Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Vierundvierzigster Brief

Holyhead, den 15ten Dezember 1828

Teure und Treue!

Du nanntest mich manchmal ›kindlich‹, und kein Lobspruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel sei Dank, liebe Julie, Kinder werden wir beide bleiben, solange wir atmen, und wenn auch schon hundert Runzeln uns bedeckten. Kinder aber spielen gern, sind zuweilen ein wenig inkonsequent und haschen dabei immer nach Freude. C'est là l'essentiel. So mußt Du mich beurteilen, und nie viel mehr von mir erwarten. Wirf mir also auch nicht vor, daß ich ohne Zweck umherirre – du lieber Himmel! Hat doch Parry mit seinem Zweck dreimal vergebens nach dem Nordpol segeln müssen, ohne seinen Zweck zu erreichen, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena zu verkümmern, weil er seinen Zweck früher zu gut erreicht hatte! Und was ist überhaupt der Zweck der Menschen? Keiner kann's eigentlich recht genau abgegrenzt angeben. Der ostensible ist immer nur ein Teil davon, oft nur das Mittel zum Zweck, und der wahre selbst ändert und motiviert sich gar vielfach im Verfolg desselben. So ging es auch mir. Man hat aber auch Nebenzwecke, und oft werden diese, weil sie besser munden, die Hauptsache. So ging es abermals mir. Au bout du compte bin ich zufrieden, und was kann man mehr erreichen!

Neptun muß mich besonders lieb haben, denn er hält mich jedesmal, wenn er mich in seine Gewalt bekommt, so lange darin zurück als er kann. Der Wind war uns wieder grade entgegen, und blies mit der erbittertsten Heftigkeit. Auf dem Wasser und auf den hohen Bergen wirkt meine Glücksfähigkeit sehr schwach, denn fast noch nie hatte ich günstigen Wind auf dem Meer, und gar selten einen klaren Himmel, wenn ich ihm so viel tausend Fuß näher kam.

Gestern abend um elf Uhr verließ ich Dublin in einer Postchaise, bei einer schönen hellen Mondnacht; die Luft war lau und milde wie im Sommer. Ich rekapitulierte ein wenig die vergangenen zwei Jahre, und ließ alles von neuem die Revue passieren. Das Resultat mißfiel mir nicht. Ich habe zwar hie und da geirrt, aber finde mich im ganzen fester und klarer geworden. Im einzelnen habe ich auch einiges gewonnen und gelernt, meine physische Maschine dabei nicht verschlechtert, und endlich im Lebensatlas eine Menge interessanter Erinnerungsbilder niedergelegt. Frischen Mut und Lebenslust aber fühle ich zehnfach gekräftigt gegen den schwächlichen Seelenzustand gehalten, indem ich Dich verließ, und da dies mehr wert ist, als äußere Dinge, so sah ich, nach vollendetem Selbstverhör, der unbekannten Zukunft heiter entgegen und ergötzte mich sogleich behaglich an der Gegenwart. Diese bestand vorderhand in dem vollsten Jagen des halbbetrunkenen Postillons; denn einem hohen Meerdamme entlang, im blassen Mondenlicht, gings ›hop, hop, hop, dahin im sausenden Galopp‹, bis wir einen sehr eleganten Gasthof in Howth erreichten, wo ich die Nacht schlief. Ein schöner, ungeheurer New Foundland-Hund leistete mir abends beim Teetrinken Gesellschaft und frühstückte am andern Morgen desgleichen mit mir. Ganz weiß, mit einer schwarzen Schnauze, sah das kolossale Tier einem Eisbär ganz ähnlich, der (wie im ›Bär und Bassa‹) aus Distraktion den schwarzen Kopf eines Landbären aufgesetzt hat. Ich wollte ihn kaufen, er war aber dem Wirt durchaus nicht feil.

In der Nacht hatte ich einen sonderbaren Traum. Ich fand mich in politische Affairen verwickelt, infolge deren man meiner Person nachstellte und mein Leben auf alle Weise bedrohte. Zuerst entging ich auf einer großen Jagd mit genauer Not dem Tode, indem vier bis fünf verkleidete Jäger mich mitten im dichtesten Walde anfielen und ihre Büchsen auf mich abfeuerten, ohne mich jedoch treffen zu können. Nachher versuchte man mich zu vergiften, und schon hatte ich das grüne Pulver, welches mir als Medizin gegeben worden war, verschluckt, als der Herzog von Wellington hereintrat, um mir ganz kaltblütig zu sagen: Es sei nichts von Bedeutung, er habe eben dasselbe bekommen, hier sei das Gegengift. Nach diesem Genuß begann die gewöhnliche Operation der Gegengifte, (wahrscheinlich schon die Antizipation im Traume des morgenden Zustandes auf der See) – in kurzem ward mir jedoch wohler als je. Alles ging überdem in meinen Geschäften nach Wunsch, ich reiste ab und war bereits dem Ziele in jeder Hinsicht nahe. Da überfallen mich Räuber, reißen mich aus dem Wagen und schleppen mich durch Gestrüpp und Ruinen auf eine turmhohe schmale Mauer, auf der wir hastig fortschreiten, während sie, vom Alter zerbröckelt, unter unsern Füßen zu wanken scheint. Der Marsch will kein Ende finden, und außer der Angst quält mich, wie die Räuber gleichfalls, ein nagender Hunger. Sie rufen mir endlich wütend zu, ich solle ihnen Nahrung schaffen, oder sie würden mich selbst schlachten. In dieser Not deucht es mir, eine leise Stimme zu hören, die mir zuruft: ›Weise ihnen jene Tür.‹ Ich blicke auf, und erblicke ein hohes klosterartiges Gebäude, mit Efeu überwachsen, an welches schwarze Tannen sich schmiegen, ohne Fenster noch Türe, ausgenommen eine verschlossene porte cochère von Bronce, hoch genug um ein Haus hineinzuschieben. Schnell gefaßt, rufe ich nun den Räubern zu: ›Ihr Narren, was verlangt ihr von mir Nahrung, wenn das große Magazin gerade vor euch liegt!‹ – ›Wo?‹ brüllt der Hauptmann? – ›Öffnet dieses Tor‹, erwiderte ich spöttisch. Als würde die ganze Bande es erst jetzt gewahr, stürzt nun alles darauf los, der Hauptmann voran – doch ehe er es noch berührt, öffnen sich schon schweigend und langsam die ungeheuren Pforten. Ein seltsamer Anblick erschließt sich. Wir sehen in einen tiefen, tiefen Saal hinein, der uns endlos dünkt; in schwindelnder Höhe wölbt sich die Decke; prachtvoll ist alles verziert mit farbigem transparentem Gold, kunstvollen Basreliefs und Gemälden, die alle Leben und Bewegung zu haben scheinen. Auf beiden Seiten aber erstreckt sich an den Wänden hin eine unabsehbare Reihe grimmig aussehender Holzfiguren, mit grob gemalten Gesichtern, in Gold und Stahl gekleidet, Schwert und Lanze gezückt und auf ausgestopften Pferden reitend. In der Mitte schließt die Perspektive ein schwarzes Riesenroß, das einen Ritter trägt, dreimal größer und dreimal furchtbarer als die übrigen. Vom Scheitel bis zur Zehe ist auch er in schwarzes Eisen gehüllt. – Wie inspiriert rufe ich aus: ›Ha, Rüdiger, du bist's, ehrwürdiger Ahnherr, rette mich!‹ Die Worte hallten, wie lauter Donner, hundertfach in den Gewölben wieder, und wir glaubten die Holzfiguren wie ihre Pferdebälge die Augen gräßlich verdrehen zu sehen. Alle schauderten – da plötzlich schleudert der Riese sein furchtbares Schlachtschwert, wie einen Blitz in die Höhe, und schon ist uns sein Roß, in entsetzlichen Sätzen vorwärts springend, ganz nahe, als eine Glocke mit dröhnenden Schlägen ertönt, und der Riese wieder felsenfest vor uns steht. Wir aber, von Grausen überwältigt, flohen insgesamt, so schnell uns unsre Beine tragen wollten. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich nicht zurückblieb. Ich war indes unter altes Gemäuer geraten, die Angst machte meine Gebeine zu Blei. Jetzt erblickte ich eine Seitentüre, und will eben hindurch, als eine gellende Stimme mir dicht in's Ohr schreit: ›half past seven!‹ (halb acht Uhr). Vor Schreck bin ich im Begriff zu Boden zu sinken, eine starke Hand erfaßt mich – ich schlage betäubt die Augen auf und – mein irländischer Bedienter steht vor mir – bloß um zu melden, daß, wenn ich nicht bald aufstände, das Dampfboot ohnfehlbar ohne mich absegeln werde. Du siehst, Julie, sowie ich mich auf die Reise begebe, stellen sich auch wieder kleine Abenteuer ein, wäre es auch nur im Schlafe.

Auf dem Schiff fand ich die Leute noch beschäftigt, einen schönen, und fast noch mit mehr Überflüssigkeiten und Bequemlichkeiten bepackten Wagen, als ich mit mir führe, wenn ich auf diese Art reise, einzuschiffen. Der Kammerdiener und Bediente waren emsig und respektvoll dabei beschäftigt, während ein kleiner Mensch mit einem blonden sorgfältig gekräuselten Lockenkopf, ganz schwarz, aber sehr elegant gekleidet und ohngefähr zwanzig Jahre alt, mit aller Indolenz eines englischen fashionable, auf dem Verdeck hin und her schlenkerte, ohne von seinem Eigentum und der Mühe seiner Leute die geringste Notiz zu nehmen. Wie ich nachher erfuhr, war er eben zu einer Erbschaft in Irland von 20 000 Pfd. Sterl. Revenuen gelangt, und nun im Begriff, es unter die Leute zu bringen. Er eilte nach Neapel und schien so guter Dinge, daß selbst die Seekrankheit seine gute Laune nicht verdarb. Indem ich mit ihm sprach, dachte ich mir, uns beide innerlich betrachtend: Voilà le commencement et la fin! Einen den die Welt aussendet und zu ihm sagt: Genieße mich – und einen den sie zu Hause schickt, und zu ihm sagt: Verdaue mich. – Der Himmel erhalte mir nur meinen guten Magen dazu! Doch diese melancholischen Ansichten entstanden nur aus den qualms des Dampfkessels und der Seekrankheit, und nach einiger Überlegung freute ich mich an dem Anblick der hoffnungsreichen Jugend, als wenn ich es selbst wäre, dem sie noch Illusionen machte.

Heute Abend gedenke ich mit der mail weiterzugehen und hoffe, daß ein gutes dinner der Ekelkur ein Ende machen wird, welche die Nachwehen der Überfahrt noch zurückgelassen hat.


Shrewsbury, den 16ten abends

Es ging mir nicht ganz so wohl als ich erwartete. Das dinner war keineswegs gut, sondern sehr schlecht, und die Folgen der See gaben mir Migraine, mit der ich um Mitternacht abfahren mußte. Glücklicherweise waren wir nur zwei Personen in dem bequemen, viersitzigen Wagen, so daß jeder eine ganze Seite einnehmen konnte. Ich schlief daher leidlich, und die Luft, wie die sanfte Bewegung, wirkten so wohltätig, daß gegen sieben Uhr, als ich erwachte, das Kopfweh ziemlich vergangen war. Die Holyhead-Mail muß, allen Aufenthalt mit eingerechnet, zwei deutsche Meilen in der Stunde zurücklegen, daher nie Schritt, meistens Galopp gefahren wirdUnsre Eilkutschen werden nur dann den englischen gleich kommen, wenn einmal die Post ganz frei gegeben wird, dann aber auch eine gleiche Konkurrenz von Reisenden angeschafft. Beides steht nicht zu erwarten. A. d. H. . Zum Frühstück trafen wir schon hier ein, wo ich blieb, um mir die Stadt zu besehen. Ich besuchte zuerst das Schloß, größtenteils ein uraltes Gebäude, von roten Sandsteinquadern aufgeführt, inwendig aber etwas modernisiert. Die Aussicht von dem alten keep, wo jetzt ein Sommerhäuschen steht, über den Fluß, und eine üppig bewachsene und fruchtbare Gegend ist sehr freundlich. Nahe dabei ist das Stadtgefängnis, wo ich die armen Teufel in der Tretmühle arbeiten sah. Sie waren alle in gelbes Tuch gekleidet, soviel sächsischen Postillonen ähnlich, deren Phlegma eine gleiche Aufregung manchmal zu gönnen wäre. Von dieser neumodischen Erziehungsanstalt, wanderte ich (mich schnell achthundert Jahre zurückversetzend) nach den Überresten der alten Abtei, von der nur noch die schöne Kirche erhalten und im Gebrauch ist. Die Glasfenster darin sind, wie überall in England, von den verrückten Fanatikern unter Cromwell zerstört, aber hier mit neugemaltem Glas außerordentlich gut restauriert worden. Der Erbauer dieser Abtei, Roger Montgomery, erster Graf von Shrewsbury und einer der Feldherren Wilhelm des Eroberers, liegt in der Kirche, unter einem schönen Monumente begraben. Daneben ein Templer, ganz dem in Worcester ähnlich, nur nicht in Farben. Er liegt auch mit überschlagenen Beinen auf dem Steine ausgestreckt, wie jener, welche besondere Stellung eine Eigentümlichkeit auf den Gräbern der Templer gewesen zu sein scheint. Der Graf von Shrewsbury baute nicht nur die Abtei und dotierte sie, sondern starb auch selbst als Mönch darin, um seine Sünden zu büßen. So wußte die Elastizität des menschlichen Verstandes der rohen Gewalt der Ritter mit überlegener Schlauheit bald geistlichen Zaum und Gebiß anzulegen.

Die Stadt ist sehr merkwürdig wegen der Menge ihrer alten Privathäuser, alle von der seltsamsten Form und Bauart. Ich blieb oft in den Straßen stehen, um einige auf meiner Schreibtafel abzuzeichnen, was immer eine Menge Volks um mich versammelte, das mir verwundert zusah – und mich nicht selten störte. Die Engländer dürfen sich also nicht so sehr wundern, wenn es ihnen in der Türkei und Ägypten ebenso ergeht.


Hereford, den 17ten

Es ist nicht zu leugnen, daß man, nach einiger Zeit der Entbehrung, den englischen comfort immer mit Vergnügen wieder findet. Abwechselung ist überhaupt die Seele des Lebens, und gibt jedem Dinge dans son tour, wieder erneuten Wert. Die guten Gasthöfe, die reinlich servierten breakfasts und dinners, die geräumigen, und sorgfältig gewärmten Betten, die höflichen und gewandten Kellner – fielen mir, nach dem irländischen Mangel, sehr angenehm auf, und versöhnten mich bald mit den höheren Preisen. Um zehn Uhr früh verließ ich Shrewsbury, wiederum mit der mail, und erreichte Hereford um acht Uhr abends. Da es nicht kalt war, saß ich außerhalb, und zedierte meinem Bedienten den Platz in der Kutsche. Zwei bis drei unbedeutende Männer und ein hübscher, aufgeweckter Knabe von elf Jahren formierten meine Gesellschaft auf der Imperiale, wo gewaltig politisiert wurde. Der Knabe war der Sohn wohlhabender Gutsbesitzer, der von seiner hundert Meilen entfernten, Erziehungsanstalt zur Christmas ganz allein zu Hause reiste. Diese Gewohnheit Kinder so früh schon, auf ihre eignen Kräfte anzuweisen, gibt ihnen gewiß für das folgende Leben die vermehrte Selbständigkeit und Sicherheit, welche die Engländer vor andern Nationen, namentlich den Deutschen, voraushaben. Die Freude und bewegliche Unruhe des Kindes, je mehr es sich dem väterlichen Hause näherte, rührte und ergötzte mich. Es war so etwas Natürliches und Inniges darin, das mich unwillkürlich an meine eigne Kinderjahre erinnerte – dies unschätzbare und zu seiner Zeit ungeschätzte Glück, das wir nur im Rückblick zu erkennen imstande sind!


Monmouth, den 18ten

Gute Julie, heute habe ich wieder einen jener romantischen Tage erlebt, die ich lange entbehrt, einen von den Tagen, deren mannigfache Bilder, wie Feenmärchen in der Kindheit, erfreuen. Der berühmten Szenerie des Flusses Wye verdanke ich sie, die, selbst im Winter, auf den Namen einer der schönsten Gegenden Englands Anspruch machen kann

Ehe ich Hereford verließ, besah ich noch sehr früh die Kathedrale, die, außer einem schönen Portikus, nicht viel Sehenswertes darbietet, hätte aber bald darüber die mail versäumt, welche in England auf niemand wartet. Sie war bereits im vollen Trabe, und ich fing sie wörtlich im Fluge auf. Nur für die dreizehn Meilen bis Ross, die wir außerordentlich schnell, obgleich mit vier blinden Pferden, zurücklegten, bediente ich mich des Wagens, dann nahm ich ein Boot, schickte es fünf Meilen voraus nach dem alten Schloß Goderich, und schlug selbst meinen Weg dahin zu Fuß ein. Er führte mich zuerst auf einen hochgelegenen Kirchhof mit prachtvoller Aussicht, dann durch eine üppige Gegend, wie am Luganer See, bis zur Ruine, wo ich das kleine Boot mit zwei Ruderern und meinem Irländer schon vorfand. Ich mußte über den Fluß setzen, der hier ziemlich reißend ist, um zu dem, mit der alten Burg gekrönten, Berg zu gelangen. Das Steigen auf dem schlüpfrigen Rasen war ziemlich beschwerlich. Als ich in den hohen Torweg trat, nahm mir ein Luftstoß die Mütze vom Kopfe, als wolle der Berggeist mir mehr Respekt für die Schatten der verbliebenen Ritter einflößen. Die Ehrfurcht und Bewunderung konnte aber nicht vermehrt werden, mit der ich die dunklen Gänge, die geräumigen Höfe durchirrte, und auf die verfallenen Treppen hinaufkletterte. Im Sommer und Herbst wird der River Wye von Reisenden nicht leer, da aber wahrscheinlich nie ein methodischer Engländer die Reise auch im Winter unternahm, so sind auch die Leute nicht darauf eingerichtet, und ich fand den ganzen Tag lang nirgends weder Führer noch irgend eine Sorgfalt zum Behuf der Touristen. So war auch die Leiter, welche nötig ist um zu der abgebrochenen Treppe des Hauptturms zu gelangen, nicht vorhanden, sondern bereits in die Winterquartiere gebracht. Mit Hilfe der Bootsleute und meines Dieners, etablierte ich jedoch eine Jakobsleiter, auf deren Rücken ich mich hinaufschwang. Man übersieht von der Zinne eine unermeßliche Strecke Landes, und die Raubritter, wenn es solche hier gab, konnten Reisende von hier schon meilenweit ankommen sehen. Nachdem ich alles gehörig durchkrochen hatte und den Berg auf der andern Seite wieder hinabgestiegen, frühstückte ich behaglich im Boote, während dieses geschäftig von den schnell strömenden Wellen fortgetragen wurde. Das Wetter war schön, die Sonne schien hell, ein sehr seltner Fall in dieser Jahreszeit, und die Luft war so warm, wie an einem angenehmen Apriltag bei uns. Die Bäume hatten freilich kein Laub, da sie aber ungemein dicht in Ästen, auch mit vielem Immergrün untermischt waren und das Gras dabei weit grüner und heller glänzte als im Sommer, so verlor die Landschaft durch die Jahreszeit weit weniger als man erwartet hätte. Der Boden ist ungemein fruchtbar, die sanften Hügel von oben bis unten bewachsen, wenig Felder, meistens Wiesen zwischen den Büschen, und jeden Augenblick erscheint ein Turm, Dorf oder Schloß, welche die fortwährenden Krümmungen des Flusses in den verschiedenartigsten Ansichten zeigen. Eine Zeitlang schwammen wir an den Grenzen dreier Grafschaften hin, Monmouth zur rechten, Hereford zur linken, und Gloucester vor uns. An einer malerischen Stelle, Eisenhämmern gegenüber, deren Flammen auch bei Tage sichtbar waren, erhebt sich ein Landsitz, der halb den neuen Stempel unserer Zeit, halb den des grauen Altertums trägt – dies ist die Wiege Heinrichs des V., denn hier verbrachte er seine Kindheit unter Aufsicht der Gräfin von Salisbury. Tiefer unten im Tal steht noch dieselbe unansehnliche kleine Kirche, in der er getauft, und seine Pflegerin begraben ward. Azincourt und Falstaff, Mittelalter und Shakespeare wurden lebendig vor meiner Phantasie, bis die noch ältere und größere Natur selbst, mich bald alles übrige vergessen ließ. Denn nun gleitete unser Kahn in die Felsenregion hinein, wo der schäumende Fluß, und seine kühnen Umgebungen den imposantesten Charakter annehmen. Es sind verwitterte und zerbröckelte Sandsteinwände, von riesenhaften Dimensionen, alle schroff und perpendikulär abfallend, aus Eichenwäldern hervorstehend, und mit hundertfachen festons von Efeu überhangen. Die Regen und Stürme vieler Jahrtausende haben die weiche Masse in so phantastische Formen verwaschen und gemodelt, daß man künstliches Menschenwerk zu sehen glaubt. Schlösser und Türme, Amphitheater und Mauern, Zinnen und Obelisken, äffen den Wanderer, der sich in die Ruinen einer Dämonenstadt versetzt wähnt. Oft lösen sich einzelne dieser Gebilde bei Unwettern ab und stürzen verheerend, von Felsen zu Felsen abprallend, mit Donnergetöse in die unergründliche Tiefe des Stroms. Man zeigte mir die Überbleibsel eines dieser Blöcke, und das Monument des armen Portugiesen, den er in seinem Falle begrub. Diese seltsame Felsenformation erstreckt sich, fast acht Meilen weit, bis eine Stunde vor Monmouth, wo sie mit einem einzeln stehenden Kolosse schließt, welcher der ›Kopf des Druiden‹ genannt wird. Von einem gewissen Punkte gesehen, zeigt er nämlich das schöne, antike Profil eines Greises, der in tiefem Schlaf versunken scheint. – Als wir vorbeifuhren, stieg eben der Mond über ihn empor und gab ihm einen ergreifenden Ausdruck. Wie lange, dachte ich, sind dieses Schläfers Augen schon geschlossen, wie oft mag seitdem der Mond sein bleiches Antlitz bestrahlt, und was mag in uralten Zeiten sein Auge gesehen haben, wenn es je offen stand! Ich zweifelte daran in diesem Augenblick gar nicht, der Glaube war über mich gekommen und hatte mich selig gemacht, denn der heilige Augustin hat ganz recht, wenn er sagt: ›Eben deswegen glaube ich es, weil es kindisch und unmöglich ist!‹ Ja, es war so, der tote Stein hatte für mich mehr Leben gewonnen, als alle wirklich lebenden Figuren um mich her.

Eine kurze Zeitlang fuhren wir nun zwischen verengten, dicht vom Wasser bis zur Spitze bewaldeten Ufern, hin, bis eine große kahle Felsenplatte sichtbar wurde, die ›König Arthurs Ebne‹ genannt wird, weil der fabelhafte Held hier sein Lager aufgeschlagen haben soll. Eine halbe Stunde darauf langten wir in Monmouth an, einer kleinen altertümlichen Stadt, in der Heinrich der V. geboren wurde. Seine hohe Statue prangt auf dem Dache des Rathauses; von dem Schlosse aber, in dem er das Licht der Welt zuerst erblickte, ist nur noch ein gotisch verziertes Fenster und ein Hof übrig, in dem Truthühner, Gänse und Enten gemästet werden. Dies paßte freilich besser zum Geburtsort Falstaffs.

Um einen schriftlichen Wegweiser zu kaufen, ging ich in einen Buchladen, wo ich unerwartet die Bekanntschaft einer sehr liebenswürdigen Familie machte. Sie bestand aus dem alten Buchhändler, seiner Frau, und zwei hübschen Töchtern, die unschuldigsten Landmädchen, die mir je vorgekommen. Ich traf sie bei ihrem Abendtee, und der Vater, ein gutmütiger, aber für einen Engländer seltsam sprachseliger Schwätzer, nahm mich förmlich fest und gefangen, um mir die sonderbarsten Fragen über den Kontinent und die Politik vorzulegen. Die Töchter, die mich, wahrscheinlich aus Erfahrung, bedauerten, wollten ihn abhalten – ich ließ ihn aber gewähren, und gab mich de bonne grâce eine halbe Stunde preis, wodurch ich die Gewogenheit der ganzen Familie in solchem Grade gewann, daß alle mich auf das dringendste einluden, doch einige Tage hier in der schönen Gegend zu verweilen und bei ihnen zu wohnen. Als ich endlich ging, wollten sie für das gekaufte Buch durchaus nichts annehmen, und ich mußte es bon gré mal gré als Geschenk behalten.

Solche schlichte Eroberungen freuen mich, weil ihre Ergebnisse nur vom Herzen kommen können.


Chepstow, den 19ten

Als ich früh angezogen war und nach schnell genommenem Frühstück abreisen wollte, bemerkte ich, nicht ohne unangenehme Überraschung, daß mir meine Börse und Taschenbuch fehlten, die ich immer bei mir zu tragen pflege. Ich erinnerte mich ganz genau, sie gestern abend, als ich im coffeeroom, wo ich mich ganz allein befand, gegessen und an Dich geschrieben hatte, vor mir hingelegt zu haben, weil ich aus dem Taschenbuch Noten für meinen Brief entnahm und die Börse gebrauchte, um die Schiffer zu bezahlen. Ohne Zweifel hatte ich sie dort liegen lassen, und der Kellner sie sich zu Gemüte geführt. Ich ließ ihn sogleich rufen, rekapitulierte das angegebne Factum und fragte, ihn scharf dabei ansehend, ob er wirklich nichts gefunden? Der Mensch ward blaß und verlegen, und stammelte, er habe nichts gesehen, als ein einzelnes beschriebenes Blatt Papier, was, wie er glaube, noch unter dem Tische liege. Ich sah nach und fand es in der Tat an der bezeichneten Stelle. Alles dies schien mir immer verdächtiger, ich machte daher dem Wirt, einem höchst widrig aussehenden baumlangen Kerl, Vorstellungen, die zugleich einige Drohungen enthielten, er aber antwortete kurz: Er kenne seine Leute, ein Diebstahl sei bei ihm seit dreißig Jahren nicht vorgefallen, mein Vorgeben sei ihm daher höchst auffallend – er werde zwar, wenn ich es wolle, sogleich nach einem Magistrat schicken, alle seine Leute schwören, sein ganzes Haus untersuchen lassen – »dann aber«, setzte er höhnisch hinzu, »vergessen Sie nicht, daß auch Ihre Sachen bis auf die größte Kleinigkeit untersucht werden müssen, und wenn man bei uns nichts findet Sie die Kosten, und mir Entschädigung bezahlen werden«. Qu'allais-je faire dans cette galère! dachte ich, und sah wohl, das Beste sei, meinen Verlust, von ohngefähr zehn Pfund, zu verschmerzen, und abzuziehen. Ich nahm daher frische Noten aus meinem Mantelsack, bezahlte die ziemlich billige Rechnung, und glaubte bei dem mir herausgegebenen Gelde ganz deutlich einen meiner eignen Sovereigns wiederzuerkennen, der einen kleinen Riß über dem allerhöchsten Auge Georg des IV. hatte. Überzeugt, daß Wirt und Kellner unter eine Decke steckten, schüttelte ich den Staub von meinen Füßen und hatte, als ich das Haus in einer Postchaise verließ, das Gefühl eines Menschen, der eben einer Räuberhöhle entronnen ist.

Um aber doch künftigen Reisenden einen Dienst zu erzeigen, ließ ich den Wagen, sowie ich um die Ecke war, halten, und ging zu Fuß zu dem gestern erwähnten Buchhändler, ihm mein Mißgeschick mitzuteilen. Das Erstaunen und Bedauern aller war gleich groß – bald darauf fingen die Töchter indes an mit der Mutter zu zischeln, machten sich Zeichen, nahmen dann den Vater bei Seite, und nach kurzer Deliberation kam die jüngste wieder verlegen auf mich zu, und fragte errötend: ob der eben gehabte Verlust mir nicht vielleicht ›a temporary embarrassment‹ verursachte, und ob ich nicht ein Darlehn von fünf Pfund annehmen wolle, was ich ihnen bei meiner Rückkehr wiedererstatten könne? Dabei wollte sie mir die Note gleich in die Hand stecken. – Diese Güte rührte mich wirklich tief – sie hatte etwas so Zartes und Uneigennütziges, daß die größte Wohltat mir vielleicht, unter andern Umständen, weniger Dank eingeflößt haben würde, als dieser gute Wille. Du kannst denken, wie herzlich ich dankte. Gewiß, sagte ich, würde ich, wenn ich es im geringsten nötig hätte, nicht zu stolz gewesen sein, ein so gut gemeintes Darlehen anzunehmen, da dies aber in keiner Art der Fall sei, so würde ich ihren Großmut auf eine andere Weise in Anspruch nehmen, und bäte mir daher aus, von jeder der zwei hübschen Monmoutherinnen einen Kuß mit nach dem Kontinent nehmen zu dürfen. Dies geschah unter vielem Lachen und mit freundlicher Hingebung, worauf ich, so betrachtet, meinen Wagen wieder aufsuchte. Da ich gestern auf dem Wasser geschifft, zog ich heute den Weg zu Land vor, der ebenfalls immer längs des Flusses nach Chepstow führt. Die Gegend bleibt von derselben Art; reich, dunkelwaldig und wiesengrün, hier aber noch vielfach durch Hochöfen, Zinn- und Eisenwerke belebt, deren Feuer in gelb, rot, blau und grünlichen Farben spielen und aus turmhohen Feueressen lodern, wo sie zuweilen ganz die Form großer glühender Blumen annehmen, wenn Feuer und Rauch, von der Atmosphäre niedergedrückt, lange Zeit in dichter unbeweglicher Masse verweilen. Ich stieg aus, um eines der Zinnwerke zu besehen. Es wurde nicht, wie gewöhnlich, von einer Dampfmaschine, sondern von einem ungeheuern haushohen Wasserrade getrieben, das wiederum drei oder vier kleinere in Bewegung setzte. Dieses Rad hatte die Kraft von achtzig Pferden, und die reißende Geschwindigkeit, mit der es sich drehte, der grausende Lärm, der im Moment, wo es angelassen ward, ertönte, die funkensprühenden Feuerherde rund umher, wo das Eisen glühte, und die halb nackten schwarzen Figuren dazwischen, die mit Hämmern und Keulen wild hantierten, und die rotzischenden Tafeln umherwarfen – es paßte alles vortrefflich zu einem Bilde der Schmiede Vulkans.

Die Manipulation beginnt damit, daß geschmiedete Eisenbarren oder Stäbe von einem halben Zoll Dicke und acht Fuß Länge, unter ein selbst agierendes Messer gehalten werden, das sie in fußlange Stücke schneidet, mit einer Grazie und Leichtigkeit, als leisteten sie nicht mehr Widerstand, wie frische Butter. Das abgeschnittene Stück wird sogleich einem andern Arbeiter zugeworfen, der es in ein höllisches Feuer schiebt, wo es in wenigen Augenblicken glühend wird. Er holt es dann mit einer Zange wieder heraus und wirft es, eine Station weiter, auf den sandigen Boden. Hier hebt es ein Dritter auf und schiebt es unter einer Walze, die es nach mehrmaligem schnellen Umdrehen in eine viermal größere und ebensoviel dünnere Platte verwandelt. Diese Platte geht nun denselben Weg wieder in's Feuer zurück, wird dann von neuem gewalzt und so fort, bis sie so dünn wie Papier ist. Nun werden die Platten erst in die ihnen bestimmte definitive Form geschnitten, hierauf geschlagen und gereinigt, welches noch einmal Feuer, nebst gewissen andern Zutaten, erfordert. Dann kommen sie in ein zweites Haus, wo sie in Vitriol und Sand gewaschen, nachher in das mit Fett flüssig erhaltne Zink getaucht, und zuletzt von Weibern mit Kleie sauber gereinigt und so schön poliert werden, daß man sich darin spiegeln kann. Eine solche Fabrik ist wie eine Welt im kleinen. Man sieht, hier wie dort, das Höchste und Niedrigste zugleich bestehen, und doch auch den mühsamen Durchgang eines jeden durch alle Grade, und wie nach und nach das Grobe zum Feinsten wird.

Auf halbem Wege verwandelte sich, wie gestern, die freundliche Gegend, in ernstere Felsen, und da, wo sich ein tiefer Kessel verschieden geformter Berge bildet, erblickten wir in dessen Mittelpunkt, hart über dem silbernen Strome sich erhebend, die berühmte Ruine von Tintern Abbey. Eine vorteilhaftere Lage und imposantere Überreste eines weiten, alten Klosters, lassen sich kaum denken, ja der Eintritt in dieselben gleicht ganz einer phantastischen Theaterdekoration. Die große Kirche steht fast noch ganz erhalten, nur einige ihrer Pfeiler und das Dach fehlen. Die Gebäude sind von menschlicher Hand grade so weit unterstützt, als es alle Ruinen sein sollten – nämlich der unmalerische und das bequeme Besehen derselben verhindernde Schutt ist aufgeräumt, ohne doch irgend etwas auszubessern, noch angewandte Sorgfalt zu viel bemerken zu lassen. Ein schöner ebner Rosenteppich deckt den Boden, und großblättrige Wucherpflanzen wachsen aus dem Gestein. Die herabgefallnen Zierrate sind zum Teil wieder zu künstlerischer Unordnung benutzt, und eine vollkommene Doppelallee von dicken Efeustämmen (ich kann es nicht anders nennen) klimmt an den Pfeilern empor und bildet ein wundervolles Laubdach in der Höhe. Um die Ruine besser zu sichern, hat man ein neues, mit Eisen beschlagnes Eingangstor im Stil des alten hergestellt, welches, plötzlich vor einem geöffnet, den überraschendsten Eindruck hervorbringt. Man steht, ganz unerwartet, auf einmal in der erwähnten Pfeiler- und Efeuallee, und sieht sie, dreihundert Schritt weit vor sich, perspektivisch zusammentreten und durch ein prächtiges achtzig Fuß hohes und dreißig Fuß breites Fenster geschlossen, hinter dessen durchwundnen Steinzierden man einen spitzen, dichtbewaldeten Berg erblickt, aus dem hie und da schroffe Felsenmassen heraustreten. Oben in der Höhe weht der Wind mit den Efeugirlanden, und Wolken werden am tiefblauen Himmel sichtbar, die eilend hindurchziehen. Gelangt man in die Mitte der Kirche, wo man das Kreuz übersieht, so bieten die Fenster der Seitenflügel, fast mit dem Mittelfenster von gleicher Größe, ähnlich schöne und doch sehr verschiedne Aussichten dar, alle aber in dem wilden und erhabnen Stil, der der Ruine zusagt. Die nächste Umgebung der Kirche ist ein üppiger Obstgarten, was im Frühjahr einen reizenden Effekt hervorbringen muß, wenn die alten schwarzen Mauern aus dem duftenden Blütenmeere emporsteigen. Ein vandalischer Lord und Lord-Lieutenant der Provinz ging, wie ich hörte, mit dem frommen Gedanken um, die Kirche wiederherzustellen. Glücklicherweise nahm ihn der Himmel vor der Ausführung zu sich.

Von Tintern Abbey an steigt die Straße ununterbrochen bis hoch über den Fluß hinan, den man jedoch nie ganz aus den Augen verliert. Die Gegend selbst erreicht den höchsten Grad ihrer Schönheit nach drei oder vier Meilen, bei einer Villa des Herzogs von Beaufort, das ›Mooshaus‹ genannt; hier sind reizende Anlagen, welche durch wilden Wald und immergrüne Sträucher, bald am Rande tiefer Felsenwände, bald durch die dunklen Höhlen, die die Natur selbst gebildet, oder auf offne Platten heraustretend, in vielfachen Windungen bis zur höchsten Spitze des Gebürges, der ›Windcliff‹ (Sturmklippe) getauft, führen, wo man eine der größten Aussichten Englands, und zwar im erhabensten Stil, genießt.

Ohngefähr achthundert Fuß tief, zeigt der ziemlich jähe Abhang unter Dir, teils einzeln hervorstehende Felsen, teils eine grüne, bebuschte schroff abfallende Fläche. An ihrem Fuße verfolgt das Auge mehrere Meilen weit den Lauf des Flusses Wye, der links aus einer Wald- und Bergschlucht hervorbricht, sich in einem weiten Bogen nähert, eine Gärten ähnliche grüne Halbinsel, die einen mit Bosketts bedeckten Hügel bildet, umfließt; dann rechts an einer ungeheuern Felsmauer, die mit einem Standpunkt fast gleiche Höhe hat, sich schäumend durcharbeitet, und zuletzt bei der, einer verfallnen Stadt ähnlichen, Ruine des Schlosses von Chepstow, sich in den Kanal von Bristol ergießt, wo alles im Ozean in nebelhafter Ferne verdämmert.

Jenseits des Flusses, vor Dir, erstreckt sich, fast durch die ganze zu übersehende Gegend hin, der scharfe Kamm eines langen Bergrückens, mit dichtem Walde bedeckt, aus dessen Baumgewühl eine fortlaufende, mit Efeu festonierte Felswand malerisch hervorbricht. Über diesem Gebürgskamm siehst Du von neuem Wasser, die 5 Meilen breite Severn, welche von hundert weißen Segeln wimmelt, und an ihren jenseitigen Ufern erblickst Du noch zwei sich übereinander lagernde blaue Hügelreihen voll Fruchtbarkeit und reichem Anbau.

Die Gruppierung dieser Aussicht bildet ein vollendetes Ideal, und ich kenne keine schönere. Unerschöpflich an Details, von unabsehbarem Umfang, und dennoch von so hervorstechenden, grandiosen Hauptzügen, daß dadurch die Verwirrung und Leere, welche ein sehr weit umfassender Horizont gewöhnlich verursacht, gänzlich vermieden wird. Der Park von Piercefield, der von Windcliff bis Chepstow die Fels- und Bergrücken einnimmt, ist daher ohne Zweifel einer der herrlichsten in England, wenigstens was seine Lage betrifft. Er besitzt alles, was die Natur nur geben kann, hohen Wald, prächtige Felsen, den fruchtbarsten Boden, ein mildes günstiges Klima für Vegetationen aller Art, einen reißend strömenden Fluß, das nahe Meer, Einsamkeit, und aus ihrer Ruhe die Aussicht in diese reiche Gegend, die ich geschildert, gehoben vom Anblick einer der erhabensten Burgruinen, welche nur des Malers Pinsel erfinden könnte, ich meine das über dem Fluß hängende, mehr als 6 Morgen Landes bedeckende Schloß von Chepstow, welches nach der Stadt zu den Park begrenzt, obgleich es nicht als Eigentum dazu gehört.

Fast alle Schloßruinen in England verdanken wir Cromwell, so wie die zerstörten Kirchen und Klöster Heinrich dem Achten. Die erstern wurden mit Feuer und Schwert verheert, die andern bloß aufgehoben und dem nagenden Zahne der Zeit, wie dem Eigennutze der Menschen überlassen. Beide Potenzen haben vollkommen gleich gewirkt, und die beiden großen Männer dadurch einen Effekt hervorgebracht, den sie freilich nicht bezweckten, der aber dem gleich ist, den ihre Personen selbst in der Geschichte zurückgelassen, nämlich ein pittoresker. Ich wanderte durch den Park zu Fuß und ließ den Wagen auf der Landstraße folgen. Erst bei halber Dämmerung erreichte ich die Ruine, was ihren großartigen Eindruck auf mich nur noch vermehrte. Das Schloß hat vier weitläufige Höfe nebst einer Kapelle, und ist zum Teil noch gut erhalten. Hohe Nuß- und Taxus-Bäume, Obstplantagen und schöner Rasen zieren das Innere, wilde Wein- und Schlingpflanzen aller Art bedecken die Mauern. In dem am besten konservierten Teile des Schlosses wohnt eine Frau mit ihrer Familie, die dem Besitzer, dem Herzog von Beaufort, eine Rente für die Erlaubnis zahlt, die Ruine Fremden zu zeigen, welche einen Schilling dafür erlegen müssen. Du siehst, qu'en Angleterre on fait flêche de tout bois, und daß ein dortiger Herzog mit 60 000 Pf. St. Einkünfte weder den Heller der Witwen verschmäht, noch sich scheut, Fremde regelmäßig in Kontribution setzen zu lassen. Es gibt zwar leider deutsche Souverainchen, die es nicht anders machen.

Ebensowohl mit meinem durchlebten Tage zufrieden, als müde vom Klettern, und durchnäßt vom Regen, der sich in der letzten Stunde wieder eingestellt hatte, eilte ich in den Gasthof, in mein Negligé, und zum Eßtisch. Da fühlte ich etwas Ungewöhnliches in der Tasche meines Schlafrocks – verwundert brachte ich es heraus, und beschämt betrachtete ich es – die gestohlen geglaubte Börse nebst Taschenbuch! Jetzt erst fiel es mir bei, daß ich sie am vorigen Abend an diesen ungewöhnlichen Ort verwahrt, aus Besorgnis, sie später auf dem Tische zu vergessen. Dies soll mir wenigstens eine Lehre sein, nicht mehr zu leicht auf den bloßen Schein hin, und auf die Verlegenheit des Angeklagten zu verdammen, denn bei Menschen von reizbarem Nervensystem und regem Ehrgefühl bringt leicht der bloße Gedanke: daß andere einen solchen Verdacht haben könnten – dieselben Symptome, wie bei Sündern das Bewußtsein der Schuld hervor. Meinem guten Herzen wirst Du zutrauen, daß ich sogleich einen Brief an meinen Freund, den Buchhändler, expedierte, um Wirt und Kellner zu disculpieren, und als Schmerzensgeld für den letzteren zugleich zwei Pfund beilegte, die ich an ihn, mit meiner Bitte um Verzeihung, abzugeben ersuchte. Hierauf schmeckte mir in Wahrheit das Essen noch besser, da ich nach Kräften Übles wieder gut gemacht.

Dein treuer L...


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