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Wie eine Schar Landstreicher und Bettler verließen ich und meine zwölf Diener am 24. Juli Toktschen. Neun Tage hatten wir dort zugebracht, ohne andere Beschäftigung als zuzuschauen, wie die Monsunregen, die ich den Eingeborenen unvorsichtigerweise versprochen hatte, kerzengerade herabstürzten! Die Ortsbehörden machten diesmal geltend, daß wir, weil ich keinen Paß aus Lhasa hätte, auch nicht berechtigt seien, die große Landstraße nach Ladak zu benutzen, sondern auf dem Wege, auf dem wir gekommen, wieder nach Innertibet zurückkehren müßten! Wenn ich des großen, weißen Fleckes nun nicht schon satt gewesen wäre, so hätte ich ihren Vorschlag mit Vergnügen angenommen. Aber ich war zu abgearbeitet und sehnte mich nach Hause! Als sie mir den Beistand und die Transportmittel, die wir begehrten, rundheraus versagten, da brachen wir zu Fuß auf und ließen unsere letzten zehn Pferde und Maulesel das Gepäck tragen. Der Schimmel aus Kamba Tsenams Zelt stand mir, wie sonst, zur Verfügung. Eine Eskorte hatte ich nicht – man wollte gar nichts mit mir zu tun haben, um im Fall eines Nachspiels mit dem Devaschung ganz frei von Schuld zu sein! Erst am heiligen See, längs dessen Nordufers wir auf bekannten Wegen hinzogen, stießen wir auf einen Vagabunden, der sich erbot, uns den Weg nach dem Kloster Totling zu zeigen.
In Langbo-nan machte ich noch in aller Eile einen Besuch bei dem jungen Abt, der noch ebenso sympathisch und liebenswürdig war als im vorigen Jahr, und in Tschiu-gumpa traf ich meinen Freund Tundup Lama, der abgezehrt und melancholisch aussah und seines einsamen Klosterlebens müde war. Große Flüsse ergossen jetzt ihr Wasser in die beiden Seen, und mit einem Gefühl des Grams verließ ich wieder den Schauplatz so vieler teurer und unvergeßlicher Erinnerungen.
Bevor wir das Kloster Tirtapuri erreichten, hatten wir mehrere Flüsse zu überschreiten, die, vom Transhimalaja kommend, dem Satledsch ihren Tribut zahlen. Drei davon waren durch den anhaltenden Regen ungeheuer angeschwollen; graubraun und schaumweiß wälzten sich ihre Wassermassen über tückische Steinblöcke, »dröhnend wie des Donners Krachen!« Es wallte und kochte zwischen den Felsplatten, es brauste und stürzte über die glatten Blöcke, und ich schwebte in Todesangst, daß die mühsam eingebrachte Ernte des letzten langen Winters durch einen einzigen kleinen Fehltritt verloren gehen könnte!
Altartisch mit Götterbildern in Mangnang-gumpa.
Aquarell des Verfassers.
In rieselndem Regen erreichten wir Tirtapuris Tempel. Lobsang, Gulam, Kutus, Tubges, Suän und Kuntschuk sollten mich von hier aus nach Simla begleiten, während Abdul Kerim und die übrigen fünf ihre Löhne und Gratifikationen ausbezahlt erhielten und über Gartok nach Leh heimgeschickt wurden. Ich kannte den Weg nach Simla nicht; auf der Karte sah er näher aus als der Weg nach Ladak. Daher glaubte ich, daß meine Abteilung ihr Ziel eher als die andere erreichen werde. Aber diese Straße ist phantastisch wild, und die Nebenflüsse des Satledsch haben sich tief in die Erdrinde eingeschnitten; man kann sich in die Cañons des Colorado versetzt glauben; einen Tag geht es steil an die 1000 Meter hinab, und am nächsten klettert man dieselbe Meterzahl wieder hinauf! Die Entfernung wird daher wenigstens doppelt so groß, als sie auf der Karte erscheint. Abdul Kerim erreichte denn auch Leh viel eher, als ich nach Simla gelangte. Infolgedessen gingen die ersten Nachrichten über uns von ihm und nicht von mir aus, und manche meiner Freunde fürchteten das schlimmste für mich. Es sah ja auch sonderbar aus, daß meine Leute unversehrt in ihre Heimat zurückkehrten, während ich selber noch immer vermißt wurde!
Indessen trennten wir uns am 1. August unter strömenden Tränen und gelangten über die drei Klöster Dongbo, Dava und Mangnang (s. bunte Tafel) am 13. nach Totling-gumpa, in dessen Nähe Pater Andrade vor 300 Jahren in der jetzt verfallenen Stadt Tsaparang geweilt hatte. Hier traf ich den Hinduarzt Mohanlal aus Gartok, der mir die ersten Nachrichten von der Außenwelt brachte. Durch ihn erfuhr ich zu meinem tiefen Schmerze König Oskars Tod, eine jetzt schon acht Monate alte Trauerkunde. Er erzählte mir auch von der in Indien erwachenden Gärung und den Befürchtungen, die meine Freunde meinetwegen hegten. Thakur Jai Chand hatte von der indischen Regierung. Befehl erhalten, um jeden Preis festzustellen, ob ich noch am Leben sei oder nicht. Er hatte in verschiedenen Richtungen tibetische Freibeuter ausgeschickt und dem, der sichere Kunde von meinem Schicksal bringe, 50 Rupien versprochen – soviel mochte ich, seiner Meinung nach, wohl wert sein! Abdul Kerim, der im bestem Wohlsein in Gartok angekommen war, wurde daher zum Garpun gerufen, der zu ihm sagte: »Euer Sahib ist schrecklich; er gibt nicht eher Ruhe, bis ich seinetwegen den Kopf verliere.« Der alte Hadschi Naser Schah, der unsere letzte Karawane so gewissenhaft ausgerüstet hatte, war im letzten Winter gestorben.
Als wir am 24. Juli Toktschen verließen, hatte ich mich in dem Gedanken gefreut, daß wir jetzt Schritt für Schritt in immer tiefere Gegenden, in immer dichtere und wärmere Luftschichten hinabsteigen würden. Einen Monat später befanden wir uns jedoch auf noch größerer Höhe als in Toktschen, sahen das Land unter einer Schneedecke liegen und hörten wieder die Hagelschauer auf unsere zerrissenen Zelte schmettern! Aber in Schipki schlugen wir sie wieder in einem Garten auf, der in der üppigsten Schönheit des Sommers prangte und hörten den Wind durch die dichtbelaubten Kronen der Aprikosenbäume säuseln. Schipki ist das letzte Dorf in Tibet. Von seiner Gartenoase beginnt der steile Aufstieg nach dem Schipki-la, auf den man gelangt, nachdem man eine Höhe überwunden hat, die sechs aufeinandergestellten Eiffeltürmen entspricht! Dort oben steht man auf der Grenze zwischen Tibet und Indien. Ich wandte mich um und ließ den Blick zum letztenmal über jene trostlos öden, unfruchtbaren Gebirge schweifen, wo meine Träume sich verwirklicht und mein Glücksstern heller und freundlicher als je zuvor gestrahlt hatte.
So leb' denn wohl, du Heimat der Wildesel und der Antilopen, du heiliges Land des Taschi-Lama, des Tso-mavang und des Tsangpo, du Land, in dessen geheimnisvolle Täler der Fremdling nur dann den Weg findet, wenn er zwei arktische Winter überlebt und im Hirtengewand eine Herde widerspenstiger Schafe vor sich hertreibt! Es war mir, als hätte ich hier auch vom Besten meiner Jugend und vom inhaltreichsten Kapitel meiner Lebensgeschichte Abschied genommen! –
Am 28. August 1908 lagerten wir in dem Dorfe Poo, und ich verlebte hier zwei unvergeßliche Tage in dem gastfreien Hause der Herrenhuter Missionare. Die Herren Marx und Schnabel und ihre liebenswürdigen Familien überhäuften mich mit Güte. Hier stürmten auch tausend Neuigkeiten aus der Außenwelt auf mich ein – mir war zumute, als lausche ich der Brandung an der endlich erreichten Meeresküste! Über zwei Jahre hatte ich keinen Europäer gesehen und sah selbst wie ein tibetischer Straßenränder aus (Abb. 372, 373). Aber die Missionare putzten mich mit einem europäischen Sommeranzug heraus und setzten mir einen indischen Helm auf den Kopf.
372. Ankunft in der Missionsstation von Poo.
Sitzend Kuntschuk mit Klein-Puppy und Gulam mit Takkar.
Hinter dem Verfasser von links nach rechts: Lobsang, Suän, Kutus und Tubges.
373. Der Verfasser in tibetischer Kleidung in Poo.
Einige Tage später kamen wir nach Kanam-gumpa, wo der ungarische Forscher Alexander Csoma de Körös vor 80 Jahren als Mönch lamaistische Weisheit studierte und wie kein zweiter die Gelehrten des Abendlandes mit den Mysterien der geheimnisvollen Religion bekannt machte. Wie ruhig verlief dagegen mein Leben droben auf der weiten Hochebene von Tschang-tang! Jetzt erfüllt das Rauschen des Strudel bildenden Flusses das schwindelnd tiefe Tal, und zwischen senkrechten Felsen hallt das Echo des donnernden Tosens der Wassermassen wider. Wie kahl und karg war doch die tibetische Erde gewesen! Jetzt lausche ich täglich dem Flüstern lauer Winde in tiefen, dunklen Nadelholzwäldern, die die steilen Hänge des Himalaja beschatten.
Immer tiefer geht es hinunter, immer wärmer wird die Luft. Mein treuer Freund, der große zottige Takkar, sieht mich mit fragenden Blicken an. »Er liebt nicht des Sommers duftenden Kranz, nicht der Wiesen bunten Saum.« Er gedenkt des freien Lebens auf den weiten offenen Ebenen, er vermißt die Kämpfe mit den Wölfen der Wildnis und träumt vom Land der ewigen Schneestürme. Eines Tages sahen wir ihn aus einer Quelle, deren Bächlein den Pfad kreuzte, trinken und sich dann in den kühlen Schatten des Waldes legen. Er hatte das schon manch liebes Mal getan, aber diesmal sollte ich ihn nicht wiedersehen! Er kehrte um und lief allein nach Tibet zurück! Doch schied er trauernden Herzens von mir, was ich daraus ersah, daß er geglaubt hat, die Missionare in Poo bitten zu müssen, mir einen Gruß zu senden. Eines Morgens fanden sie ihn vor dem Hoftor ihrer Station liegen, und, seiner alten Gewohnheit getreu, wollte er niemand hinein- oder herauslassen. Aber er wurde gastfrei aufgenommen und ging an der Kette als Gefangener neuen Schicksalen entgegen. Durch Herrn Marx erhalte ich noch von Zeit zu Zeit einen Gruß von meinem alten Takkar, der mein Zelt so treu verteidigte, als ich sein Heimatland verkleidet durchreiste! (Abb. 374.)
374. Takkar in seinem neuen Heim bei den Missionaren in Poo.
Im Club des Asiatiques in Paris hatte ich einmal mit Madame Massieu diniert, die so viele wunderbare Reisen in Asien gemacht hat. Prinz Roland Bonaparte und der Herzog Henri d'Orléans waren bei jener Gelegenheit zugegen gewesen, die mir lebhaft vor der Erinnerung schwebte, als ich am 7. September der weitgereisten Pariser Dame im Stationshaus von Taranda begegnete! Wir hatten uns viel zu erzählen, als wir das gemeinsame Mittagessen, das wir je zur Hälfte bezahlten, verzehrten. Unberührt von den Jahren, jugendlich und enthusiastisch, unternahm Madame Massieu später noch eine kühne Reise nach Katmandu.
Mit steigender Unruhe war ich dem Augenblick entgegengegangen, in dem ich nach beinah zwölfmonatigem, völligem Schweigen wieder Briefe aus der Heimat erhalten würde, und hatte mich gefragt, ob ich sie wohl ohne Tränen erbrechen und lesen würde. In Gaursa traf mich am 9. September die Postsendung. Ich las den ganzen Abend, die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag, und die letzten Tagereisen nach Simla konnte ich frohen Herzens zurücklegen, da mir jeglicher Kummer erspart geblieben war und ich wußte, daß zu Haus alles gut stand! Jetzt säuselten die Winde noch milder in den Zedern des Himalaja, und das Rauschen des Satledsch hallte wie die Trommelwirbel eines Triumphmarsches.
In Kotgar wohnte ich dem Abendgottesdienst in der Kirche der Missionare bei. Wie seltsam, wieder die versöhnenden, weichen Töne der Orgel zu hören und sich als unwürdiger christlicher Pilger in einer christlichen Kirche mit Dankbarkeit des einsamen Lebens der vergangenen Jahre zu erinnern!
Am folgenden Tag war ich zum letztenmal mit den Meinen unterwegs, denn bei Narkanda traf ich eine Rikscha, die mir Oberst Dunlop Smith entgegengeschickt hatte. Ich verließ die Meinen, um ohne Aufenthalt weiter zu eilen, während sie in gewöhnlicher Marschordnung nachfolgten. Wie herrlich, sich wieder an die Rücklehne des zweirädrigen kleinen Fuhrwerks lehnen zu können und in sausender Fahrt unter dem schattigen Gewölbe der Deodaras dahinzurollen!
Der 15. September war mein großer Tag. Ich hatte im Bungalow von Fagu übernachtet. Dieser Lagerplatz, wo ich ganz allein war, hatte die Nummer 499! Simla würde das Lager 500 werden. Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, so auf der Grenze zwischen der Wildnis und höchster Zivilisation zu stehen! An der Brüstung des prächtigen Fahrweges saß da ein Herr in seinem Rikscha – es war Reuters Korrespondent, mein Freund Mr. Edward Buck. »Nun geht's los«, dachte ich! Und so ging es denn weiter, die letzte Tagereise.
In der Ferne erscheint die herrliche, vornehme Stadt auf ihren steilen Hügeln, und die weißen Häuser schimmern zwischen den Bäumen hervor. Eine schöne Jungfrau fängt uns in ihren Kodak ein; aber es ist noch früh am Morgen, und wir erreichen ohne weiteren Unfall ein rettendes Herrengarderobengeschäft! Denn trotz des Anzuges aus Poo mußte ich gründlich renoviert werden, ehe ich mich innerhalb der Tore des Viceregal Lodge sehen lassen konnte!
Welch überwältigender Kontrast gegen das Leben, das ich zwei lange Jahre hindurch geführt hatte! Schon am 16. September lief ein » Stateball« von Stapel, und wieder hörte ich das knarrende Geräusch auf dem sandbestreuten Hof, als unzählige Rikschas die Gäste zum Balle brachten. Rauschende Seide, blitzende Juwelen, glänzende Uniformen – in ununterbrochener Reihe schreitet Simlas vornehme Welt zwischen den Trabanten mit den hohen Turbanen und den blinkenden Lanzen hindurch. » God save the King!« Mit dem Stab als Gefolge treten die Exzellenzen ein und unter den Klängen eines Straußschen Walzers beginnt der Tanz. Ganz wie im Mai 1906; die seitdem verflossenen 28 Monate erschienen mir wie ein bizarrer, wunderbarer Traum!
Die ersten Tage wohnte ich bei meinem alten edlen Freunde Oberst Dunlop Smith und hatte jetzt Gelegenheit, ihm und seinen liebenswürdigen Damen für alle die Mühe zu danken, die sie meinetwegen gehabt, und für die neun mit schönen Sachen gefüllten Kisten, die sie mir im vorigen Jahr nach Gartok geschickt hatten. Nachher siedelte ich wieder in das Viceregal Lodge über und genoß bei Lord und Lady Minto dieselbe grenzenlose Gastfreundschaft wie einst. Von meinen Fenstern aus sah ich wieder die Kämme des Himalaja scharf und klar am Horizont stehen, und hinter ihnen dehnten sich die Berge und Täler Tibets aus wie ein endloses Meer.
Welch ein Luxus und Reichtum! Ich wohnte wie ein Fürst, schritt nachdenklich auf weichen Teppichen auf und nieder, las abends in einem schwellenden Seidenbett bei elektrischem Licht schwedische Zeitungen, badete in einer Porzellanwanne und wurde von Hindus in vizeköniglicher Livree bedient – ich, der soeben erst in Lumpen gegangen war und Schafe gehütet hatte!
Am 24. September versammelten sich 150 Herren und Damen in großer Gala im Prunksaal des Viceregal Lodge zu Simla. Er war diesmal als Hörsaal eingerichtet, und auf der mit goldgesticktem Brokat überzogenen Estrade, wo sonst die Thronsessel stehen, war eine gewaltige Landkarte von Tibet angebracht. Auf den vordersten Stühlen sah man den Oberbefehlshaber der indischen Armee, Lord Kitchener of Khartoum, den Gouverneur des Pandschab und die Maharadschas von Alwar und Gwalior, und unter den Gästen waren alle Generale vertreten, sämtliche höheren Offiziere, alle Staatssekretäre, Männer der Wissenschaft und Mitglieder des Corps diplomatique, die sich gerade in Simla befanden. Der Militärsekretär, Oberst Victor Brook, tritt vor und verkündet das Erscheinen Sr. Exzellenz des Vizekönigs und der Lady Minto. Ich hatte ganz fürchterliches Lampenfieber, aber ehe ich mir dessen selbst bewußt wurde, hörte ich in dem glänzenden Saale » Your Excellencies, Ladies and Gentlemen« von meiner eigenen Stimme erschallen, und darauf folgte ein Bericht über meine letzten Reisen. Es war ein Uhr morgens, als mein Vortrag zu Ende war! Nachdem Lord Minto noch eine mehr als liebenswürdige Rede gehalten hatte, begaben sich die Gäste in die Nebensäle zu dem späten Souper.
In einem Serai unterhalb des Schlosses wohnten meine sechs Ladakis und meine sieben letzten Tiere. – Ich ging oft hinunter, besuchte sie und spielte eine Weile mit meinem alten Reisekameraden Klein-Puppy.
Doch auch die Tage der Ruhe flogen dahin und bald kam der letzte. Ich nahm Klein-Puppy auf den Arm, drückte ihn an mich, streichelte ihm den Kopf und kann sagen, daß es mir wirklich schwer wurde, mich von ihm loszureißen – ihn machte die elegante Kleidung seines Herrn verlegen, und er sah mich in diesem Augenblick fragend und melancholisch an, als ahne er, daß das Band zwischen uns jetzt zerschnitten werden solle und wir einander nie wiedersehen würden (Abb. 375). Seit dem Tage, da er am Fuß des Schneepasses Kara-korum geboren wurde, halten wir ja Freud und Leid gemeinsam getragen. Von den Hunden zu scheiden, ist das allerschwerste – den Männern Lebewohl zu sagen, wird mir nicht so schwer!
375. Klein-Puppy.
Schon bei ihrer Ankunft in Simla hatte ich meinen Leuten je 60 Rupien zu neuen Anzügen geschenkt, und sie hatten dafür in einem Basar einige alte abgelegte Uniformen mit blanken Messingknöpfen aufgetrieben, die ihrer Ansicht nach nobel und kleidsam waren. Auf den Achselklappen waren die Worte » Guard London S. W. Railway« zu lesen; wie sie sich nach Indien verirrt hatten, weiß ich nicht. Doch in diesen Uniformen und mit rotem Fes auf dem Kopf fanden sich meine Leute am letzten September auf dem Palasthof ein (Abb. 376). Sie durften meine sieben Pferde und Maulesel, Sattel, Zelte, Pelze, Schlafsäcke und alles andere behalten. Meinen Schimmel sollten sie in Leh verkaufen und sich in den Erlös teilen. Gulam sollte Klein-Puppy übernehmen und dafür sorgen, daß er nicht Mangel zu leiden brauche – es war wie die Auflösung eines Hauswesens, wie eine Auspfändung. Außer seinem Lohn erhielt jeder noch 100 Rupien als Geschenk und den vierfachen Betrag des Reisegeldes nach Leh.
376. Sieben Gentlemen in Simla.
Lord und Lady Minto waren bei unserem Abschied zugegen, und der Vizekönig hielt eine kurze lobende Rede an die Leute (Abb. 377). Es wurde mir schwer, von ihnen zu scheiden; sogar der so gleichmütige Lobsang, der über Simlas Pracht und Reichtum ganz verdutzt war, weinte wie ein Kind, als er mit schweren Schritten seinen Kameraden zu den wartenden Lasttieren hinunter folgte.
377. Abschied von meinen letzten Getreuen vor dem Hauptportal des vizeköniglichen Palastes in Simla.
Sitzend Kutus und Lobsang, stehend Suän, Gulam und Kuntschuk.
»Welche Treue, welche Anhänglichkeit!« rief Lady Minto gerührt aus, »ihre Tränen sprechen deutlicher als lange Beschreibungen.«
Anfang Oktober reisten der Vizekönig und Lady Minto ins Gebirge, und nach herzlichem Abschied von ihnen und heißem Dank für all die Güte, mit der sie mich überhäuft hatten, war ich nun allein und verlassen in dem großen Schloß. Erst in acht Tagen sollte mein Dampfer von Bombay nach dem äußersten Osten abgehen. Die fünf Tage, die ich noch in Simla blieb, verlebte ich zu meiner großen Freude als Gast in Lord Kitcheners Residenz Snowdon (Abb. 378). Nie werde ich diese Tage vergessen! Meine Zimmer waren mit Blumen geschmückt, und auf einem Tisch lagen vierzehn Werke über Tibet, die aus der Bibliothek des Generals herausgesucht worden waren, um mir als Lektüre zu dienen. Mit den heiteren, kameradschaftlichen Adjutanten, den Hauptleuten Wyllie und Basset, lebten wir als vier Junggesellen, nahmen Frühstück, Lunch und Mittag zu vieren und verbrachten die Abende im Billardzimmer, auf dessen Kaminfries man die bezeichnende Devise » Strike and fear not!« liest.
378. Meine letzte Stunde mit Lord Kitchener.
Der Verfasser
Nachmittags pflegte der General mit mir auf der Landstraße, die nach Tibet führt, spazieren zu reiten; wir sprachen dann von Europas Zukunft in Asien und Afrika, und ich erhielt einen Einblick wie noch nie in Lord Kitcheners Leben und Arbeit in Ägypten.
Aber auch die Tage in Snowdon verrannen. Am 11. Oktober brachte mich der Besieger Afrikas gerade um die Zeit, als die Gemeinde zur Kirche ging, nach dem Bahnhof, und ich sagte dem Manne, dessen Taten ich stets grenzenlos bewundert habe, ein letztes Lebewohl. Auf der Station Sommerhill unterhalb des Viceregal Lodge wechselte ich noch einen letzten Händedruck mit meinem lieben Freunde Dunlop Smith; dann verschwanden Simlas weiße Sommerhäuser in der Ferne, und der Zug rollte dem heißen Indien und dem großen öden Meere entgegen.
Druck von F. A. Brockhaus, Seidig.