelen besetztes Gebetbuch voll Zeichnungen Raphaels und seiner Schüler, zu den letzteren der Hut des Kardinals Wolsey, ein sehr ausdrucksvolles Portrait der Madame du Deffant, der blinden und geistigen Geliebten Walpoles, und ein Bild der berühmten Lady Montague in türkischer Kleidung.

Da es in England alles gibt, so fand ich heute sogar einen vornehmen Engländer, der in seinem Hause deutsche Sitten, deutsche Art der Bedienung, und deutschen Gesellschaftston nachzuahmen sucht. Es ist der Graf S..., der lange unser Vaterland in ziemlich bedrängten Umständen bewohnte, und mit einemmal ein ungeheures Vermögen ererbt hat. Nur die cramoisin-farbene Livree seiner Leute mit kanariengelben inexpressibles und Strümpfen von derselben Farbe war im englischen Geschmack, sonst alles deutsch im Hause, selbst die Eßstunde nähergerückt. Die lange Dauer des dîners war mir in hohem Grade lästig, ich saß wie auf Nadeln, da man mich an einem Orte erwartete, welcher mir dermalen teurer als alles ist. Ohngeachtet meiner üblen Laune gewann mir doch wider Willen mein österreichischer Nachbar ein Lächeln ab, der ungeheuer trank, und als ich ihm noch mehr anbot, erwiderte: »Nein, jetzt keinen Wein mehr, sonst werde ich exzessiv und fange an zu stänkern.« Du verstehst besser Wienerisch als ich, ich brauche Dir daher die Meinung der Phrase nicht zu erklären.


Den 16ten

Ich habe einige Tage auf dem Lande zugebracht und Epsoms Wettrennen besucht. Die Szene war sehr belebt, alle Straßen voller flüchtig dahinrollender Equipagen, und ein großer grüner Hügel mitten in der plain, an dessen Saum das Wettrennen stattfindet, so dicht mit tausend ausgespannten Wagen, und einem bunten Gewühl von Reitern und Fußgängern bedeckt, daß mir noch nirgends ein Volksfest malerischer erschien.

Dies Bild fasse noch in den Rahmen einer recht lieblichen, wohl angebauten Landschaft, mit einem Himmel voll schwarzer Wolken, vielem Regen, und zwar sparsamen aber desto heißeren Sonnenblicken.

Seit gestern bin ich zurück, um eine Gesellschaft beim Könige nicht zu versäumen, die heute stattfand, und zu der eine Einladung als eine bonne fortune angesehen wird. Die Idee von Hof muß man gar nicht damit verbinden, aber gewiß ist es, daß nirgends das Ideal eines fashionablen Hauses je besser erreicht worden sein mag. Jeder comfort und jede Eleganz des Privatmannes ist auf die geschmackvollste und gediegenste Weise mit der Pracht königlicher Mittel verbunden, und der Monarch bekanntlich selbst auf keinen Titel stolzer als auf den des ›Ersten Gentleman‹ in seinem Reiche.


Den 30sten

Obgleich der ewige Taumel nur wenig Zeit übrig läßt, und man, einmal hineingeraten, nicht füglich mehr herauskam, wenn man auch kein Vergnügen darin findet, so gewinne ich doch von Zeit zu Zeit freie Augenblicke zu einsamerem und bleibenderem Genuß.

So sah ich neulich eine höchst interessante Sammlung vorzüglicher Gemälde, nur die Portraits merkwürdiger Individuen aus der englischen Geschichte enthaltend. Es war auffallend, wie sehr die meisten ihrem geschichtlichen Bilde in Zügen und Haltung entsprachen. Der berühmte Lord Burleigh hatte überdem eine frappante Ähnlichkeit mit dem großen Staatskanzler Preußens, obgleich ihn sein Kopfputz sehr verstellte, der einer Altenweibermütze glich. Jakob der Erste, ergötzlich treu seinem Charakter, wie auch sein Gesandter, der originelle Ritter, der in seinen Memoiren so seltsam von sich selbst sagt, daß er überall Männern und Weibern gefallen, seine Natur aber auch keiner andern geglichen, indem ihn und alles ohne Ausnahme, was von ihm gekommen, stets eine Atmosphäre des angenehmsten, natürlichen Wohlgeruchs umduftet habe.

Ein andres cabinet enthielt moderne Gemälde in Wasserfarben, in welcher Kunstgattung die Engländer eine besondere Fertigkeit erlangt haben. Man erstaunt über die Glut und Tiefe der Färbung, die sie damit hervorbringen, besonders zeichneten sich einige Landschaften Schottlands aus, als ein Sonnenuntergang in den Highlands, der Claude Lorrains Wahrheit erreichte, und die einbrechende Nacht über den Loch Lomond, ein Gedicht voller Romantik.

Noch blieb mir Zeit zu einem weiten Spazierritt, auf dem ich, wie immer, nur dem Zufall mich vertrauend, einen der reizendsten Parks auffand, wie sie nur Englands Klima realisieren läßt. Die Gärten mit unbeschreiblicher Blumenpracht lagen in einem engen, äußerst fruchtbaren Wiesental, voll hoher Bäume, in welchen drei silberklare Quellen entspringen, und in mäandrisch sich windenden Bächen nach allen Richtungen zwischen unabsehbaren Dickichten von blühenden Rhododendron und Azalien hinrauschten.

Meine Freude an dergleichen wird nur immer durch das Bedauern getrübt, daß Du sie nicht mit mir teilen kannst. Dein feiner Geschmack würde tausend neue Ideen hier schöpfen, um nachher noch lieblichere Details hervorzubringen, soweit Localität und Mittel hinreichen, teils durch geschickte Anwendung der Blumenfarben, teils durch graziöse Formen, oder durch erhöhte Beleuchtung, welche sinniges Öffnen und Verdecken so sehr zu steigern imstande ist.

Die angenehmen Erinnerungen dieses Morgens mußten den Rest des Tages übertragen, nämlich ein dinner bei Lady P..., dem größten weiblichen gourmand in London, zwei Bälle bei einheimischer und ausländischer Diplomatie, und ein concert bei Lord Grosvenor, welches zwar in einer Galerie vortrefflicher Gemälde stattfand, die man aber bei solcher Gelegenheit nicht mehr als jede andere Tapete genießen kann.


Den 6ten Juni

Eines der gehaltreichsten Häuser für mich ist das eines vornehmen Schotten, Grafen von W..., dem Abkömmling in direkter Linie von Macduff. In seiner Rüstkammer wird noch ein Ast, angeblich aus Birnams Wald, gezeigt, wahrscheinlich eine Reliquie von der Qualität aller andern. Wer daran glaubt, wird selig!

Die Familie ist höchst gebildet, und der schottische Sinn überhaupt dem deutschen näher verwandt als der englische. Von den liebenswürdigen Töchtern lernte ich eine neue Manier, Lieblinge aus dem Vögelgeschlecht in treuerer und dauerhafterer Kopie aufzubewahren als durch Ausstopfung. Die Federn werden ausgerupft, und nebst Schnabel und Klauen in der natürlichen Form auf starkes Velinpapier oder lackiertes Holz aufgeklebt, welches ein höchst ähnliches und keinem Verderben ausgesetztes Basrelief des Tieres abgibt.

Karl X. brachte eine Zeitlang bei Lord W... in Schottland zu, und hat ihm einen alten Haushofmeister zurückgelassen, der drollig genug gleich dem in der ›Pucelle‹: Bonneau heißt, und auch noch von jener fast ausgestorbenen Diener- race der hommes de confiance ist, die man jetzt höchstens nur auf der Bühne antrifft. Als solcher, der im Hause nun schon 25 Jahre fungiert, darf er, gegen die englische Sitte, welche Dienern nie die geringste Annäherung anders als eben durch ihren Dienst erlaubt, zuweilen ein Wort mitsprechen, und ich fand wirklich nichts unterhaltender, als die Hof- und Gesellschaftserzählungen dieses alten Franzosen, dessen Welt eigentlich mit jener Zeit abgeschlossen wurde, so wie wir sie uns heutzutage kaum mehr denken können. Daß der eigentümliche Alte nur ein Haushofmeister ist, macht keinen Unterschied, denn er hat in seinem Leben besser beobachtet, und vielleicht mehr von der großen Welt gesehen, als gar viele Vornehme.

Als ich diesen Morgen Lady W... besuchte, hatte einer ihrer Söhne, der in Südamerika reist, eben einen großen Transport merkwürdiger Sachen geschickt, worunter sich ein lebendes Löwenäffchen befand, mit Kopf und Mähne des Königs der Tiere, bei einer Taille, die kaum die Größe einer Ratte erreicht. Statt des üblen Geruchs der Affen duftet dieser im Gegenteil nach Zimt und Moschus, und parfümiert das ganze Zimmer wie ein Räucherkerzchen, gleich dem neulich erwähnten Ritter.

Eine der vollständigsten Sammlungen Kolibris boten Farben dar, wie sie nur die Sonne bei Auf- und Untergang am Himmel malt, ebenso wie die reiche Schmetterlings-Sammlung mit mehrern ganz neuen Exemplaren. Unter andern Insekten sah ich hier zum erstenmal den sogenannten Stockkäfer, der den Übergang zwischen dem Pflanzen- und Tierreiche zu machen scheint. Er ist an sechs Zoll lang und von einem blätterlosen Ulmenzweig mit kleinen Nebenästen, welche durch die Füße gebildet werden, kaum zu unterscheiden. Nur der an der Spitze verborgne Kopf mit Fühlhörnern verrät ihn als ein organisches Wesen.

Ich aß bei Lady F... zu Mittag, wo sich ein eigner Fall zutrug. Ihr Mann war früher Gouverneur auf ›Isle de France‹, und sie hatte dort von einer Negerin das angebliche Wahrsagebuch der Kaiserin Josephine gekauft, welches diese vor ihrer Einschiffung nach Frankreich besessen, und daraus ihre künftige Größe und ihren Fall gelesen haben soll. Lady F... produzierte es beim Tee, und lud die Gesellschaft ein, nach dem vorgeschriebnen Modus Fragen an das Schicksal zu stellen. Nun höre die Antworten, welche es gab, und die in der Tat merkwürdig sind. Frau von Rothschild war die erste, welche frug: ob ihre Wünsche erfüllt werden würden? Sie erhielt die Antwort: ›Ermüde das Schicksal nicht mit Wünschen, wer so viel verlangt hat, muß zufrieden sein.‹ – Hierauf frug Herr Spring-Rice, ein berühmter Parlamentsredner und einer der eifrigsten Verfechter der emancipation der Katholiken (eine Sache, die hier für alle Welt jetzt vom größten Interesse, für oder wider, ist): ob morgen, wo die Frage im Oberhaus für diesmal entschieden wird, sie durchgehen würde? – Nun muß ich hier einschalten, daß es schon bekannt ist, daß sie nicht durchgehen wird, man aber zugleich allgemein glaubt, daß sie beim nächsten Parlament den gewünschten Erfolg haben müsse. – Grade so nun lautete die lakonische Antwort des Buchs, nämlich: ›Ihr werdet keinen success haben, diesmal.‹ – Nun zwang man eine junge Amerikanerin zu fragen: ob sie sich bald verheiraten würde? Worauf die Antwort war: ›Nicht in diesem Weltteil.‹ – Jetzt kam die Reihe an mich und ich frug: ob, was mein Herz grade jetzt so lebhaft berühre, zu meinem Glücke sei? ›Laß diese Neigung fallen‹, erwiderte das Zauberbuch, ›denn Du wirst sehen, sie ist weder wahr noch beständig.‹

Ob hierbei aber meine eigne oder die zu mir gemeint sei, bleibt, wie alle Orakel, dunkel.

Die Gesellschaft, welche natürlich keine Ahnung von meiner eigentlichen Meinung bei der Frage hatte, machte sich sehr lustig über die erhaltene Abfertigung, und verlangte, ich sollte noch eine tun. Ich frug also: Wird das Schicksal mir in ernsteren Plänen günstig sein? ›Suche‹, war die Antwort, ›und Du wirst finden, beharre und Du wirst erreichen.‹

Ohne zu suchen fand ich an demselben Abend noch eine sehr angenehme Bekanntschaft, indem ich der Herzogin von Meiningen, Mutter der Herzogin von Clarence, bei dieser vorgestellt ward, eine höchst liebenswürdige Dame von echt deutschem Charakter, der weder ihr Alter noch ihr Rang die naive Natürlichkeit hat nehmen können, welche vielleicht das sicherste Zeichen einer reinen und schönen Seele ist. Die würdige Mutter einer so hoch verehrten Tochter, muß den Engländern, die ihrer künftigen Königin sehr anhängen, eine angenehme Erscheinung sein, auch zeigte sich von allen Seiten das größte empressement. Schade nur, daß es bei solchen Gelegenheiten den englischen Damen, vornehmen wie geringen in der Regel so sehr an graziöser tournure und geschickten Worten fehlt, um ein hübsches Totalschauspiel zu geben. Ein drawing-room und eine Hofpräsentation sind hier immer so lächerlich, wie das lever eines Bürgermeisters der weiland freien Reichsstädte unsers Vaterlandes, und aller Stolz und Reichtum der Aristokratie verschwindet in dem linkischen embarras dieser mit Diamanten und Putz nicht geschmückten, sondern nur beladenen Ladys. Im négligé, und wenn sie ungeniert in ihrem Hause sich in gewohnter Umgebung bewegen, erscheinen junge Engländerinnen oft sehr vorteilhaft, in parure und großer Gesellschaft aber fast nie, weil eine unbezwingliche und aller Grazie entbehrende Timidität selbst ihre intellektuellen Eigenschaften so vollständig paralysiert, daß eine geistreiche Unterhaltung mit ihnen gewiß eine schwere Aufgabe wird.

Ich halte sie daher auch unter allen Europäerinnen für die angenehmsten und komfortabelsten Ehefrauen, sowie für die unfähigsten zur Repräsentation und Gesellschaft. Offenbar übersteigt bei diesem Urteil das Lob den Tadel weit.


Den 16ten

Heute wohnte ich einem interessanten Frühstück bei, welches der Tauben-Club gab. Diese Benennung bedeutet keineswegs, daß die Mitglieder sanft und ohne Falsch, wie die Tauben, sich zu sein befleißigen, sondern, er besteht im Gegenteil aus der wildesten Jugend Englands, und die Tauben haben nur insofern etwas damit zu schaffen, als die Ärmsten – totgeschossen werden. Der Schauplatz war ein großer mit einer Mauer umschloßner Grasgarten. An der einen Seite befindet sich eine Reihe Zelte, in deren größtem eine gedeckte Tafel von 1-6 Uhr fortwährend frisch mit Speisen besetzt, und mit Champagner und Moselwein in Eis rastlos garniert ward. Ohngefähr 100 Schützen nebst einigen Gästen waren gegenwärtig, und die ganze Zeit über schoß, aß und trank man abwechselnd. Die Tauben werden, immer acht an der Zahl, in einer Reihe aufgestellt. An den Kästchen, die sie beherbergen, sind Stricke befestigt, welche alle acht am Schießstand zusammenlaufen, und so eingerichtet sind, daß, wenn man an einem derselben zieht, das betreffende Kästchen aufklappt und die Taube herausfliegt. Der, welcher zuletzt geschossen hat, zieht für den nächsten Schützen, aber hinter ihm stehend, so daß jener nicht sehen kann, welchen Strick er zieht, daher auch ganz unvorbereitet und ungewiß ist, welche der acht Tauben auffliegen werde. Fällt die Taube noch innerhalb der Einzäunung nach seinem Schuß, so wird sie ihm angerechnet. Kommt sie hinaus, so wird es als gefehlt angesehen. Jeder Schütze hat eine Doppelflinte, und darf beide Läufe gebrauchen.

Die beiden berühmtesten Schützen in England sind Kapitän Ross und Mr. Osbaldistone. Beide schlossen eine Wette um 1000 L. St., die aber heute noch nicht entschieden wurde. Beide fehlten kein einziges Mal, und Kapitän Ross' Taube kam nie 12 Schritte weit, flatterte auch kaum, sondern fiel fast immer mit dem Schuß sogleich wie ein Stein zur Erde. Nie habe ich so unbegreiflich gut schießen sehen. Ein hübscher kleiner Hühnerhund des Clubs apportierte jede Taube, wie eine Maschine, seinen Dienst stets ohne Fehl und ohne Übereilung verrichtend. Zuletzt schoß die ganze Gesellschaft noch um einen goldenen Becher, 200 L. St. an Wert, den jährlichen Preis, den Kapitän Ross gewann. Um 7 Uhr kam ich erst von diesem lustigen Frühstück dort, und begab mich in ein mir noch unbekanntes Theater, ›Sadler's Wells‹ genannt, welches gute dreiviertel deutsche Meilen von meiner Wohnung entfernt ist. Ich war in einem Fiacre hingefahren, und als ich gegen 1 Uhr wieder zu Haus wollte, fand sich in diesem entlegenen Winkel kein Mietwagen mehr, und auch alle Häuser waren geschlossen. Dies war um so unangenehmer, da ich wirklich keine Idee davon hatte, in welchem Teile der Stadt ich mich befand.

Nachdem ich eine halbe Stunde vergeblich in den Straßen umhergeirrt war, um einen Wagen aufzutreiben, und schon mich resignierte, mit Hilfe eines watchman (Nachtwächter) zu Fuß nach Hause zu wandern, kam noch eine Diligence gefahren, die glücklicherweise grade meinen Weg einschlug, und mit der ich daher gegen 2 Uhr wieder bei den Hausgöttern anlangte. – Dieses Theater hat das Eigentümliche, daß es unter wirkliches Wasser gesetzt werden kann, in welchem Element die Schauspieler oft stundenlang gleich Wassertieren umherplätschern. Übrigens geht nichts über den Unsinn der hier aufgeführten Melodramen, und über den horriblen Gesang, von dem sie begleitet werden.


Den 20sten

Man hat noch einen fancy-ball arrangiert, der mir aber nur einen traurigen Eindruck zurückließ. Ich bemerkte einen blassen, in einen einfachen schwarzen Domino gehüllten Mann, in dessen Gesicht ein unnennbarer Zug des bittersten Seelenleidens schmerzlich anzog. Er blieb nicht lange, und als ich mich bei L... nach ihm erkundigte, gab dieser mir folgende Auskunft: »Dieser beklagenswerte Sterbliche, Obrist S...«, sagte er, »würde den Helden zu einem schauerlichen Roman abgeben können. Wenn man von jemand sagen kann, er sei unglücklich geboren, so ist er es. Sein großes Vermögen verlor er früh durch den frauduleusen Banquerott eines Freundes. Hundertmal kam ihm seitdem das Glück entgegen, aber immer nur, um ihn im entscheidenden Augenblick mit dem Verschwinden aller Hoffnung zu äffen, und fast jedesmal waren es nur die unbedeutendsten Kleinigkeiten, ein verspäteter Brief, eine leicht mögliche Verwechselung, ein unheilbringendes Unwohlsein, an denen alles scheiterte, scheinbar sogar immer seine eigne Schuld, und doch nur das Gewebe hohnlachender, tückischer Geister.

So beginnt er schon lange nichts mehr, um seine Lage zu ändern«, fuhr L... fort, »versucht keine Besserung seines Schicksals, im voraus durch lange, grausame Erfahrung überzeugt, daß ihm nichts gelingen könne. Ich kenne ihn von Jugend auf. Obgleich harmlos wie ein Kind, hält ihn doch ein großer Teil der Welt für böse; obgleich einer der aufrichtigsten Menschen, für falsch und intrigant; ja, man vermeidet und scheut ihn, obgleich nie ein Herz wärmer für das Wohl anderer schlug. Das Mädchen, das er anbetete, ward durch seine vermeinte Untreue zur Selbstmörderin, er selbst befand sich infolge unerhörter Umstände lange in Untersuchung wegen des Mordes seines Bruders, neben dem er, sein eignes Leben für jenes Verteidigung opfernd, blutend gefunden ward. Schon zum Strange verurteilt, rettete ihn vom schimpflichen Tode allein des Königs Begnadigung, der erst später die Beweise seiner Unschuld folgten. Eine Frau endlich, die er infolge eines schändlichen, lange vorbereiteten Betruges heiratete, lief mit einem andern davon, und wußte es dennoch dahin zu bringen, daß in der Welt nur ihm der größte Teil der Schuld beigemessen ward. Vor der Zeit so in jedem Selbstvertrauen geknickt, jeder Hoffnung auf das Schicksal wie auf die Menschen abgestorben, lebt er unter ihnen nur noch wie ein teilnahmloser abgeschiedner Geist, ein herzzerreißendes Beispiel, daß es Wesen gibt, die, für dieses Leben wenigstens, dem Teufel schon vor der Geburt verkauft gewesen zu sein scheinen. Denn wen der Fluch des Unglücks einmal getroffen, dem schafft er nicht nur Feinde auf jedem Schritt, sondern raubt ihm auch das Zutrauen und zuletzt das Herz der Freunde, bis endlich der Arme, überall Getretne, Gestoßne und Gemißhandelte darniedersinkend, sein wundes müdes Haupt hinlegt und stirbt, während sein letzter Seufzer noch der mitleidslosen Menge, als eine Anmaßung und ein unerträglicher Mißton erscheint. Wehe den Unglücklichen! Dreimal wehe ihnen! denn für sie gibt es weder Tugenden, noch Klugheit, noch Geschick, noch Freude. – Es gibt nur ein Gutes für sie, und das ist der Tod!«


Den 25ten

Im ganzen hat es doch etwas Angenehmes, jeden Tag über so viele Einladungen disponieren, und wo es einem nicht gefällt, sogleich eine besser konvenierende Gesellschaft aufsuchen zu können. Hie und da findet sich dann doch immer etwas Neues, Pikantes oder Interessantes. So machte ich gestern beim Prinzen L... die Bekanntschaft einer zweiten Ninon de Lenclos. Lady A... hält gewiß niemand für mehr als 40, dennoch ist sie nahe an 8o. Nichts an ihr erscheint gezwungen noch unnatürlich, dennoch alles jugendlich, Taille, Anzug, Lebhaftigkeit des Benehmens, Grazie und Schnellkraft der Glieder, soweit dies auf einem Balle zu bemerken ist, alles ist vollkommen jung an ihr, und im Gesicht kaum eine Runzel. Sorgen hat sie sich nie gemacht, und von Jugend auf sehr lustig gelebt, ist auch zweimal ihren Männern davongelaufen, weshalb sie lange England mied, und ihr großes Vermögen in Paris verzehrte. Alles zusammengenommen, eine allerliebste Frau, in ihrem Benehmen mehr Französin als Engländerin und ganz du grand monde. In der Toilettenkunst hat sie große Studien und scharfsinnige Erfindungen gemacht. Soviel ich davon erlauschen konnte, werde ich gerne Dir und allen meinen schönen Freundinnen mitteilen.

Am nächsten Tage gab der Herzog von S... auf seiner Villa ein déjeuner champêtre, bei dem er es doch möglich gemacht hatte, noch etwas Neues für dergleichen Feten zu erfinden. Sein ganzes Haus war mit schönen hautelisses und bunten chinesischen Tapeten behangen, eine Menge meubles, Sofas, fauteuils, chaises-longues, Spiegel etc. im Garten überall, wie in mehreren Salons und cabinets verteilt, und außerdem kleine Lager von Zelten, aus weiß- und rosa-Mousselin angebracht, die sich in dem Smaragdgrün des pleasure-ground herrlich ausnahmen.

Abends folgte, wie gewöhnlich, eine Illumination, größtenteils nur mit einzelnen Lampen kunstreich in den Bäumen und Büschen verborgen, gleich soviel glühenden Früchten und Johanniswürmchen, die Liebenden und die Einsamen anzulocken. Aber auch diejenigen, welche Geräusche den stillen Freuden vorziehen, fanden Befriedigung. Hier tanzte in einem weiten Zelte, zu dem ein Weg von glänzend erhellten Bögen aus Rosenguirlanden führte, ein großer Teil der Gesellschaft, dort erschallte ein vortreffliches concert, ausgeführt von den besten Virtuosen und Sängern der italienischen Oper. Auch italienisches Wetter begünstigte glücklicherweise vom Anfang bis zum Ende dieses Fest, welches der kleinste neckende Geist der Atmosphäre hätte vernichten können. In England war das ganze Unternehmen daher wohl ein Wagstück zu nennen, und doch findet man gerade diese Art Feten hier häufiger und schöner als irgendwo, wie der unfruchtbarste Boden oft der kultivierteste ist.

Ich habe mich nun so eingerichtet, daß ich in spätestens 4 Wochen England verlassen kann, um eine Reise von etwas längerer Dauer nach Wales, und besonders nach Irland zu machen, welches letztere nach so vielem, was ich davon höre, weit mehr Interesse wie Schottland bei mir erregt. Doch tut es mir leid, daß Krankheit zuerst, und die Zerstreuungen der Hauptstadt nachher, mich um den Anblick jenes Landes gebracht haben. Es ist eine Vernachlässigung, die ich in mein Sündenbuch mit aufnehmen muß, das leider so viele dergleichen enthält, unter dem Artikel: Indolenz – ein abscheulicher Feind der Menschen! Gewiß hatte jener französische Marschall recht, der zu Ludwig XIV., für parvenus so ungünstigen Zeit, sich dennoch vom gemeinen Soldaten bis zu der höchsten Würde seines Standes emporschwang, als er einigen Freunden, die ihn fragten, wie ihm dies möglich geworden, antwortete: »Nur dadurch, daß ich nie bis morgen aufschob, was ich heute tun konnte.« Fast in dasselbe Kapitel gehört die Unentschlossenheit, auch ein Erbfeind so vieler Menschen, die ein noch berühmterer Marschall, Suworow, so sehr haßte, daß er, in der Übertreibung seines Charakters, denen sogleich seine Gunst entzog, die ihm je auf eine Frage erwiderten: »Ich weiß nicht.«

›Non mi ricordo‹, geht schon eher an, und meinen Grundsätzen gemäß wende ich dies besonders auf alle besagten Sünden an, wenn sie einmal geschehen sind. Man muß es sich täglich wiederholen: Die Vergangenheit ist tot, nur die Zukunft lebt.

Möge sie uns, meine geliebte Julie, immer günstig erscheinen.

Dein treuer L.


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