Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Dreiundvierzigster Brief

Dublin, den 7. Dezember 1828

Liebe Julie!

Die Schilderungen der public dinners und der albernen Perfidie des Sir Charles M... haben nun ein Ende, und ich führe Dich dafür zu einem Frühstück auf die Post, wo uns, nebst einer Menge eleganter Damen, der Chef, der es gab, ein sehr gebildeter und artiger Mann, Sir Edward Lee, vorher in den verschiedenen bureaux herumführte, pour nous faire gagner de l'appetit. In einem derselben, das der ›dead letters‹ (toten Briefe) genannt, ereignete sich während unsers Daseins ein sonderbarer Vorfall. Alle Briefe nämlich, auf denen die Adresse ganz unverständlich ist, oder wo die Personen, an die sie gerichtet sind, nicht ausgemittelt werden können, kommen in dieses bureau, wo sie schon nach vierzehn Tagen aufgemacht, und wenn sie nichts Wichtiges enthalten, verbrannt werden. Mir scheint dies eine ziemlich barbarische Mode, da wohl ein Herz davon zugrunde gehen könnte, was einem Postoffizianten doch ohne Wichtigkeit schiene. Es ist aber einmal so, und wir fanden drei Leute fleißig mit der Operation beschäftigt. Mehrere von uns ergriffen neugierig einige dieser zum Opfer bestimmten Briefe, und durchblätterten sie, als der Beamte, neben dem ich stand, ein ziemlich starkes Schreiben in die Hand bekam, auf dem sich gar keine Adresse befand, sondern bloß der Poststempel einer irländischen Provinzialstadt. Wie groß war aber seine und aller Verwunderung, als er beim Aufmachen zwar keine Buchstaben, aber 2700 Pf. St. Banknoten in natura darin fand. Dies wenigstens schien allen wichtig, und es wurde sogleich ordre gegeben, nach jener Stadt zu schreiben, um die Sache aufzuklären.

Als ich abends meine Nachtigallen besuchen wollte, fand ich sie ausgeflogen, und nur den Herrn Vater zu Hause, mit dem ich mich daher, faute de mieux, wissenschaftlich unterhielt. Er zeigte mir mehrere interessante, neu erfundene Instrumente, unter andern eins, das sehr genau den Kraftgrad der Lunge angibt, und daher zur Erkenntnis schwindsüchtiger Krankheiten unschätzbar sein soll. Ein vornehmer hiesiger Beamter, erzählte Sir A..., war an unheilbarer Lungensucht im vorigen Jahr von allen Ärzten Dublins aufgegeben worden. Seiner nahen Auflösung selbst entgegensehend, war er im Begriffe, sein Amt aufzugeben, und nach Montpellier abzureisen, um wo möglich den unvermeidlichen Tod noch einige Monate aufzuschieben. Sir A... wurde zuletzt auch noch konsultiert, und kam auf den Gedanken, hier seine, eben von London angekommene, Maschine zu versuchen. Kaum traute er seinen Augen, als er bei diesem Experiment fand, daß des Kranken Lunge zwei Grade mehr Kraft zeige als seine eigne, die sich doch ungemein wohl befindet. Man erkannte nun eine Leberkrankheit, mit allen Symptomen des letzten Grades der Schwindsucht, und der Patient war in vier Monaten gänzlich geheilt, mit Beibehaltung seines reichlich besoldeten Amtes, das er aufzuopfern schon im Begriff gewesen war. Eine andere sehr kompakte kleine Maschine diente zum Aderlassen und Scarifizieren, als Magenpumpe, Ohrspritze und Kl... Spr... alles zu gleicher Zeit. Man muß gestehen, daß man das Kompendiöse nicht weiter treiben kann! Die übrigen Marter-Instrumente will ich Dir nicht beschreiben, tant pis pour l'humanité, qu'il en faut tant! Anmutiger erschien mir ein Barometer, durch die Figur einer Dame dargestellt, die, bei Annäherung des schlechten Wetters, ihren Parapluie ergreift, bei starkem Regen ihn aufspannt, und bei beständiger Schönheit der Witterung ihn als Spazierstock gebraucht. Eine Dame als stets wechselnden Wetterpropheten zu gebrauchen! Quelle insolence!


Den 8ten

Sir A..., der eine Stelle bei der Bank bekleidet, zeigte mir diese am heutigen Morgen. Das Lokal ist schön, und diente ehemals zum Versammlungsort der beiden Häuser des so sehr zurückgewünschten irländischen Parlaments. Am sehenswertesten ist die Druckerei der Banknoten. Eine prächtige Dampfmaschine treibt das Ganze, und eine zweite kleinere daneben füllt auch die Kessel mit Wasser und die Öfen mit Kohlen, so daß hier für Menschen beinahe nichts zu tun übrig bleibt. Im ersten Zimmer wird die Druckerschwärze bereitet, in den nächsten Sälen erhalten die Banknoten, mit großer Schnelligkeit, ihre verschiedenen Ornamente und Zeichen. Nur ein Mann ist bei jeder Druckmaschine beschäftigt, und während er die leeren Papiere, eins nach dem andern, unter den Stempel bringt, markiert sich in einer verschlossenen Büchse daneben die Quantität der bedruckten Noten. Im nächsten Saale werden sie numeriert. Dies geschieht auf einem kleinen Kasten, und die Maschinerie in diesem Behältnis numeriert von selbst, wie durch unsichtbare Hände, von 1-100 000. Der dabei beschäftigte Arbeiter hat nichts weiter zu tun, als die hervorkommenden Zahlen mit Druckerschwärze zu betupfen und die Noten in gehörige Ordnung zu legen. Das Übrige verrichtet die Maschine allein.

Jede Note, die nach der Ausgabe wieder zur Bank zurückkehrt, wird sogleich zerrissen, und dann noch sieben Jahre aufgehoben, ehe man sie verbrennt. Bei dieser letzten Operation bildet sich, aus dem Papier und der eigens komponierten Druckerschwärze, ein Residuum von Indigo, Kupfer- und dem Papierstoff, welches wie Metall aussieht und glänzend alle Farben des Regenbogens spielt. Natürlich gehören viele Zentner Noten zu einem Lot dieser Substanz, von der ich mir ein schönes Stück verschaffte.

Nachher stiegen wir noch auf die, eine Welt im kleinen bildenden, Zinkdächer des großen Gebäudes hinauf, wo wir treppauf treppab, gleich dem diable boiteux, zwar in verschiedene andre Häuser hineingehen konnten, uns aber zuletzt selbst so verirrten, daß wir kaum ohne Ariadnes Faden wieder hinausgekommen wären. Ich gelangte deshalb zu spät auf einem großen dinner bei Sir E... L... an, eine Sache, die man in Irland indes nicht so übel aufnimmt, als bei uns.


Den 9ten

Lord Howth hatte mich zu einer Hirschjagd eingeladen, von der ich, so befriedigt als ermüdet, eben zurückgekommen bin. Meine Lektionen in Cashel kamen mir heute gut zu statten, denn Lord Howth ist einer der besten und determiniertesten Reiter in England. Man hatte mir ein sehr gutes Pferd gegeben und ohngeachtet ich zweimal stürzte, was Lord Howth auch einmal arrivierte, folgte ich ihm so gut auf dem Fuße, daß ich unsrer Kavallerie keine Schande gemacht zu haben glaube. Zuletzt waren von den fünfzig Rotröcken mehr als Zweidritteil verlorengegangen. Bemerkenswert schien mir ein Offizier, der nur noch einen Arm hatte und dennoch stets unter den ersten war, ohne daß sein vortreffliches Pferd auch nur einen Sprung versagt, oder mankiert hätte.

Von Zeit zu Zeit ist diese Jagd ein hübsches Vergnügen; wie man aber jedes Jahr sechs Monate hindurch und wöchentlich dreimal, sich dieser doch sehr geistarmen Unterhaltung widmen und sie immer mit gleicher Leidenschaft treiben kann, bleibt mir unbegreiflich. Was überdem die Hirschjagd in England für mich weit weniger angenehm macht, als anderswo, ist, daß die dazu gebrauchten Hirsche nur zahme sind, die man wie Rennpferde völlig dazu trainiert. In einen Kasten gesperrt, werden sie auf den Platz des Jagd-Rendezvous gebracht, und dort erst herausgelassen. Wenn sie einen gehörigen Vorsprung haben, geht die Jagd an, und ehe man sie endigt, werden die Hunde abgerufen, und das Tier wieder im Kasten aufbewahrt. Ist das nicht entsetzlich prosaisch, und kaum durch das agrément aufgewogen, daß man sich den Hals über einen breiten Graben brechen, oder den Kopf an einer hohen Mauer einstoßen kann?


Den 10ten

Seit einigen Wochen besuche ich oft die gymnastische Akademie, eine Belustigung, die in Großbritannien und Irland sehr Mode geworden ist. Gewiß, für die Erziehung der Jugend sind diese Übungen unschätzbar – es ist ein sehr potenziertes Turnen, aber ohne Politik. Wenn man bedenkt, welche Mittel jetzt für physische wie geistige Erziehung zu Gebote stehen, wie selbst die Mißgestaltetsten, in Eisenschienen gespannt, zu Apollos umgeschaffen, wie Nasen und Ohren kreiert und täglich in den Zeitungen Erziehungsanstalten angepriesen werden, wo man die gründlichsten Gelehrten in drei Jahren zu bilden versprichtBildet doch das preußische Landwehr-System auch vollkommene Soldaten zu Roß und zu Fuß in zwei Jahren. A. d. H. , so möchte man gleich selbst wieder ein Kind werden, um auch seinen Teil davon zu bekommen. Es scheint, das Gesetz der Schwerkraft wirke im Moralischen wie im Physischen, und die Kultur (the march of intellect) vermehre sich jetzt in steigender Progression, wie die Schnelligkeit einer fallenden Kugel. Nur noch ein paar politische Umwälzungen in Europa, gänzliche Vervollkommnung des Dampfwesens für Seele und Körper, und Gott weiß wo wir, selbst ohne die Direktion des Luftballons gefunden zu haben, noch hingelangen? Doch um auf das Gymnasium zurückzukommen, so ist dessen Nützlichkeit wenigstens unbezweifelt. Es kräftigt die Natur so sehr, und verschafft dem Körper solche Gewandtheit, daß man dadurch seine Existenz wahrhaft verdoppelt, und verdreifacht. Selbst im wörtlichen Sinne genommen, ist das wahr, denn ich sah einen jungen Mann, dessen Brust, nach ununterbrochen fortgesetzter dreimonatlicher Übung, sieben Zoll in ihrer Wölbung zugenommen hatte. Die Muskeln der Arme und Schenkel treten dabei wie hartes Eisen in dreifachem Volumen hervor. Aber auch ältere, ja sechzigjährige Leute, wenn sie gleich nicht dieselben Vorteile erlangen können, sind immer noch imstande, sich durch mäßige Übung im Gymnasio sehr bedeutend zu kräftigen. Ich fand täglich mehrere von diesem Alter, die es sehr gut mit den Jüngern aufnahmen, welche erst kurze Zeit den Unterricht genossen hatten. Es gehört aber einige Ausdauer dazu, denn je älter man ist, je schmerzlicher und ermüdender ist der Anfang. Manche fühlen sich monatelang davon wie gerädert, oder wie mit einem allgemeinen Rheumatismus behaftet. Ein Franzose dirigiert jetzt das Ganze, nachdem sein Vorgänger sich vor drei Jahren pro patria geopfert hatte. Dieser Mann, mit Namen Beaujeu, wollte zweien Damen (denn auch für weibliche Gymnasten dient die Anstalt) zeigen, wie leicht das Exercitium Nr. 7 sei. Die Stange brach, und er beim Herabfallen das Rückgrat. Schon nach wenigen Stunden starb er, und mit einer Begeisterung, die einer größeren Sache würdig gewesen wäre, stieß er bloß die klagenden Worte aus: »Voilà le coup de grâce pour la gymnastique en Irlande!« Seine Befürchtung ist jedoch nicht in Erfüllung gegangen, denn Herren und Damen sind gymnastischer gesinnt als je.


Den 9ten

Da ich diese Tage über unwohl war, und nicht ausgehen konnte, so bin ich nicht imstande, Dir irgend etwas Interessanteres zu melden. Nimm daher mit einigen detachierten Gedanken vorlieb, wie sie die Einsamkeit gebiert, oder laß sie auch, wenn sie Dich langweilen, ungelegen.


Stuben-Philosophie

Was ist Glück und Unglück? Da mir das erste nicht viel zuteil ward, so habe ich mir die Frage oft aufgeworfen. Blind und zufällig ist es gewiß nicht, sondern notwendig und folgerecht, wie alles andere in der Welt, obgleich die Ursachen desselben nicht immer von uns abhängen. Inwiefern wir aber es wirklich selbst herbeiführen, wäre für jeden eine sehr heilsame Untersuchung. Glückliche und unglückliche Gelegenheiten bieten sich im Laufe des Lebens wohl jedem dar, und diese geschickt zu benutzen oder abzuwenden, ist, in der Regel, das, was dem Menschen überhaupt den Ruf eines Glücklichen oder Unglücklichen verschafft, aber man kann doch nicht leugnen, daß bei manchen Menschen, durch das, was wir Zufall nennen, fortwährend die kräftigsten und klügsten Kombinationen scheitern, ja es gibt sogar eine gewisse Ahnung, die uns im voraus, entweder beim Verwickeltsten Zutrauen, oder auch beim unscheinbar Leichtesten schon das dunkle Gefühl gibt, daß es dennoch nicht gelingen werde. Manchmal bin ich versucht, zu glauben, daß Glück und Unglück bloß eine Art subjektiver Eigenschaften sind, die man mit auf die Welt bringt, wie Gesundheit, Körperstärke, besser organisiertes Gehirn u. s. w. und dessen überwiegender Kraft sich, wo es da ist, die Umstände magnetisch fügen müssen. Wie alle Eigenschaften, kann man auch diese ausbilden oder schlafen lassen, vermehren oder vermindern. Der Wille tut dabei viel – drum sagt man: wagen gewinnt, und Kühnheit gehört zum Glück. Man bemerkt zugleich, daß das Glück in der Regel, wie andere Sinne, mit den Jahren, d. h. mit der Kräftigkeit des Materiellen abnimmt. Es ist dies durchaus nicht immer die Folge von schwächeren oder ungeschickteren geistigen Maßregeln, sondern scheint wirklich das Ergebnis einer geheimnisvollen Fähigkeit an sich zu sein, die, so lange sie jung und stark ist, das Glück bannt, später aber es nicht mehr zu halten imstande ist. Beim großen Spiel macht man hierüber sehr gute Studien, und es ist dies zugleich die einzige poetische Seite dieser gefährlichen Leidenschaft, die oft sehr anziehen kann, da nichts ein so treues Bild des Lebens gibt, als das hohe Hazard-Spiel, nichts sogar eine bessere Maßgabe für den Beobachter, um seinen eignen und den Charakter anderer zu ergründen. Alle Regeln, die im Kampf des Lebens gelten, gelten auch in diesem, und die Einsicht, mit Charakter-Stärke verbunden, ist jedenfalls sicher: wenn nicht zu siegen, doch sich mit Erfolg zu verteidigen. Ist sie aber mit der Glücksfähigkeit gepaart, so wird ein Spiel-Napoleon daraus, ein Eroberer am Pharao-Tische! Von den filous, qui corrigent la fortune, spreche ich nicht. Aber auch hier bleibt das Gleichnis treu, denn wie oft begegnest Du nicht in der Welt solchen, die das Glück bannen durch Betrug – beiläufig gesagt, die unglücklichsten aller Spekulanten. Ihre Beschäftigung ist das wahre Wasserschöpfen mit einem Sieb, das Aufsammeln stets leerer Nüsse. Denn was ist Genuß ohne Sicherheit, und wie kann äußeres Glück helfen, wo das innere Gleichgewicht fehlt!

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Es gibt Menschen, die, obgleich mit ausgezeichneten Geisteseigenschaften begabt, doch damit nicht in der Welt fortzukommen wissen, wenn sie nicht durch das Schicksal von Hause aus an ihren wahren Platz gestellt worden sind. Mit eignen Kräften wissen sie diesen nie zu erreichen, weil eine zu weibliche Phantasie, in die sich fortwährend fremde Formen eindrücken, sie verhindert, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist und sie ewig nur unter schwankenden Bildern leben läßt. Mit Feuer und Geschick beginnen sie zwar ihre Pläne, aber noch schneller verfolgt dieselben ihre Phantasie auf dichterischem Roß und führt sie ohne Verzug im Traumreiche so glänzend und genügend an das Ziel, daß sie die langsamen Mühseligkeiten des wirklichen Weges nachher nicht mehr überstehen mögen. So lassen sie denn ein Projekt nach dem andern freiwillig fallen, ehe es zur Reife gediehe. Wie alles in der Welt hat jedoch auch dieser nachteilige Zustand seine Kehrseite. Er verhindert zwar daran, sein Glück zu machen, wie man es zu nennen pflegt, gibt aber einen unermeßlichen Trost im Unglück und eine Elastizität des Gemüts, die nichts ganz vernichten kann, denn das Reich genußspendender Phantasie-Bilder bleibt zu jeder Zeit unerschöpflich. Eine ganze Stadt spanischer Schlösser steht Sterblichen dieser Art immer zu Gebot, und sie genießen in der Hoffnung, im ewigen Wechsel, unzählige Wirklichkeiten im voraus. Solche Leute können bei alle dem, für andere, Besonnenere, mehr Praktische, oft als die größten Hülfsmittel dienen, wenn diese den Enthusiasmus jener zu erregen verstehen. Ihr Scharfsinn enthält dann durch eine positive, sie beherrschende Zuneigung, und daraus entstehendem Zwang, die Ausdauer, welche das eigne Interesse ihnen nicht geben kann, und ihr Eifer ist bleibender für andere als für sich. Aus demselben Grunde wird, wenn eine höhere Macht sie gleich anfangs auf des Berges Spitze gestellt, auch Großes von ihnen selbst ausgehen können, denn in diesem Falle ist ihnen der mannigfaltigste großartige Stoff, und mit ihm der Enthusiasmus, dessen sie bedürfen, schon gegeben und fixiert. Es ist auch nichts völlig Neues, Schwankendes, Ungewisses erst zu gründen, das unter ihnen Liegende nur mit künstlerischem Scharfsinn auf's höchste zu benutzen, zu verbessern, zu erheben, zu verschönern. – Hier wird dann ihr genialer Blick, von tausend ausführenden Köpfen und Händen unterstützt, und durch das innere poetische Auge gekräftigt, von der Höhe, ihrem eigentlichen Element, weiter tragen, als der gewöhnlicher Naturen. – Am Fuße und Rande des Berges aber hilft ihnen die Schärfe dieses Blickes nichts, weil ihr Horizont dort verdeckt ist, und hinauf, zum mühvollen Klimmen, tragen die indolenten Glieder sie nicht, noch können sie den gaukelnden Gestalten widerstehen, die sie unterwegs bald dahin, bald dorthin, von ihrem Pfade verlocken. Sie leben und sterben daher am Berge, ohne je seinen Gipfel zu erreichen, folglich ihrer eignen Kraft ganz innegeworden zu sein. Bei einem Menschen dieser Art kann man das bekannte Wort umdrehen, und mit Recht sagen: Tel qui brille au premier rang, qui s'eclipse au second.

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So schön und herrlich die Worte ›Moral‹ und ›Tugend‹ lauten, praktisch heilsam für das irdische Wohl der menschlichen Gesellschaft wird doch nur die allgemeine klare Erkenntnis derselben als das Nützliche sein. Wer wirklich einsieht, daß der Sündigende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum umbaut, um zu einer einzigen, oft sauren, Frucht zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verständige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die süßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußtsein, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden Ernte verhindert habe – dessen Tugend wird wahrscheinlich die sicherste bleiben. Je erleuchteter also die Menschen im allgemeinen über das sind, was ihnen frommt, desto frommer, d. h. besser und milder müssen auch ihre Sitten, unter- und gegeneinander selbst, werden. Dann wird auch bald die Wechselwirkung im wohltätigen Zirkel gehen – nämlich aufgeklärtere Individuen eine bessere Verfassung und Regierung gründen, und diese wiederum die Aufklärung der einzelnen vermehren. Käme es nun endlich dahin, daß eine solche vernunftgemäße höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer Zeiten gänzlich befreite, Religionszwang unter die Absurditäten verwiese, Liebe und Tugend aber, als eine zur glücklichen Existenz der menschlichen Gesellschaft innern und äußern Notwendigkeit, klar erkennen ließe, zugleich aber durch weise und feste politische Institutionen, aus dieser Überzeugung entsprossen, auch zur fortwährenden Beibehaltung derselben durch heilsame Gewohnheit, gewissermaßen zwänge – so wäre das Paradies gefunden.

Die bloßen Strafgesetze für hier und dort, ohne diese innere Überzeugung, alle weltliche Politik, im Sinne geschickter Gauner; alle Propheten, göttlich-menschliche Extra-Offenbarungen, Himmel, Hölle und Priester werden es aber schwerlich so weit bringen, – ja so lange diese in den Speichen hängen, möchte das Rad der Aufklärung sich nur gar schwierig und langsam umdrehenEs ist der Bemerkung wert, daß zu der Zeit, als ewige Höllenstrafen am aufrichtigsten geglaubt wurden, es mit der Moralität am schlechtesten stand, und die Zahl grober Verbrecher gegen jetzt tausendfältig war. A. d. H. . Daher arbeiten auch so viele mit allen Kräften einem solchen Resultat entgegen, ja selbst Protestanten protestieren rückwärts, und manche möchten sogar eine neue Kontinental-Sperre etablieren, gegen fremde Lichtstrahlen.

Übrigens kann man niemand verdenken, qu'il prêche pour sa paroisse. Von einem englischen Erzbischof mit 50 000 L. St. Revenuen z. B. zu verlangen, daß er aufgeklärt sein solle, wäre ebenso abgeschmackt, als vom Schah von Persien zu erwarten, daß er sich aus eigner Neigung zum konstitutionellen Monarchen umschaffe. Wenige Individuen werden freiwillig verschmähen, eine reiche und prachtvolle Sinecure zu genießen, bei der nichts weiter von ihnen verlangt wird, als den Leuten ein wenig Staub in die Augen zu streuen, oder ein Despot sein zu dürfen, der bloß nach seiner Laune Millionen dirigiert. Die Sache der menschlichen Gesellschaft ist es aber, es wo möglich so einzurichten, daß wir alle, auch mit dem besten Willen dazu, eine solche Sinecure weder erlangen, noch solche Despoten werden können.

 

Sonst als Kind, geschah es mir oft, daß ich keine Ruhe über das Schicksal Hannibals finden konnte, oder in Verzweiflung über die Schlacht von Poltawa war; heute jammerte ich über Columbus! Wir sind dem geistreichen Amerikaner Washington Irving viel Dank für diese Geschichte schuldig. Es ist ein schöner Tribut, dem großen Seefahrer aus dem Lande dargebracht, das er der zivilisierten Welt geschenkt, und das bestimmt scheint, die letzte Station zu sein, die der Zyklus menschlicher Perfektibilität durchläuft.

Welch ein Mann, dieser erhabne Dulder! Der zu groß für seine Zeit, ihr vierzig Jahre lang nur als ein Narr erschien und den Rest seines Lebens ihrer Feindschaft preisgegeben war, der er auch zuletzt in Not und Kummer unterliegen mußte! Aber so ist die Welt, und es wäre darüber selbst närrisch zu werden, wenn man sich nur beim Einzelnen aufhielte und uns Nachdenken nicht bald belehrte: daß für die weise Natur, das Individuum nichts, die Spezies alles ist. Wir leben für und durch die Menschheit und in ihrem großen Ganzen kompensiert sich auch alles. Dies kann jeden Vernünftigen vollkommen beruhigen, denn jede Saat geht auf, wenn gleich nicht immer für dieselbe Hand, die sie in die Erde legte, doch schlimme wie gute, der Menschheit geht keine verloren. Und was ist der Zweck von allem? Leben – ewig alt und ewig neu, an dem auch wir immer fort teilhaben. Darum behaupte ich: was ist, kann nur vollkommen und notwendig sein, sonst wäre es nicht. Was geschieht, muß geschehen, nicht weil es Willkür so vorher bestimmt, wie die Fatalisten annehmen, sondern weil die Kette der Folgen notwendig aus der Kette der Ursachen entspringen muß. Relativ und in den einzelnen Verhältnissen des Weltall-Lebens entschwindet jedoch diese eiserne Notwendigkeit dem Auge und gibt tausend ungewissen Beziehungen Raum, ohne die das ganze Lebensspiel ja gleich zusammenfiele. Es hat dies die größte Ähnlichkeit mit den Werken der Kunst, oder ist vielmehr ihr Vorbild. ›Lear‹ auf dem Theater, jeder Held, den der wahre Dichter uns vorführt, ergreift uns tief und vielleicht mehr als er es in der Wirklichkeit tun würde, und doch wissen wir, alles was wir sehen und hören, sei Täuschung. Der Ausdruck: das Theater der Welt, hat einen tiefern Sinn, als man sich gewöhnlich dabei denkt, und alles was lebt, spielt in Wahrheit: eine göttliche Komödie!

Daß eine gewisse, nötige Täuschung unser wirkliches Element sei, wenigstens die Bedingung unsres irdischen Lebens, zeigt sich in allem. Wir sehnen uns nach der Vergangenheit, schwelgen in Bilder der Zukunft und kennen keine Gegenwart. Das einzig Wahre – der Geist – bildet freilich den unsichtbaren Kern, und an ihm bildet sich die bunte Scheinfrucht des Lebens aus. So bleibt es bei Goethes tiefem Wort »Wahrheit und Dichtung« – Geist und Erscheinung.

*

Was mich oft und bitter verdrießen kann, ist, die Leute über das elende Leben hier klagen, und die Welt ein Jammertal nennen zu hören. Dies ist nicht nur die himmelschreiendste Undankbarkeit (menschlich gesprochen) sondern auch die wahre Sünde gegen den heiligen Geist. Ist nicht offenbar Genuß und Wohlsein durch die ganze Welt der positive Normal-Zustand, Leiden, Böses, Verkrüppeltes nur die negative Schattenseite? Ist nicht das Leben ein ewiges Fest für das gesunde Auge, im Anschauen dessen und seiner Herrlichkeit, man anbetend selig werden kann! Und wäre es nur der tägliche Anblick der Sonne und der mächtigen Sterne Glanz, der Bäume Grünen und Blühen, und der tausend Blumen Schmelz, der Vögel Jubelgesang und aller Geschöpfe üppige Fülle und reiche Sinnenlust – es wäre schon viel, um sich des Lebens zu freuen – aber welches mehr wunderbare Reich entfaltet in unerschöpflichen Schätzen unser eignes Gemüt, welche Fundgruben öffnet Liebe, Kunst, Wissenschaft, die Beobachtung und die Geschichte unsres eignen Geschlechts, und in der tiefsten Tiefe, das fromme, ahnende Anschauen Gottes und seines Weltalls! Wahrlich, wir wären nicht so undankbar, wenn wir weniger glücklich wären, und Leiden bedürfen wir oft nur zu sehr, um dies recht gewahr zu werden. Man könnte die Disposition dazu unsern sechsten Sinn nennen, durch den wir das Glück erkennen. Wer davon recht überzeugt ist, der wird zwar immer noch zuweilen klagen, gleich andern unbesonnenen Kindern, schneller aber zur Besinnung kommen, denn das innige Gefühl des Glückes: zu leben, ruht wie ein rosiger Grund in seinem Innern, von dem auch die schwärzesten Figuren, welche das Schicksal darauf erscheinen läßt, wie die Adern vom Blute, sanft durchschimmert werden.


Paradoxien meines Freundes B... H...

»Ja gewiß, der Geist waltet in uns, und wir in ihm, und ist ewig, und derselbe, der durch alle Welten waltet – aber das, was wir unsre menschliche Seele nennen, das schaffen wir hier uns selbst. Das scheinbare Doppelwesen ist uns, wovon das eine dem Sinnen-Impuls folgen will, das andere darüber reflektiert und jenes zurückhält, entsteht schon ganz natürlich aus der, sozusagen, doppelten Natur und Bestimmung des Menschen nämlich, indem er zugleich als Individuum, und auch als ein integrierender Teil der Gesellschaft leben soll und muß. Zur letztern Existenz war die Gabe der Sprache nötig, oder sie konnte gar nicht ins Leben treten, nicht werden. Der einzelne Mensch, isoliert hingestellt, ist durchaus, und bleibt, nichts als das mit dem besten Intellekt begabte Tier; er hat nicht mehr Seele als dieses. Der Versuch kann noch täglich wiederholt werden. So wie dieser Mensch aber gemeinschaftlich mit andern zu leben anfängt, und durch Sprache ein Austausch von Wahrnehmungen möglich wird, erkennt er bald, daß der Einzelne sich zu seinem eignen Besten dem Ganzen, der Gesellschaft, zu der er mitgehört, unterordnen, für deren Bestehen Opfer bringen muß, und hier erst, könnte man sagen, entsteht die Essenz der Seele, das Moralprinzip. Das Gefühl seiner Schwäche und Unwissenheit gebiert zugleich die Religion, das Gefühl andrer zu bedürfen, die Liebe. Eigennutz und Humanität treten nun in jenen fortwährenden Antagonismus, den man, ich weiß nicht warum, ›das unerforschliche Rätsel des Lebens‹ nennt, da mir der ausgesprochenen Ansicht gemäß, nichts folgerechter und natürlicher erscheint. Die Aufgabe für den Menschen wird demnach nur sein, zwischen beiden Polen das gehörige Gleichgewicht herzustellen. Je vollständiger dies erreicht wird, je wohler befindet sich fortan der Mensch, die Familie, der Staat. Das Extrem, auf einer oder der andern Seite, ist nachteilig. Das Individuum, welches sich egoistisch allein gelten lassen will, unterliegt der Gewalt der Mehrheit – die romanhafte Schwärmerei, welche selbst verhungert um andere zu ernähren, wird zwar von den Menschen, die jedes ihnen gebrachte Opfer billig bewundern, zuweilen aber auch nur belachen, edel oder närrisch genannt werden, demohngeachtet aber nicht allgemein zu bestehen imstande sein, und daher auch nie eine Norm der Nachahmung, eine Pflicht werden können. Märtyrer, die sich für die heilige Zahl ›drei‹ braten, oder zur Ehre Bramas, die Nägel der einen Hand durch die andere wachsen lassen, gehören zu derselben Klasse, wiewohl zu der niedrigsten Stufe derselben, und erhalten ebenfalls, nach der Beschaffenheit der jedesmaligen Ansicht, die verschiedenen Namen von Heiligen oder Wahnsinnigen, bleiben aber, in jedem Fall, nur Abnormitäten. Nicht daß ich damit in Abrede stellen wollte, daß eine vernunftgemäße Verleugnung und das Opfer seiner selbst zum Besten andrer, etwas Schönes und Erhabnes sein könne. Keineswegs, es ist dann allerdings ein schönes, d. h. ein der Menschheit wohltätiges, Beispiel vom Siege des gesellschaftlichen Prinzips über das individuelle, welches ebensogut vorkommen muß, als sein nur allzu häufiger Gegensatz in denen, die nur sich im Auge behalten wollen, und so endlich schonungs- und mitleidslose Verbrecher werden, die der Gesellschaft einen ewigen Krieg erklären. Da wir indessen, von Hause aus, uns selbst immer ein wenig näher stehen als der Gesellschaft (weil zu unserm Bestehen das Naturgesetz der Selbsterhaltung das stärkste sein muß), so sind Egoisten häufiger als Humane, mehr Sünder wie Tugendhafte. Die ersteren sind die wahrhaft Rohen, die zweiten nur, die Gebildeten (beiläufig eine Lehre für alle Regierungen, die im Dunkeln herrschen wollen). Da aber auch bei dem Gebildetsten immer noch eine rohe Unterlage bleiben muß, gleich wie der bestpolierteste Marmor, wenn er unter der Politur abgebrochen wird, wieder grobes Korn zeigt, so kann auch die Humanität selbst nicht verleugnen, daß sie aus Egoismus hervorgewachsen, ja eigentlich nichts ist, als ein auf die ganze Menschheit ausgedehnter Egoismus. Wo sich dieser letztere daher, selbst einseitig, d. h. in bezug auf den Nutzen des Individuums allein, auf eine sehr großartige Weise ausbildet, erzwingen solche Sterbliche, große Männer und Eroberer genannt, die Bewunderung selbst derjenigen, die ihr Verfahren mißbilligen; ja die Erfahrung lehrt uns, daß sie, deren Nichtachtung des Wohles anderer eine ungeheure Zahl von irdischen Leiden ihren Mitbrüdern aufbürdete, dennoch, weil sie dabei eine sehr große und überwiegende, vom Glück begünstigte, herrschende Kraft an den Tag legten, stets hoch von der durch sie leidenden Menschheit verehrt wurden. Hier zeigt sich also wieder, was ich früher sagte, daß Notwendigkeit und Furcht die ersten Keime in der menschlichen Gesellschaft sind, daher auch die mächtigsten Hebel in allen Verhältnissen bleiben, und Kraft zuletzt immer am allermeisten imponiert. Alexander und Cäsar erscheinen größer in der Geschichte als Hor. Cocles und Regulus, wenn auch die Geschichten des letzteren keine Fabeln wären. Uneigennützigkeit, Freundschaft, Nächstenliebe, Großmut, entwickeln sich in der Regel erst später, und als seltnere Blumen mit feinerem, und schon raffinierterem Duft, ebenso wie für die Spekulation sich zuletzt die höchste Kraft nur im Ideal des Guten zeigt, und Aufopferung zuletzt für das Individuum selbst, höchster Genuß wird. Ein anderer, wie mir deucht, schlagender Beweis, daß, was wir Moral nennen, nur aus dem Gesellschaftsleben hervorgehen ist meines Erachtens, daß wir noch heute kein solches Prinzip, in bezug auf andere Geschöpfe anzuerkennen scheinen. Wir würden, wenn wir könnten, zum Behuf unsrer Wissenschaft, uns unbedenklich einen Stern zur Inspektion herunterlangen, und mit einem Engel in unsrer Gewalt nicht viel Umstände machen, sobald wir ihn nicht mehr zu fürchten hätten. Daß wir mit den Tieren (zum Teil auch noch mit den Negern) ganz als Egoisten umgehen und schon ein hoher Grad von Kultur dazu gehört, um sie nur nicht unnütz zu quälen, oder leiden zu lassen, liegt am Tage. Ja, was noch mehr ist, Menschen unter sich selbst, heben sofort das positive Moralprinzip auf, sobald eine, von ihnen für kompetent angesehene Macht, das Gesellschaftsverhältnis partiell aufhebt. Sowie der Krieg erklärt ist, mordet der tugendhafteste Soldat seinen Mitbruder ex officio, wäre es auch nur im gezwungenen Dienst eines Despoten, den er im Herzen für einen Abschaum der Menschheit ansieht. Oder – der Papst entbindet, Kraft der Religion der Liebe, von allen Gefühlen der Treue, des Rechts, und der Menschlichkeit. Sofort brennt, sengt, mordet, lügt der Fromme con amore, und stirbt zufrieden und selig, mitten in der Erfüllung seiner Pflicht, und zu Gottes Ehre!

Das Tier, welches nur für sich zu leben bestimmt ist, kennt keine Tugend, und hat daher keine Seele, sagt man mit Recht, dennoch bemerkt man im Haustiere, ohngeachtet des schwachen Grades seines Denkvermögens, infolge seiner Erziehung und der Art von Geselligkeit, in der es mit dem Menschen lebt, auch schon eine sehr sichtliche Spur von Moralität, und wie nach und nach ein deutliches Gefühl für Recht und Unrecht bei ihm entsteht. Man sieht es uneigennützige Liebe fühlen, ja sogar Opfer, ohne das Motiv der Furcht, bringen. Kurzum, es fängt an ganz denselben Weg, wie der Mensch, zu gehen, seine Seele beginnt zu tagen, und hätten die Tiere die Fakultät der Sprache, so wäre es wohl möglich, daß sie ebensoweit wie wir kämen. Da sie uns aber an physischen Kräften überlegen sind, so würde wahrscheinlich der erste Gebrauch, den sie von ihrer neu erlangten Seele machten – unsre Vernichtung sein.

Das Beste für uns wäre, dahin zu kommen, uns zu sehen wie wir sind, und warum wir so sind – ohne Hypothesen und Überschwenglichkeiten – dies ist das einzige Mittel zu wahrer und dauernder Aufklärung und folglich zum wahren Glück. Hat die deutsche Philosophie nicht einen etwas zu poetischen Weg gewählt, und gleicht sie nicht, statt einem wohltätig erleuchtenden und erwärmenden Feuer, mehr einer Girandole, die prachtvoll in tausend Glühfunken bis zum Himmel emporsteigt, sich den Sternen zu assimilieren scheint, bald aber unter ihnen in Nichts verschwindet. Wie viel exzentrische Systeme dieser Art haben, seit Kant bis Hegel, einen Augenblick dort geglänzt und sind dann entweder schnell verstorben, oder leben in Stücke geschnitten, wie der Regenwurm, einzeln fortwuchernd weiter. Es ist sehr problematisch, ob sie der Gesellschaft so viel praktischen Nutzen gewährt haben, als die jetzt so sehr geringgeschätzten französischen Philosophen, die sich an's Nächste hielten, und mit ihrem scharfen Operationsmesser für's erste der positiv existierenden Boa des kirchlichen Aberglaubens den Hauptnerv so ausschnitten, daß sie seitdem nur noch entkräftet umherschleichen kann. Ja, auch der Philosoph soll durch seine Lehren in's Leben eingreifen (der Größte von allen Weisen war ebenso praktisch als allgemein verständlich) und Männer, welche auf diese Weise aufklären, stehen gewiß in der Geschichte höher, als die wunderbarsten der erwähnten Feuerwerker.

Der wirkliche und einzige Gegenstand der Philosophie ist ohne Zweifel Erforschung der Wahrheit, NB. solcher Wahrheit, die zu erforschen ist, denn dieses Bestreben kann nur Früchte bringen. Etwas Unerforschliches suchen, heißt leeres Stroh dreschen. Der richtigste Weg, auf welchem man aber zu der auffindbaren Wahrheit gelangen mag, wird, meines Erachtens, heute noch wie zur Zeit des Aristoteles, nur der der Erfahrung und Wissenschaft bleiben. Später kann man wohl dahin gelangen, mit Recht sagen zu dürfen: Weil das Gesetz so ist, muß die Erfahrung meine Folgerung bestätigen, aber nur auf dem Wege früherer Erfahrung hatte man doch erst dieses Gesetz gefunden. Lalande konnte daher sehr wohl a priori behaupten, daß es sich mit den Verhältnissen gewisser Sterne so und nicht anders verhalten müsse, obgleich dem Ansehen nach richtige Beobachtungen das Gegenteil zu beweisen schienen, weil er die unwandelbare Regel schon wußte, aber ohne Newtons fallenden Apfel u. s. w., d. h. ohne die frühere und fortgesetzte Beobachtung einzelner Erscheinungen der Natur, und hierdurch gefundene Wahrheiten, wären die Geheimnisse des Himmels uns noch ein Buch mit sieben Siegeln.

Soll nun die Philosophie die Wahrheit erforschen, so muß sie es gewiß vor allem in bezug auf den Menschen versuchen. Geschichte der Menschheit im weitesten Sinne, und was daraus zum Behuf der Gegenwart und Zukunft abzuleiten ist, wird also immer ihr Hauptvorwurf sein. Nur in dieser Richtung mag es uns dann fort und fort glücken, aus dem was geschah und ist, zu der Erkenntnis der Ursachen zu kommen, warum die Dinge sich so und nicht anders gestalteten, und von Factum zu Factum zurückgehend, den Grund-Gesetzen uns zu nähern, hieraus aber auch die Norm für die Folge aufzufinden. Muß nun auch die erste Ursache alles Seins unerforschlich bleiben, so wäre es ja wohl hinlänglich, wenn wir nur klar und deutlich ergründeten, was die Kräfte unsres Wesens ursprünglich waren, was sie schon geworden, und welcher Richtung sie beim fernern Werden nachzustreben haben. Hier wird sich nun vor allem der Gedanke aufdringen, daß nur im Element der Freiheit, beim ungehinderten Austausch der Ideen weitere Ausbildung gedeihen kann. Zu diesem Behuf war ohne Zweifel die glücklichste Erfindung, von und für uns, die der Buchdruckerkunst, lebendig geboren, weil die schon hinlänglich gereifte Stimmung der Menschheit sich sogleich des unermeßlichen Hülfsmittels zu den größten Zwecken bedienen konnte. Sie allein hat es seitdem möglich gemacht, jene ungeheure Macht in's Leben zu rufen, der auf die Länge nichts mehr wird widerstehen können: die allgemeine Meinung. Unter dieser verstehe ich nicht: den Wahn vieler, sondern die Meinung der Besten, die sich, indem sie ein Organ gefunden zu allen zu dringen, am Ende Bahn brechen muß, um jeden Wahn zu zerstören. Ohne die Buchdruckerkunst gab es keinen Luther – und hat denn wirklich das Christentum bis zu dieser Epoche sich Bahn brechen können, hatte es zur Zeit des dreißigjährigen Krieges, zur Zeit der englischen Maria, die schwangere Weiber verbrennen ließ, welche in den Flammen niederkamen, zur Zeit der Inquisition, horribile dictu! schon die Sitten gemildert, die Menschen barmherziger, sittlicher, liebender gemacht? Ich sehe wenig Spuren davon. Freiheit der Presse war der große Schritt, der uns dem Zwecke allgemeiner Aufklärung in neuern Zeiten unendlich näher gebracht, und den Begebenheiten einen solchen Schwung gegeben hat, daß wir in einem Jahrzehend jetzt mehr erleben, als unsre Vorfahren in einem Jahrhundert. Nur die Masse der Einsicht, die hierdurch endlich herbeigeführt werden muß, kann der Menschheit wahrhaft nützen. Zu jeder Zeit hat es große, vielleicht unübertreffbare einzelne Menschen gegeben, und obgleich ihre Wirkung auf das Ganze nicht verloren war, konnten sie doch gewöhnlich nur, gleich einem Meteor, eine momentane und partielle Helle verbreiten, die im Laufe der Zeiten schnell wieder verblich. Man nehme nur gleich das höchste Beispiel, Christus, der noch obendrein unter den möglichst günstigsten Umständen erschien, wie unser Gibbon so klar gezeigt hat. Wie viel Millionen nannten und nennen sich nur nach ihm, und wieviel davon sind wahre Christen? Er der freisinnigste und liberalste der Menschen, mußte dem Despotismus, der Verfolgung, der Lüge nun bald Jahrtausende zum Schilde dienen, und einem neuen Heidentume seinen hohen Namen leihen!

Also nur die Masse der Erkenntnis sage ich, die Intelligenz, welche eine ganze Nation durchdrungen hat, ist imstande, bleibende, solid und gesund erwachsene Institutionen zu begründen, durch die die Gesamtheit wie der Einzelne besser und glücklicher werden soll. Dahin aber eben strebt jetzt die Welt. Politik in höchster Bedeutung ist die Religion unsrer Tage. Für sie blüht der Enthusiasmus der Menschheit, und soll es neue Kreuzzüge geben, für sie allein werden sie stattfinden. Die Vorstellung konstitutioneller Kammern elektrisiert heutzutage mehr als die einer regierenden Kirche, und selbst der Ruhm des Kriegers fängt an, vor dem des großen Staatsbürgers zu erbleichen.«

Prüfet alles, und nur das Beste behaltet!

Aber nun trêve de bavardage. In den Bergen hätte ich Dich nicht mit so viel davon ennuyiert, in den düstern Stadtmauern geht es mir wie Faust in seiner Studierstube. Indessen ein bißchen Feuerluft ist schon fertig. Ich breite den Mantel aus, und von morgen an, soll wieder frischerer Wind meine Segel schwellen. Doch überall, im Kerker wie unter dem blauen Himmel, bin und bleibe ich ewig

Dein treuer herzergebener L...

 

P.S. Dies ist mein letzter Brief aus Dublin. Ich habe meinen Wagen einpacken, und nach S... schicken lassen, meine Engländer verabschiedet, und werde mit einem ehrlichen irländischen Bedienten, unter dem bekannten nom de guerre, jetzt ›romantisch‹ über Bath nach Paris gehen, ohne mich zu übereilen, noch länger als nötig aufzuhalten. Der Abschied von Freunden und Freundinnen – immer der schwerste – ist schon genommen, und nichts hält mich mehr zurück.


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