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Sechsundvierzigstes Kapitel.
Stürmische Fahrt über den heiligen See.

Auch den 6. August blieben wir noch bei Tugu-gumpa, einem der interessantesten Klöster, die ich in Tibet gesehen habe. Den ganzen Tag war ich, mit Robert und Rabsang als Gehilfen, beschäftigt, mit einem Meßband die Dimensionen der drei verschiedenen Stockwerke auszumessen und von jedem einen Plan zu zeichnen. Der dritte ist jedoch, genau genommen, nur der Dachaltan. Es fehlt mir indessen an Raum, hier das Resultat mitzuteilen. Als wir gerade auf dem Dach waren, saßen acht Mönche auf dem innern Hof und zählten ihre Einnahmen zusammen, die gewissenhaft in ein Rechnungsbuch eingetragen wurden. Ihre Rupien und Tengas lagen in Häufchen auf einem kurzbeinigen Tisch. Ich opferte eine Handvoll Rupien, indem ich mitten in die Haufen der Mönche hinein nach dem Ziel warf und ihre Rechnung in Unordnung brachte. Sie waren mir indessen sehr dankbar für diesen unerwarteten Beitrag, der sozusagen vom Himmel regnete.

Etwa 30 Hindupilger schlugen heute ihre dürftigen Zelte in unserer Nähe auf. Abends zündeten sie Feuer auf einer flachen Metallschüssel an, die dann auf dem Wasser treiben mußte und wie ein Leuchtfeuer am Ufer strahlte. Der schwimmende Scheiterhaufen sollte eine dem See dargebrachte Huldigung sein.

Am 7. August wurde ich in aller Frühe geweckt, als die Sonne neues Gold über den blauen See ausgoß, während ein Lama auf dem Klosterdach auf seinem Muschelhorn langgezogene, dumpfe Töne über die stille Wasserfläche blies. Ich eilte nach dem Ufer, wo das Boot mit seiner gewöhnlichen Ausrüstung bereit lag, Schukkur Ali und Tundup Sonam die Lotleine in Ordnung brachten und unser Gepäck verstauten. Wie die Wildgänse umsäumten die Hindus das Ufer, ließen ihre Anzüge auf dem Trocknen und wateten, nur mit einem Tuch um die Hüften, ins Wasser hinein, um in dem heiligen, segenbringenden, seligmachenden See zu baden. An einem so kühlen Morgen muß es den Leuten aus den stickigen Dschungeln Indiens sehr erfrischend erscheinen, wenn sie sich in einem Wasser waschen, das nur einige Grad über Null hat. Die meisten gehen jedoch nicht weiter hinein, als bis ihnen das Wasser an die Knie reicht; dort hocken sie nieder oder beugen sich vornüber und schöpfen das Wasser mit beiden Händen, die sie schalenförmig zusammenlegen. Sie machen symbolische Zeichen mit den Fingern, nehmen den Mund voll Wasser, das sie wieder in einem Strahl herausspritzen, halten sich die Handflächen gegen das Gesicht und sehen nach der aufgehenden Sonne hin; sie betreiben alle jene unergründlichen, komplizierten Manipulationen, deren ich mich von den Kais der Stadt Benares her erinnere. Braun gebrannt sind sie, mager und elend sehen sie aus; sie sind viel zu dünn angezogen – ich sah keinen einzigen Pelz – und klagen daher über das rauhe Klima, erkälten sich und kommen in mein Zelt, um sich Heilmittel zu erbitten. Einige stehen wohl eine Stunde im Wasser, ehe sie wieder ans Ufer gehen, um sich anzukleiden und in Gruppen umherzusitzen und zu plaudern. Aber sie kehren mit dem Bewußtsein nach den Tälern Indiens zurück, daß sie eine den Göttern wohlgefällige Tat vollbracht haben, und sie nehmen kleine Metallbüchsen voll heiligen Wassers aus dem Manasarovar mit nach Haus, um sie ihren Verwandten zu schenken. Sie glauben, daß einer der Wege der Seligen über den Manasarovar führt. Hoffnung hegen sie ja immer, und das ist für arme Erdenpilger etwas Schönes.

Mit erstaunten Blicken folgten sie meinem Boot, das kräftige Ruderschläge vom Kloster fortführten. Vielleicht mit neidischen Blicken, denn mehrere von ihnen baten mich später, ob sie mich nicht begleiten dürften, damit sie für den Rest ihres Lebens die Erinnerung hätten, von den heiligen Wellen getragen worden zu sein. Morgenblank und ruhig lag der See, aber schon beim ersten Lotungspunkt (35 Meter) schüttelte sich der Seegott, eine nordwestliche Brise erhob sich, und die Wellen plätscherten und spielten frisch und munter am Vordersteven des Bootes. Denn diese unsere dritte Lotungslinie war nach dem Lager 214 in N 27° W gerichtet. Wir loteten 53, 63, 69, 72, 72, 75 und 77 Meter, während der Seegang stärker wurde und das stampfende Boot zwar seine Pflicht tat, aber doch in seiner Geschwindigkeit gehemmt wurde. Der Gurla Mandatta war beinahe klar, aber der Kailas hüllte sich eigensinnig in Wolken. Der Wind legte sich, und die Sonne glühte, alles prophezeite einen herrlichen Tag. Beim neunten Punkt nahm die Tiefe wieder ab: 75 Meter; wir hatten da unsere nächtliche Linie mit ihren großen Tiefen passiert. Nachher wurden 68, 60, 57, 59 und 61 Meter gelotet.

Wieder hatte es begonnen, aus Nordwesten zu wehen, und um die Mittagszeit wurden die Wolken im Norden dichter. Eine schwere, bleigraue Wolkenschicht senkte sich langsam an den Seiten der Berge herab, und von ihrem unteren helleren Rand hingen Regenfransen nieder, die sich grauviolett gegen einen dichten, dunkeln Hintergrund abhoben. Berge und Ufer verschwanden im Norden spurlos, die Wolkenmassen schienen auf den See hinunter fallen zu wollen. Wir hatten gerade den vierzehnten Punkt passiert, der eine Tiefe von 61 Meter ergeben hatte, und steuerten noch immer nach der roten Landspitze hin. Die Ruderer strengten sich tüchtig an, nachdem ich sie darauf aufmerksam gemacht hatte, daß wir uns dem schützenden Ufer näherten und daß die uns entgegenkommenden Wellen immer kleiner werden würden, je weiter wir gelangten. Wir hatten Gossul-gumpa schon eine gute Weile links hinter uns zurückgelassen; ich selbst sah das Kloster nicht, aber die Männer sahen es wie einen kleinen weißen Punkt in der Ferne.

Unmittelbar vor ein Uhr zeigten sich gelbe Tromben von Staub und Sand in der Nähe der Landspitze, die unser Ziel war. Sie wurden dichter und größer und sahen auf dem schwarzvioletten Hintergrund sich verdichtender Wolkenmassen brandgelb und unheimlich aus. Es war nicht das erstemal, daß ich solche Sturmwarnungen sah!

»Wir bekommen Sturm«, sagte ich ruhig.

»Gott ist mit uns«, antwortete Schukkur Ali ebenso ruhig.

»Rudert nur zu, so kommen wir noch hin, ehe die Wellen hoch gehen!«

»Wenn wir direkt nach dem Ufer abschwenken, wird es noch näher sein«, schlug Schukkur Ali vor.

»Nein, wir ändern den Kurs nicht, wir gehen gerade auf das Ziel los; bald sind wir unter den Uferhügeln vor dem Wind geschützt, es fehlen nur noch drei Lotungspunkte, und die können für ein andermal bleiben.«

Der Wind legte sich wieder, und es begann in spärlichen, großen Tropfen zu regnen, die bei der Berührung mit der Wasserfläche einen Augenblick freistehende runde Perlen bildeten, als ob sie mit einer Ölhaut umgeben seien. Darauf folgte ein ungeheuer dichter Hagelschauer, der die Wasserfläche peitschte, als er herabschmetterte, uns in Halbdunkel hüllte, den Seespiegel in Millionen kleiner Springbrunnen und Wasserkünste aufspritzen ließ und in zwei Minuten das Innere des Bootes weiß färbte. Nichts außer uns selbst und dem Boot war erkennbar, sonst nur Wasser und der Hagel, der wie Gerten auf den See aufschlug und einen sausenden, gurgelnden Laut hervorrief. Dann und wann wurden die Wolken durch zitternde Blitze innen erhellt, drohend und dumpf grollte im Norden der Donner. Da drehten die beiden Männer sich um, sahen aber in dem Nebel nichts; ihnen wurde unheimlich, und wir alle fühlten, daß eine gefährliche Situation im Anzug war.

Dem Hagel folgte ein Platzregen, ein Regenguß von so ungeheurer Heftigkeit, wie ich ihn mir überhaupt nicht hatte vorstellen können. Er stürzte in solchen Massen und mit solcher Kraft herab, daß man dadurch niedergebeugt wurde. Ich hatte drei Hemden und eine Lederjoppe an, spürte aber schon nach einer kleinen Weile, wie mir das Wasser auf dem bloßen Leibe hinabrann, was den Vorteil hatte, daß die tolle Dusche, die uns noch bevorstand, mich nicht mehr zu durchnässen brauchte. Ich hatte meinen Pelz mit der Fellseite nach oben über die Knie gelegt; in seinen Vertiefungen sammelten sich kleine Lachen an. Eine Menge Wasser kam auf diese Weise in das Boot und trieb mit den Ruderschlägen hin und her. Das Ufer war nicht sichtbar, ich steuerte nach dem Kompaß.

»Rudert nur zu, es ist nicht mehr weit!«

Endlich wurde der Regen dünner, aber als die Uhr vier Minuten über eins war, hörten wir ein betäubendes Tosen im Nordosten, einen Ton, wie ihn nur ein Sturm erster Klasse hervorrufen kann. Hagel und Regen waren nichts dagegen gewesen; jetzt, da die schweren Wassergardinen sich verzogen hatten, hatte der Sturm freien Spielraum und fuhr mit einem Schlag wie ein Rasender über den See hin! Warum waren wir nicht eine Stunde früher abgefahren, anstatt uns das religiöse Baden der Hindus anzusehen! Nein, der Gott des Tso-mavang zürnte und wollte uns ein für allemal lehren, nicht so leichtfertig mit dem See umzugehen, dessen grünes Wasser sein Delphinschwanz peitschte. Wie beneideten wir jetzt die Mönche in Gossul-gumpa und die Unseren fern im Süden unter den friedlichen Mauern des Tuguklosters! Was würden sie sagen, was sollten sie anfangen, wenn wir wie Katzen in diesem tobenden See ersäuft wurden!

Eine Minute kämpfte ich wie wahnsinnig um den rechten Kurs mit den Wellen, die wir direkt von der rechten Seite erhielten. Sie schwollen mit ungeheurer Schnelligkeit an, und jede Woge, die sich an dem gespannten Packleinwandrumpfe des Bootes in Büschel sprühenden Spritzwassers zersplitterte, rief einen Knall hervor, bei dem unser Schifflein zu platzen drohte. Die nächste war noch größer, ich parierte sie mit meinem indischen Helm, aber Tundup Sonam erhielt einen kalten Schlag, der ihn einen Augenblick aus der Fassung brachte. Nach der dritten, die ihren Schaumgipfel über die Reling schleuderte, stand das Wasser 10 Zentimeter hoch im Boot, die kleine Nußschale lag unter dem Gewicht dreier Männer viel zu tief im Wasser, und das Wasser, das wir schon eingenommen hatten, plätscherte, gluckste und spülte mit dem Rollen des Bootes hin und her.

Nun sah ich ein, daß der Versuch, unseren Kurs beizubehalten, aussichtslos war. Wir mußten mit Wind und Wellen abfallen. In S 50° W hatten wir Gossul-gumpa, der Sturm kam aus Nordosten, das paßte gut; im Kloster konnten wir eine Freistatt finden, wenn wir überhaupt so weit kamen! Es handelte sich nur darum, im rechten Winkel zu wenden, ohne zu kentern! Zweimal mißlang es mir, wir nahmen noch mehr Wasser ein, aber das drittemal gelang es, und nun mußten wir, wenn uns unser Leben lieb war, das Boot verhindern, sich wieder im Winde zu drehen; der Sturm kam ein wenig von rechts. Tundup Sonam, der im Vorderteil das Steuerbordruder führte, hatte die ganze Last auf sich, während Schukkur Ali nur dann und wann das Ruder nach meinem Kommando eintauchen mußte, aber er war bei aller äußeren Ruhe hitzig und zu eifrig, und da er im Heulen des Sturmes mein Rufen nicht hörte, legte ich die Hand auf seine Knöchel, wenn er das Rudern lassen sollte.

Nun begann eine Fahrt, wie ich sie auf all meinen früheren Seereisen in Tibet noch nie erlebt habe! Der Sturm schwoll zum Orkan an, unter seinem pressenden Druck wurden die Wellen so hoch wie die Wogen der Ostsee bei stürmischem Wetter; jeder Dampfer wäre in diesem Seegang ins Rollen geraten; wir in dem kleinen Zeugboot mußten in den schnellen, unerwarteten Schwankungen, die beim Schlingern dicht aufeinander folgten, immerfort parieren und balancieren. Gepeitscht, gejagt, gehetzt von der wütenden Kraft des Windes, fegten wir über den See hin. Jede neue Welle, die uns emporhob, schien größer als die vorhergehende. Einige hatten scharfe, glatte Kämme, die wie aus Bergkristall modelliert waren und die schwarzen Wolken im Norden widerspiegelten – es sah aus, als ob wir ein bodenloses Wassergrab vor uns hätten, dessen gähnende Tiefe das Boot im nächsten Augenblick verschlingen würde. Andere kamen mit vorgeschobenen Schaumfällen, zischend und donnernd von hinten her herangerollt, es wurde uns schwarz vor den Augen bei dem Gedanken, daß sie in einer Sekunde das Boot füllen und unter das Wasser hinabdrücken würden. Aber der Wellenkamm hob es hübsch in die Höhe, die Aussicht wurde nach allen Seiten frei, im Süden schien noch die Sonne, der Gurla Mandatta war klar und scharf zu sehen, in S 50° W sah man sogar die Terrasse, auf der Gossul-gumpa liegt, nur im Norden war alles schwarz und drohend. Während der Sekunde, in der das Boot zitternd auf dem Wellenkamm schwebte, konnte man sich auf einen dominierenden Paß in Tschang-tang mit einer Welt von Bergketten auf allen Seiten versetzt glauben, während der Schaum auf den Wogen die Illusion der ewigen Schneefelder hervorrief.

Aber auch diese Welle läuft weiter, und das Boot sinkt in ein Tal hinab, wir verschwinden in einer Wassergrotte, die nächsten Wellen verdecken wieder die Aussicht, die Wände der Grotte hinter uns sind vom reinsten Malachit und vor uns von Smaragd; auf den Seiten rücken sie wie Kulissen vor. Jetzt werden wir wieder emporgetragen – »nur zu, Tundup Sonam, sonst drückt uns der gewaltige Schaumkamm nieder!«; er strengt seine ganze Kraft an, und die Welle geht vorüber. Aber sie ist oben nicht gerade abgeschnitten und erinnert an die Pyramidengipfel des Kubi-gangri; zwei solche türmen sich unmittelbar vor uns auf, und ihre Spitzen zersplittern im Winde. Sie sind durchsichtig wie Glas und quer durch die eine hindurch bricht sich das blendend weiße Bild der Schneefelder des Gurla Mandatta wie in einem gewaltigen Vergrößerungsglase. Wir haben ein Wassertor vor uns, und der Widerschein der Sonne des Südufers vergoldet die Ränder der Wogen mit mattem Glanz.

Wir kämpfen tapfer, ich sitze auf dem Boden des Bootes und muß mit meiner ganzen Kraft auf das Steuer drücken, um das Boot in der richtigen Bahn zu halten, während das vom Sturm aufgepeitschte Spritzwasser wie der zersplitterte Strahl einer Feuerspritze über uns hinfliegt. Oft schleicht sich auch ein gebrochener Wellenkamm über die Reling hinweg bei uns ein, aber wir haben keine Hand frei, um das Wasser auszuschöpfen. Wir sehen, wie sich das Boot allmählich füllt – werden wir das Ufer erreichen, ehe es sinkt? Mast und Segel liegen mit zwei Reserverudern querüber mitten auf dem Bootsboden festgeschnürt. Könnten wir nur das Segel setzen, so wäre das Boot leichter zu regieren, aber daran ist jetzt nicht zu denken, da man sich kaum im Sitzen und nur durch festes Anstemmen der Füße im Gleichgewicht halten kann bei den schweren Stößen und unberechenbaren Lagen, die das Boot je nach der Form und Neigung, der Wölbung und dem Überschlagen der Wellen annimmt. Und überdies wäre der Mast in dem herrschenden Sturm wie Glas zersprungen!

Wir waren von unserem Lotungskurs rechtwinklig abgebogen, es galt jetzt nur noch, wenn möglich, das Leben zu retten – das Land zu erreichen, ehe das Boot sank! Da, im kritischsten Moment, als eine ungleichmäßig heranrollende Welle das Boot bedrohte, rief ich Tundup zu, die ganze Kraft aufzubieten – und er tat es so gründlich, daß sein Ruder mit einem Knall zersprang! Nun hing alles an einem Haar; wir konnten das Boot nicht mehr regieren, es mußte unfehlbar kentern und sich unter diesem schäumenden Wellenkamm umkehren. Aber auch Tundup erkannte die Gefahr und riß mit schnellem Griff ein Reserveruder los, während Schukkur Ali mit dem Backbordruder rückwärts ruderte; nach einer neuen Dusche waren wir wieder in der richtigen Lage!

Je länger es dauert und je größer das Seegebiet wird, das wir im Nordosten hinter uns zurücklassen, desto höher schwellen die Wogen an; wir werden vorwärtsgeschleudert, wir schaukeln auf dem jetzt hügeligen See auf und nieder, und ständig sausen von den Wellengipfeln, deren Schaum sich wie ein Federbusch zerteilt, neue Abkühlungsgüsse auf uns herab. Wie klein und machtlos fühlt man sich diesen empörten, gereizten Naturkräften gegenüber! Imposant und unheimlich, aber auch wie herrlich und großartig ist dieses Schauspiel! Die beiden Männer hatten noch nie in ihrem Leben etwas Ähnliches gesehen. Ich selbst sitze mit dem Rücken gegen die anrückenden Sturzseen, die Männer aber haben sie vor sich, und ich höre es ihrem gedämpften Ausrufe »Ja, Allah!« an, wenn die größten Wellen kommen. Tundup ist so bleich, als seine sonnenverbrannte Haut es zuläßt; Schukkur Ali scheint ruhig, aber heute singt er nicht beim Eintauchen des Ruders. Tundup gestand mir später im Vertrauen, er sei fest überzeugt gewesen, daß wir umkommen würden.

Meine Brille trocken und klar zu halten, ist unmöglich, es rinnt und tropft von den Gläsern, und auf dem Leibe habe ich ja auch schon lange keinen trocknen Faden mehr. Schukkur Ali dreht sich um und sagt, das Kloster sei sichtbar, meinen Augen aber liegt es noch viel zu fern. »Sieh die Welle dort!« rufe ich aus. »Ist sie nicht schön?!« Er lächelt und murmelt sein »Ja, Allah!« Ihr Kamm überschlägt sich ganz in unserer Nähe wie ein Wasserfall, wodurch Luft unter Wasser gepreßt wird und sich wie brodelnder, Blasen werfender Schaum wieder hebt, es ist, als ob der See koche und siede! Bisher hatte es gesprüht, jetzt aber ist die Luft klar. Der See nimmt nun eine andere Farbe an, die Wellen sind dunkel und spiegelnd, in unserer unmittelbaren Nähe sind sie schwarz wie Tinte, aber oben nach den Gipfeln zu ein wenig heller, und manchmal sieht man den Seehorizont durch die nächste Welle wie durch einen Eisschirm.

So werden wir vorwärts gejagt, die Zeit erscheint uns endlos. Fünf Viertelstunden haben wir mit den Launen des Seegottes gekämpft, und jede Minute ist uns wie eine Stunde vorgekommen! Endlich zeigt sich das Kloster Gossul; es vergrößert sich, die Einzelheiten treten hervor, ich sehe die weiße Fassade mit ihrem roten oberen Rand, seine Fenster und Dachwimpel und hinter einer Balustrade einige Mönche, regungslos den Blick auf unser Boot gerichtet. Aber unter der Klosterterrasse steht eine schäumende, wilde Brandung. Wie wir landen werden, weiß ich noch nicht; ich habe solche Abenteuer wohl schon früher erlebt, aber so toll wie heute ist es noch nie gewesen! Wir beneiden die oben stehenden Mönche, die festen Boden unter den Füßen haben; wären wir nur schon bei ihnen! Das Log ist die ganze Zeit über draußen gewesen, ich rette es mit einem schnellen Griff und rufe den Leuten zu, sich bereit zu halten, um auf ein gegebenes Zeichen über Bord zu springen. Das heutige Notizbuch und die heutige Kartenaufnahme, die von Wasser triefen, stecken vorn in meiner Lederjoppe, damit wenigstens die gesammelten Ziffern nicht verloren gehen.

Wir haben nur noch zwei Minuten Zeit. Es gelingt mir noch, mich mit Schukkur Alis Hilfe von meinen vollgesogenen, schweren Kaschmirstiefeln zu befreien, aber kaum bin ich sie los, als das Boot auch schon ungestüm in die Sturzseen der Uferbrandung hineingeschleudert wird. Hier ist das Wasser bräunlichtrüb wie Hafergrütze, und eine Welle saugt das Boot wieder seewärts. Jetzt will Tundup Sonam aus dem Boot springen, aber ich rate ihm, erst mit dem Ruder nachzufühlen, ob er auch Grund habe; er fühlt keinen Grund und geduldet sich noch. Das Boot erhält einen neuen Stoß von hinten und droht umzuschlagen; nun arbeiten die Ruderer wie besessen, um sich dem Ufersog zu widersetzen, und ehe ich mich versehe, ist Tundup ins Wasser gesprungen, das ihm bis an die Brust reicht, und zieht das Boot mit Aufbietung seiner ganzen Kraft landeinwärts. Nun folgen wir beide seinem Beispiel, und mit vereinigten Kräften gelingt es uns endlich, das Boot auf den Uferrand hinaufzuziehen, ehe die wütende Brandung es hat zerschlagen können. Noch ein tüchtiger Zug, und wir bringen es über die Schlammbarre in das Lagunenwasser, wohin die Wellen nicht dringen.

Nun haben wir aber auch genug, und erschöpft vor Müdigkeit werfen wir uns auf den Sand. Der ungeheuren Aufregung und Anspannung, in der Leib und Seele sich anderthalb Stunden lang befunden hatten, folgte ein Gefühl der Betäubung und der Ermattung – wir hatten einander nichts zu sagen, und ich gab keine Befehle für die Nacht. Wir waren Schiffbrüchige, hatten aber alle Veranlassung, froh und dankbar zu sein, daß wir überhaupt wieder festen Boden unter den Füßen hatten und mit heiler Haut allen den grünen Gräbern entronnen waren, die unter uns gegähnt hatten und bereit gewesen waren, uns zu verschlingen, wenn wir in den kritischsten Augenblicken nicht auf unserer Hut gewesen wären.

Wir hatten jedoch erst ein paar Minuten geschlummert, als zwei Mönche und drei Novizenknaben mit leisen Schritten über den Sand herankamen und sich uns so vorsichtig näherten, als wüßten sie nicht recht, ob wir lebendig seien oder tot. Da richteten wir uns auf, und nun begrüßten sie uns freundlich und erkundigten sich, wie es uns gehe und ob wir der Hilfe bedürften. Sie bezeigten uns viel Interesse und erzählten, daß sie vom Altan aus das Boot auf den Wellen schaukelnd herankommen sehen und überzeugt gewesen seien, daß es in dem ungewöhnlich heftigen Sturm, der heute über den See hingezogen sei, untergehen müsse. Sie waren zu Tode erschrocken gewesen und sagten, es sei ein furchtbares Bild gewesen, wenn die Wellen das Boot verdeckt hätten, und sie hätten jeden Augenblick erwartet, daß es sich nicht wieder zeigen werde. Und beim Landen hätten sie uns dicht unter sich gehabt; es habe doch gar zu unheimlich ausgesehen. Ob wir irgendwie verletzt seien und ob wir nicht ins Kloster hinaufkommen und die Nacht in warmen Zimmern zubringen wollten? Aber ich dankte ihnen für ihr gütiges Anerbieten und zog es vor, wie gewöhnlich im Freien zu schlafen. Könnten sie uns aber Brennholz und Essen verschaffen, so würden wir dazu nicht nein sagen.

Sie verbeugten sich und verschwanden in den verwickelten Treppengängen, um bald mit ganzen Säcken voll Dung, Reisig und Scheiten wiederzukommen, und bald loderte ein herrliches Feuer auf der Terrasse auf. Sie zündeten es selbst an, denn unsere Zündhölzer und Feuerzeuge waren wie alles andere gänzlich unbrauchbar geworden. Und dann gingen sie wieder ihrer Wege, um uns etwas Eßbares zu besorgen, denn der Inhalt unserer Proviantbündel hatte sich in dem Bootwasser in Teig verwandelt.

Unterdessen richteten wir uns auf dem schmalen Uferstreifen unterhalb des Klosters häuslich ein. In der Terrasse gähnten zwei große Höhlen, deren gewölbte Decken rußig waren; Pilger und Hirten pflegten hier zu übernachten. Sie hätten uns gegen den Wind schützen können, sahen aber so unsauber aus, daß wir beschlossen, das Lager lieber auf dem Uferrand aufzuschlagen. Er war freilich naß vom Regen, aber wir gruben uns mit den Händen trocknen Sand aus. Das Boot wurde auseinandergenommen und ausgegossen – es war ja halb voll Wasser –, und dann wurde es am Feuer in einen Windschirm verwandelt. Es war ein Vergnügen, den Sturm anzuschauen und dem lauten Rauschen der Brandung zuzuhören.

Als das Feuer ordentlich in Brand und es glühend heiß geworden war, zogen wir uns splitterfasernackt aus, rangen ein Kleidungsstück nach dem anderen aus und hockten dann ans Feuer, um unser Unterzeug zu trocknen und selber wieder trocken zu werden. Jeder mußte für sich selber sorgen, denn wir waren alle drei gleich übel dran. Ich breitete meine Sachen möglichst dicht am Feuer aus und hängte sie über die Ruder und die Rettungsgürtel, damit Wind und Hitze wirken könnten. Inzwischen trocknete ich meine wollene Unterjacke stückweise, kehrte sie um, wandte sie dem Feuer von vorn und von hinten, von außen und von innen zu, und als sie ganz trocken war, zog ich sie wieder an. Dann kam die Reihe an die sogenannten Unaussprechlichen, darauf an die Strümpfe und so eines nach dem anderen. Nur mit der Lederjoppe und dem Pelz gelang es mir nicht, sie wurden bis zur Nacht noch nicht trocken, aber was machte das aus? Wir hatten es hier ja doch jedenfalls besser als in den grünen Kristallsälen des Seekönigs!

Noch ist es heller Tag, aber der Sturm wütet, der Gurla Mandatta und das ganze Land im Süden sind verschwunden, dorthin zieht das Unwetter. Es regnet wieder fein und dicht. Falken schreien in den Löchern der Geröllabhänge, eine gefährliche Nachbarschaft für die blaugrauen Tauben, die auf den Vorsprüngen girren.

Mit süßer und saurer Milch und Tsamba kommen die Mönche wieder herunter, Tee haben wir selber, und das einfache Mittagessen schmeckt vortrefflich. Dann saßen wir ein paar Stunden am Feuer, während der Sturm noch andauerte. Ich hatte auch mein Tagebuch getrocknet und trug nun die Aufzeichnungen ein, die den Inhalt dieses Kapitels bilden. Währenddessen unterhielt mich der neben mir sitzende Schukkur Ali mit den Abenteuern, die er auf seinen Reisen im Dienste Younghusbands und Wellbys erlebt hatte. Nun, da er eben mit knapper Not dem Tode entronnen ist, tritt das Vergangene schärfer in seiner Erinnerung hervor, und wenn er einmal ins Erzählen gerät, läßt er sich nicht Einhalt gebieten, der gute Schukkur Ali. Ich hörte ihm mit einem Ohre zu und schrieb mit dem anderen – hätte ich beinahe gesagt –, um nicht interesselos zu erscheinen; und schließlich war es für Schukkur Ali ja die Hauptsache, daß er schwatzen konnte.

Endlich klärt es sich im Norden auf, und alle Berge erscheinen kreideweiß beschneit. Sonst zeichneten sich nur der Kailas und seine nächsten Nachbarn durch ihre weißen Hauben aus, jetzt aber ist alles weiß. Wir sind freilich schon über die ersten Tage des August hinaus, aber sollte es möglich sein, daß der Herbst bereits beginnt? Der Sommer ist ja so kurz gewesen, wir haben kaum Zeit gehabt, uns an ihn zu gewöhnen.

Eine neue Nacht senkt sich auf die Erde herab. Undurchdringliches Dunkel umgibt uns, nur im Zenit funkeln einige Sterne. Die hinsterbende Dünung rauscht noch gegen das Ufer. Der Tso-mavang aber schlummert sanft zur Nachtruhe ein. Über uns thront das Kloster auf seiner steilen Wand wie eine Burg, auch die Mönche haben sich schlafen gelegt. Die Falken sind verstummt, und die Tauben haben ihre Nester aufgesucht.


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