Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir sind wieder auf der Chalebheide, und morgen ist der 3. September, an dem die Umwanderung des heiligen Berges beginnen soll! Der vornehmste Gova von Parka ist bei uns, um mich im Zaum zu halten; aber ich lasse es hübsch bleiben, meine Pläne zu verraten. Tsering, Rabsang, Namgjal und Ische sollen mit; sie sind Lamaisten und freuen sich auf die Gelegenheit, durch Umwandern des heiligsten aller Berge der Erde den Toren der Seligkeit näher zu kommen. Proviant auf drei Tage, die absolut notwendigen Instrumente und Skizzen- und Notizbücher werden mitgenommen. Das Stativ des großen photograpischen Apparates und die eine Persenning des Bootes sollen als Zelt dienen. Das ganze Gepäck ist nur eine leichte Pferdelast. Ich reite auf meinem kleinen Ladakischimmel, die vier Männer gehen zu Fuß, denn den heiligen Berg darf keiner umreiten, der nicht, wie ich, ein Heide ist! Die übrige Karawane sollte uns in Chaleb erwarten, und mein Zelt sollte unberührt stehen bleiben, damit die Tibeter dächten, daß man mich zum Abend zurückerwarte.
Tsering, Namgjal und Ische brachen früh auf, ich und Rabsang ein wenig später. Der Gova und seine Leute kamen, um zu fragen, was dies bedeute und wohin ich wolle. Aber ich antwortete ihm nur: »Ich bin bald wieder da«, und ritt nach N 30° O nach dem Eingange des Dunglungtales (Abb. 266).
266. Eingang ins Dunglung- oder Njandital mit dem Kailas im Hintergrund.
Der Sitzende ist der Gova, der mir erlaubte, die Reise zur Indusquelle auszuführen.
Oben zwischen den ersten Moränen erwarten uns die anderen, und nun ziehen wir in geschlossener Kolonne bergauf und bergab über alte Moränen, die von verschwundenen Gletschern hier abgestoßen worden sind. Am Ufer des Dunglungflusses rastet eine Pilgergesellschaft aus Kham im fernen Osten. Sie haben die Zelte aufgeschlagen und ihre Pferde weiden im frischen Grase. Von der Moränenhöhe aus sieht man den nördlichen Teil unseres stürmischen Langak-tso.
Wir reiten das Tal hinauf und haben bald auf beiden Seiten festes Gestein von hartem grünem und violettem Konglomerat mit gewaltigen Schuttkegeln am Fuß der Abhänge. Kolossale Konglomeratblöcke sind hier abgestürzt. Am linken Flußufer, da wo der Weg von Tartschen heraufkommt, stehen ein kleines würfelförmiges Haus und mehrere Manis und Tschorten in langen Reihen; es ist ein heiliger Weg, der Weg der Pilger um den Kang-rinpotsche.
Die Bergwände nehmen immer wildere Formen an, sie fallen senkrecht nach Terrassen und Geröllkegeln ab, sie bilden Treppenstufen und Leisten, Festungsmauern, Zinnen und Türme, sie scheinen von Menschenhand aufgemauert zu sein. Sie bestehen aus Sandstein und Konglomerat, die Schichten fallen 10 Grad nach Süden ein und erscheinen dem Auge oft horizontal. Eine kleine Brücke führt über den Fluß; eine Pilgergesellschaft, die hinter uns herzieht, geht gerade hinüber. Wir aber sind auf dem rechten Ufer, und über uns thront Njandi-gumpa auf seiner Terrasse. Über ihm erhebt sich die senkrechte Wand eines kolossalen Bergmassivs, ein gefährlicher Hintergrund für ein Kloster. Droben auf einem Absatz haust ein Eremit, und ganz oben auf dem Gipfel steht eine Wimpelstange, Njandi-kong genannt. Vor fünf Jahren stürzte ein gewaltiger Felsblock gerade auf das Kloster herab und zertrümmerte es zur Hälfte. Der Block liegt noch auf dem inneren Klosterhofe. Es war früh morgens nach langem, anhaltendem Regen; keiner kam zu Schaden, aber das Kloster mußte neu aufgebaut werden.
Zwei Mönche, zwei alte Weiber und ein Junge empfingen uns freundlich und sagten, es sei das erstemal, daß sie einen Europäer in Njandi sähen. Das Kloster steht ebenso wie die drei anderen am Kailas liegenden unter dem Tartschen-labrang, der am Südfuß des Berges liegt und bei dem die Pilger ihre Wanderung beginnen und beenden. – Seltsamerweise gehören diese Klöster Tongsa Penlop, dem Radscha von Bhutan. Das vorige Jahr, 1906, war ein »Jahr des Feuerpferdes«; das Jahr 1918 wird ein »Jahr des Erdpferdes« sein; jedes zwölfte Jahr ist ein Pferdejahr, und dem Wort »Pferd« werden die Bezeichnungen Holz, Feuer, Erde, Eisen oder Wasser abwechselnd vorangesetzt; der tibetische Zyklus (die Zeitperioden, nach denen gerechnet wird) erstreckt sich über 60 Jahre mit zwölf verschiedenen Tiernamen. In jedem Pferdejahr, also jedem zwölften Jahr, kommen Massen von Pilgern nach dem Kailas. Die Mönche sagen, man könne sie nicht zählen, sie wüßten aber, daß im Jahre 1907 über 5000 Pilger in Njandi gewesen und ein großer Teil aus Ladak gekommen sei.
Das Lhakang, der Göttersaal, ist recht originell. Vier Säulen tragen seine Decke. Der Altar, einem chinesischen Kiosk von bunt bemaltem Holze ähnlich, steht frei und im tiefen Schatten, aber seine Vorderseite wird durch so zahlreiche Opferlichter erhellt, daß die Beleuchtung einen festlichen Eindruck macht. Vor dem Bilde Schakyamunis, das seinen Platz an der einen Wand hat, hängt eine besondere Lampe. Vor dem Altar steht ein gewaltiger Kupferkessel mit Deckel, der Tosungdschön genannt wird. Man erzählt, daß er in alten Zeiten aus Indien durch die Luft hierhergeflogen sei. Im Winter ist er mit Butter gefüllt, im Sommer mit Tschang; ein Lama füllte mit einer langen Messingkelle das geweihte Getränk in die Holzschalen meiner Leute. Und aus der silbernen Kanne mit den Pfauenfedern goß er Weihwasser in ihre hingereichten hohlen Hände; sie tranken davon und bestrichen sich mit dem Rest das Gesicht. Alle außer Rabsang huldigten den Götterbildern vorschriftsmäßig und beteten, Tsering hatte außerdem noch auf dem ganzen Weg Gebete gemurmelt und die Kugeln seines Rosenkranzes durch die Finger gleiten lassen. Zwei schöne Elefantenzähne (Langtschen-sala-rapten) waren auch vor dem Altar aufgestellt.
Im Tsänkangsaal steht eine in Goldbrokat und Kadachs gekleidete Statue des Hlabsen, des Gottes des Kang-rinpotsche und des Tso-mavang. Im Vorzimmer des Saals ist ein ganzes Arsenal von Säbeln und Flinten nebst hölzernen und ledernen Schilden, die je vier eiserne Buckel haben. Auf der Außenseite des Klosters, dessen Front dem heiligen Berg zugekehrt ist, sind Reihen künstlerisch ausgemeißelter Schieferplatten angebracht. Auf sechs von ihnen ist je eines der heiligen Schriftzeichen eingeritzt; aber jedes der riesigen Schriftzeichen ist wieder mit dem unveränderlichen A und O des Lamaismus: » Om mani padme hum« ausgefüllt. Auf anderen Platten sind Götter mit einer Kunstfertigkeit ausgemeißelt, die in Erstaunen setzt und den freilich vergeblichen Wunsch erregt, eine oder die andere kaufen zu dürfen.
Die Aussicht, die man vom Dache hat, ist unbeschreiblich schön (Abb. 267). Dort erhebt sich der vereiste Gipfel des Kang-rinpotsche inmitten phantastischer, wildzerklüfteter Bergwände, und im Vordergrund haben wir die pittoresken Oberbauten und Wimpel des Klosters.
267. Der Kailas hinter Njandi-gumpa.
Aber die Zeit vergeht. Nachdem wir Njandi drei Stunden geopfert haben, sagen wir den guten Mönchen Lebewohl, steigen wieder den steilen, zwischen Schutt und Blöcken durchführenden Zickzackpfad hinunter und setzen die Wanderung nach Nordnordosten auf dem rechten Ufer flußaufwärts fort. Bei jeder Biegung möchte man bewundernd stehen bleiben, denn dieses Tal ist an wilder Naturschönheit eines der großartigsten, die ich je gesehen habe. Die Bergwand der rechten Talseite besteht aus zwei Etagen, zwischen denen ein Terrassenabsatz liegt; mitten in der Wand gähnt eine schwarze Schlucht. Auf der linken Seite bildet das Gestein eine einzige senkrechte Wand, und dann fällt der Blick auf eine Reihe seltsamer Reliefformen, Felsen, die in Steinkaskaden erstarrt zu sein scheinen, Zitadellen, Kirchtürme und mit Zinnen versehener Festungsmauern, die cañonartige Hohlwege voneinander trennen. Von schmelzenden Schneefeldern rieselt Wasser an den steilen Gehängen herab. Ein solcher Wasserstrahl ist wohl 250 Meter hoch und weiß wie Milch; der Wind zerstäubt ihn, aber er sammelt sich wieder, um dann an einem Vorsprung zu zersplittern. Um ihn herum ist die Felswand von sprühenden Tropfen naß und dunkel. Über eine senkrechte, schmale Kluft führt eine natürliche Steinbrücke.
Schon unmittelbar hinter dem Kloster verschwindet der Gipfel des Kailas, aber bald sieht man wieder einen Zipfel von ihm durch eine Lücke. Wir zogen an zwölf Pilgern und bald darauf an einer zweiten Gesellschaft vorüber, die sich an einem Abhang ausruhte. Sie machen feierliche Gesichter und reden nicht miteinander, sie murmeln nur Gebete und schreiten vornübergebeugt und auf den Stab gestützt, manchmal aber auch ohne Stab, dahin. Wie haben sie sich danach gesehnt, hierher zu kommen! Und nun sind sie da und gehen im Kreis so um den Berg herum, daß sie ihn stets zu ihrer Rechten haben. Sie fühlen keine Müdigkeit, denn sie wissen, daß jeder Schritt ihre Aussichten jenseits des Todesflusses besser werden läßt. Und wenn sie wieder nach ihren schwarzen Zelten in den fernen Tälern zurückgekehrt sind, erzählen sie ihren Freunden von all den Wundern, die sie gesehen haben, und von den Wolken, die wie alte Drachenschiffe unter dem weißen Scheitel des Gangri hinsegelten.
Überall erheben sich kleine, kegelförmige Steinmale. Tsering versäumt nie, einen Stein vom Wegrande aufzuheben und ihn als seinen Beitrag auf jeden solchen Votivhaufen zu legen; und damit tut er auch ein gutes Werk, indem er den Weg für die, die nach ihm kommen, weniger holprig macht. Durch eine Lücke sieht die Sonne hervor und wirft grelles, gelbes Licht in das Tal, das sonst im Schatten liegt. Wieder zeigt sich der Eisgipfel in starker Verkürzung. Von den Seiten kommen mehrere Nebenflüsse, und gegen Abend steigt der Fluß; er führt nun wohl 8 Kubikmeter.
Ein Mann aus Gertse ist 20 Tage hintereinander um den Berg gegangen und hat jetzt gerade seine zehnte Umwanderung hinter sich. Dunglung-do ist ein sehr wichtiger Talknoten, drei Täler stoßen hier zusammen; das Tschamo-lungtschen kommt von N 70° W, das Dunglung von N 5° W; das dritte, das in seinem oberen Teil Hle-lungpa heißt, ist das, in dem wir aufwärts ziehen. Wir haben jetzt auf beiden Seiten Granit. Der Kailas wendet eine scharfe Kante nach Norden, und der Gipfel hat hier mehr denn je Ähnlichkeit mit einem Tetraeder (Abb. 269). Wieder wird der Berg von einer Höhe des Bergringes verdeckt, der den Gipfel umgibt, wie der Vesuv von seiner Somma umgeben ist. Der Hauptfluß ist gegen Abend angeschwollen; über die beiden anderen Flüsse führen Brücken. Blöcke liegen massenhaft umher. Alles ist Granit, und daher sind die Bergformen runder und plumper.
269. Der Kailas von Nordwesten.
Skizze des Verfassers.
Endlich erblicken wir vor uns das Kloster Diri-pu, das am Abhang der rechten Talseite liegt. Ein gewaltiger Granitblock neben dem hinaufführenden Wege trägt die gewöhnlichen heiligen Schriftzeichen, und dort sieht man auch lange Manis, Wimpel und Steinhaufen. Alle die Pilger, die wir im Laufe des Tages überholt hatten, kehrten im Kloster ein, in dessen Herberge sie kostenfrei übernachten dürfen (Abb. 268). Sie war zum Bersten voll, nachdem auch noch eine Gesellschaft von Wanderern, die zur Pembosekte gehörten, angelangt war; diese umwandern den Berg natürlich in verkehrter Richtung, und die Orthodoxen, die ihnen begegnen, werfen ihnen verächtliche Blicke zu. Ich zog es daher vor, mein Zelt auf dem Dache aufzuschlagen, wo das Gepäck der Pilger in Haufen aufgestapelt lag. Auch von hier hat man eine prachtvolle Aussicht auf den Kailas, dessen Gipfel sich gerade im Süden zeigt (Abb. 270). Bei +4,5 Grad um 9 Uhr war es kalt und unfreundlich, weil heftiger Wind wehte, und weil mein Zelt, das nur aus dem mit Leinwand überdeckten Stativ des photographischen Apparates bestand, zu klein war, um das Anzünden eines Feuers zu erlauben.
268. Bettelnde Pilger.
270. Der Kailas von Diri-pu aus. Skizze des Verfassers
Seit es mir geglückt war, die Lage der Quellen des Brahmaputra und des Satledsch feststellen zu können, war mein alter Traum von der Entdeckung der Indusquelle wieder erwacht, mein ganzes Sehnen und mein ganzer Ehrgeiz hatten sich nun auf dieses Ziel konzentriert. Da ich nun von den Mönchen erfuhr, daß der Punkt, wo der berühmte Fluß aus dem »Munde des Löwen« hervorquillt, in nur drei Tagereisen nach Nordosten unter Überschreitung eines hohen Passes zu erreichen sei, erschien mir alles andere im Vergleich mit dem Vordringen durch das unbekannte Land im Norden gleichgültig und unbedeutend. Wir hielten Kriegsrat; Proviant hatten wir nur noch für zwei Tage und Geld hatte ich zu wenig mitgenommen, unsere Lage in Chaleb war außerdem viel zu unsicher, um größere Wagnisse zu erlauben. Ich beschloß daher, vorläufig den ursprünglichen Plan auszuführen und die Pilgerwanderung zu beenden und dann die Indusquelle zum Ziele einer neuen Exkursion von Chaleb oder schlimmstenfalls selbst von Gartok aus zu machen.
Am 4. September nahmen wir von den Mönchen in Diri-pu Abschied, überschritten auf einer Brücke den Fluß, der vom Paß Tseti-latschen-la im Transhimalaja, auf dessen anderer Seite das Wasser zum Indus geht, herabkommt, und stiegen dann über holprige, steile, mit Granitblöcken und Steinmalen dicht bedeckte Halden in östlicher Richtung bergan. Zu unserer Rechten haben wir den Fluß, der von den Gletschern des Kailas gespeist wird; er ist ganz kurz, aber sehr wasserreich. Immer abschüssiger wird der Pfad, der sich zwischen riesigen Granitblöcken hinschlängelt und nach einem ersten Buckel hinaufführt; von dort an ist das Terrain bis zum nächsten Absatz ein wenig ebener. Von hier aus haben wir einen prächtigen Blick über den kurzen, abgestutzten Gletscher, der, aus einem scharfbegrenzten, muldenartigen Firnbecken gespeist, von der Nordseite des Kailas ausgeht. Seine End-, Rand- und Mittelmoränen sind klein aber deutlich. Nach Osten hin geht vom Kailas ein außerordentlich scharf gezeichneter, spitziger, zackiger Felsrücken aus, dessen Nordseite Schnee bedeckt, und in dem Schnee sieht man Geröllbänder, die dieser ganzen Seite ein gerilltes Aussehen verleihen. Von allen Zipfeln des Eismantels und der Schneefelder eilen schäumende Bäche nach dem Flusse hinunter. Zu unserer Linken, im Norden, besteht das Gebirge aus vertikal zerklüftetem Granit in wilden, pyramidalen Formen. Der Kailas wird also im Norden durch mächtige Granitmassen geschützt, aber daß der Berg selber allem Anscheine nach aus Konglomerat besteht, ergibt sich schon aus der beinahe horizontalen Schichtung, die infolge ihrer vorspringenden Leisten, scharf gezeichneten Schneelinien und Eisstreifen so deutlich erkennbar ist. Der Gipfel erhebt sich über diesem Meere wilder Berge wie ein ungeheuerer Bergkristall von sechseckiger Form.
Eine Gesellschaft armer Frauen und Kinder klimmt mühsam nach dem Paß hinauf (Abb. 272). Ein älterer Mann, der schon bei der neunten Umkreisung war, hatte nichts dagegen, sich uns anzuschließen; er kannte die Gegend und konnte Auskunft darüber geben. Auf einer neuen Anschwellung, Tutu-dapso genannt, sahen wir Hunderte von meterhohen Votivhaufen, einen wirklichen Wald von Steinpyramiden, der an einen Kirchhof mit unzähligen Grabmalen erinnerte.
272. Tibetische Pilgerinnen aus Kham auf der Wanderung um den Kailas.
Mühsam und langsam klimmen wir nach diesem anstrengenden Paß hinauf, einem der schwierigsten auf der ganzen Reise. Immer dichter liegen die Blöcke, ausschließlich Granit in allen möglichen Abarten, darunter auch rosiger und so hellgrauer, daß er beinahe weiß ist. Zwischen zwei Steinblöcken lag ein Kleiderbündel, das verdächtig aussah. Wir untersuchten es und fanden, daß es die Leiche eines Mannes enthielt, der auf der Wanderung um den Berg der Götter zusammengebrochen war. Seine Züge waren erstarrt, er sah arm und abgezehrt aus. Keiner wußte, wer er war, und wenn er Angehörige besaß, so würden sie es nie erfahren, daß seine Pilgerfahrt ihn direkt in neue Abenteuer in den dunkeln Irrgängen der Seelenwanderung gestürzt hatte.
An einem flachen Granitblock von kolossalen Dimensionen bleibt unser Alter stehen und erklärt, daß dies ein » Dikpa-karnak«, ein Prüfstein für Sünder sei. Unter dem Block läuft zwischen ihm und der Erde ein enger Tunnel durch. Wer ohne Sünde ist oder wenigstens ein gutes Gewissen hat, kann durch den Gang kriechen, wer aber in der Mitte stecken bleibt, ist ein Schurke! Ich fragte den Alten, ob es nicht vorkommen könne, daß ein magerer Schuft sich hindurchwinde, während ein dicker guter Kerl im Gang stecken bleibe, aber er erwiderte sehr ernsthaft, die Dicke habe nicht das geringste bei der Probe zu bedeuten, sondern der Erfolg hänge ganz allein von den seelischen Eigenschaften ab. Indessen muß unser ehrlicher Ische sich über die Gleichgewichtslage seines Gewissens doch nicht völlig klar gewesen sein, denn, ehe wir uns dessen versahen, sahen wir ihn unter dem Block verschwinden und hörten ihn pusten, keuchen und stöhnen, mit den Händen kratzen und nach hinten mit den Füßen Halt suchen. Als er aber lange und tüchtig drinnen gezappelt hatte, fand er sich schließlich doch veranlaßt, mit halberstickter Stimme um Hilfe zu rufen. Wir lachten, daß wir nicht mehr auf den Beinen stehen konnten, ließen ihn aber seiner nun offenbaren Sündhaftigkeit wegen noch eine Weile im Loche sitzen. Dann zogen die beiden anderen ihn an den Hinterbeinen wieder heraus, und er sah außerordentlich verdutzt und staubig aus, als er jetzt als demaskierter Schurke wieder in die Außenwelt trat! Der Alte erzählte uns, daß einmal eine Frau so gründlich festgesessen habe, daß man sie buchstäblich habe ausgraben müssen.
Etwa 200 Schritt weiter in diesem Irrgang gewaltiger Granitblöcke, zwischen denen man wie in Gassen mit niedrigen Häusern und Mauern einhergeht, gibt es noch einen Prüfstein anderer Art. Er besteht aus drei Steinblöcken, die so aneinandergelehnt stehen, daß zwischen ihnen zwei Höhlungen sind. Es handelt sich nun darum, durch die linke Höhlung zu kriechen und durch die rechte zurückzukommen, also in der orthodoxen Richtung. Hier machte Ische seine ebenerlittene Niederlage aber dadurch wieder gut, daß er durch beide Löcher schlüpfte! Ich sagte ihm freilich, daß dies wahrhaftig keine Kunst sei, da die Löcher so groß seien, daß sogar kleine Yaks hindurchgehen könnten! Indessen hat der Sünder in diesem zweiten Prüfstein eine Reserve, um wenigstens den Schein eines guten Gewissens zu retten!
Unsere Wanderung um den Kang-rinpotsche, den »heiligen Berg« oder »das Eisjuwel«, ist eine meiner merkwürdigsten Erinnerungen aus Tibet, und ich verstehe es gut, daß die Tibeter ein göttliches Heiligtum in diesem wunderbaren Berge sehen, der in seiner Form eine so auffallende Ähnlichkeit mit einem Tschorten hat, jenen Denkmalen, die zur Erinnerung an entschlafene Heilige im Inneren und an der Außenseite der Tempel errichtet werden. Wie oft hatte ich auf unseren Irrfahrten schon von diesem seligmachenden Berg erzählen hören! Und nun wanderte ich selbst im Pilgergewand auf dem Weg zwischen den Klöstern, die wie Edelsteine in einem Armband in der Bahn der Wallfahrer um den Kang-rinpotsche, diesen Finger, der nach »hohen Göttern, sternengleichen, im unerreichten Weltenraum« hinaufzeigt, gefaßt sind.
Aus dem Bergland Kham im äußersten Osten, aus Naktsang und Amdo, aus dem unbekannten Bongba, dessen Existenz mir nur dunkel vom Hörensagen bekannt war, aus den schwarzen Zelten, die gleich den Flecken eines Leopardenfells in Tibets öden Tälern zerstreut liegen, aus Ladak in den Bergen des fernen Westens und aus den Himalajaländern im Süden kommen alljährlich Tausende von Pilgern hierher, um in tiefer Meditation zu Fuß langsam die vier Meilen um den »Nabel der Erde«, den Berg der Seligkeit, zurückzulegen. Ich sah ihren schweigenden Zug, ihre gläubigen Scharen, unter denen alle Lebensalter und Geschlechter vertreten waren, Jünglinge und Mädchen, kräftige Männer mit Weib und Kind, Greise, die vor ihrem Tode noch der Spur der unzähligen Pilger folgen wollten, um sich ein glücklicheres Dasein zu erschließen, zerlumpte Kerle, die wie Schmarotzer von der Barmherzigkeit der anderen Pilger lebten, Schurken, die ein Verbrechen abzubüßen hatten, Räuber, die friedliche Wanderer ausgeplündert hatten, Häuptlinge, Beamte, Hirten und Nomaden, ein bunter Zug dunkler Menschengeschicke auf dem dornenvollen Weg, der nach grenzenlosen Zeitaltern in der großen, stillen Ruhe des Nirwana endet! Hoch und würdevoll blicken Schiwa aus seinem Paradies und Hlabsen aus seinem Juwelenschlosse auf die unzähligen Menschen herab, die, wie die Asteroiden die Sonne, den Fuß des Berges in immer neuen Scharen hinauf durch das westliche Tal, über den Dolmapaß und hinab durch das östliche, umkreisen.
Man kommt bald dahinter, daß die meisten dieser einfachen Wanderer nicht einmal einen klaren Begriff von den Vorteilen haben, die dieser Spaziergang ihnen bringen wird. Fragt man sie danach, so antworten sie gewöhnlich, daß sie nach ihrem Tode in der Nähe des Gottes des Gangri sitzen dürfen. Woran sie aber alle steif und fest glauben, das ist, daß die Wanderung ihnen auf Erden zum Segen gereichen wird. Sie wendet alles Böse von ihren Zelten und Hütten ab, hält ihnen selber, ihren Kindern und Herden Krankheiten fern, schützt sie vor Räubern, Dieben und Verlusten, schenkt ihnen Regen, gutes Weidegras und Vermehrung der Yaks und der Schafe, ist wie ein Talisman und beschirmt sie und ihr Eigentum ebenso, wie die vier Geisterkönige die Götterbilder der Tempelsäle vor den Dämonen schützen. Sie gehen leichten, elastischen Schrittes dahin, sie fühlen weder die schneidenden Eiswinde noch die Glut der Sonne; jeder Schritt ist ein Glied einer Kette, die von den bösen Mächten, die die Menschenkinder verfolgen und quälen, nicht zerrissen werden kann. Sie beginnen ihre Bahn bei Tartschen-labrang, und jede neue Wegbiegung führt sie dem Punkt, der den Ring schließt, einen Schritt näher. Und während der ganzen Umwanderung beten sie » Om mani padme hum« und lassen jedesmal, wenn dies Gebet gesprochen ist, eine Kugel des Rosenkranzes durch die Finger gleiten. Aber auch der Fremdling nähert sich dem Kang-rinpotsche mit Ehrfurcht. Es ist der unvergleichlich berühmteste Berg der Erde. Der Mount Everest und der Montblanc können sich an Berühmtheit nicht mit ihm messen. Dennoch gibt es Millionen Europäer, die nie vom Kang-rinpotsche gehört haben, aber ein Viertel aller Menschen, die Hindus und die Buddhisten, die keine Ahnung davon haben, wo der Montblanc seinen Scheitel erhebt, kennen alle den Kailas! Daher nähert man sich ihm mit demselben Respektgefühl, das man in Lhasa, Taschi-lunpo, Buddha Gaya, Benares, Mekka, Jerusalem und Rom empfindet, jenen heiligen Orten, die unzählige Scharen Schuldbewußter oder Wahrheitssucher nach ihren Altären hingezogen haben.
Unser freiwilliger Führer erzählte, daß er gerade bei seiner neunten Umkreisung des Berges sei. Er brauche zu jeder zwei Tage. Und er werde dreizehnmal um den Berg herumgehen. Er nannte die Strecke »Kang-kora«, den Gangrikreis. Vor vielen Jahren hatte er sogar einmal die verdienstliche Handlung ausgeführt, die »Gjangtschag-tsallgen« genannt wird und die darin besteht, daß man die Länge des Weges mit der Länge seines eigenen Leibes ausmißt. Eine einzige solche Umwanderung ist ebensoviel wert wie dreizehn gewöhnliche Umkreisungen zu Fuß. Meine Wallfahrt aber gelte überhaupt nicht, weil ich beritten sei, meinte der Alte, ich müsse wenigstens zu Fuß gehen, wenn ich irgendwelchen Nutzen davon haben wolle!
Als wir uns einige Tage später zum zweitenmal Diri-pu näherten, erblickten wir zwei junge Lamas, die die Niederwerfungswanderung um den Berg gerade ausführten. Sie waren aus Kham, und zwar aus der Gegend dieses Landes, »wo die letzten Menschen wohnen«, und schon ein ganzes Jahr unterwegs, um nach dem Kailas zu gelangen. Sie waren arm und zerlumpt und hatten nichts zu tragen, da sie nur von frommen Gaben lebten. In neun Tagen waren sie von Tartschen nach Diri-pu gelangt und rechneten auf die noch fehlende Wegstrecke elf Tage. Ich begleitete sie eine halbe Stunde lang zu Fuß, um ihre Bewegungen zu studieren. Diese zerfielen in sechs Tempi. Denken wir uns den jungen Lama auf dem Pfade stehend, wobei er die Stirn ein wenig gesenkt hält und seine Arme schlaff an den Seiten herabhängen: 1. er legt die Handflächen zusammen und hebt sie nach dem Scheitel empor, indem er den Kopf etwas abwärts beugt; 2. er legt die Hände auf dieselbe Weise unter sein Kinn, wobei er den Kopf wieder aufrichtet; 3. er kniet auf der Erde nieder, beugt sich nach vorn und legt sich mit vorgestreckten Armen der Länge nach auf den Weg; 4. er fährt sich mit den zusammengelegten Händen über den Scheitel; 5. er streckt die rechte Hand, so weit er nur kann, nach vorn und kratzt mit einem Knochenstück ein Zeichen in den Weg, das die Linie bezeichnet, die beim nächsten Vorrücken von seinen Zehen berührt werden wird, und 6. er erhebt sich mit Hilfe der Hände und geht mit zwei oder drei Schritten nach dem Zeichen hin, um dort dieselbe Prozedur zu wiederholen. Und so geht es um den ganzen Berg herum!
Schnell geht es nicht; sie übereilen sich nicht, sie betreiben die Sache mit Gemütsruhe, werden aber doch atemlos, besonders auf dem Weg nach dem Paß hinauf. Und auch auf dem vom Dolma-la hinabführenden Weg gibt es Stellen, die so steil sind, daß es ein gymnastisches Kunststück sein muß, sich mit dem Kopfe voran hinzulegen. Einer der beiden jungen Mönche hatte schon eine Umkreisung ausgeführt und war jetzt bei der zweiten. Wenn er in elf Tagen fertig war, wollte er sich nach einem Kloster am Tsangpo begeben und sich dort für den Rest seines Lebens in einer Grotte einmauern lassen. Und er war erst zwanzig Jahre alt! Wir, die wir in unserer erhabenen Weisheit über diese Erscheinungen von Fanatismus und Selbstkasteiung lächeln, sollten einmal unseren eigenen Glauben mit dem ihrigen vergleichen. Das Leben jenseits des Grabes ist für alle Völker gleich dunkel, aber die religiösen Vorstellungen davon haben sich bei den verschiedenen Völkern in verschiedene Formen gekleidet. »Wenn du genau hinsiehst, so wirst du sehen, daß die Hoffnung, das Himmelskind, bei jedem Sterblichen mit zitternder Hand nach den dunkeln Höhen hinaufzeigt.« Welche Überzeugung wir auch haben mögen, wir müssen diejenigen doch bewundern, die zwar unserer Ansicht nach auf Irrwegen gehen, aber einen so starken Glauben besitzen, daß er Berge versetzen kann!