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Um sechs Uhr wurde ich geweckt und hatte keine Nachtkälte verspürt, da die Minimumtemperatur auf +4,4 Grad geblieben war. Der Morgen war herrlich, nur viel zu heiß; die Pilger waren ihrer Wege gegangen, wir frühstückten, setzten das Boot wieder ins Wasser und ruderten nun etwa 80 Meter vom Ufer entfernt nach Nordnordosten und Nordnordwesten, bis zum Lager Nr. 214 hin einen schwachen Bogen beschreibend. Linker Hand hatten wir eine Reihe Geröllhügel, die langsam nach den Höhen der Landenge ansteigen, die den Manasarovar vom Rakas-tal trennt.
Bald trat das Kloster Gossul-gumpa hervor, das auf seiner gegen 40 Meter hohen Geröllterrasse wie ein Schwalbennest über dem See hängt. Dort stand eine Gruppe Lamas, die schweigend das Boot betrachteten; eine solche Erscheinung hatten sie in ihrem Leben noch nie auf dem heiligen See gesehen. Als wir uns näherten, verschwanden sie wie Mäuse in ihren Löchern; nur ein alter Mann blieb auf einer Balustrade sitzen. Ich fragte ihn, wie das Kloster heiße, und er antwortete: »Gossul-gumpa«. Die nächste Landspitze verdeckte das Kloster. Aber die Uferlagune setzte sich fort, obwohl der Ufersaum am Fuß der Hügel nur 10-20 Meter breit war. Der Ton, auf dem die Lagune steht, ist für Wasser undurchdringlich, der See braucht aber nur ein paar Fuß zu steigen, um durch darüberliegende Sandlager einen Abfluß nach dem Rakas-tal oder Langak-tso im Westen zu finden. Auch wenn der Kanal an der nordwestlichen Ecke wie jetzt verstopft ist, hat der Manasarovar einen unterirdischen Abfluß nach dem Nachbarsee, und sein Wasser bleibt folglich vollkommen süß.
Ich hatte jetzt die Absicht, auf einer geeigneten Stelle ein wenig weiter nordwärts zu lagern, und von dort aus am folgenden Tag wieder über den See nach dem Hauptquartier bei Serolung-gumpa zu rudern. Ich bestimmte als Ziel einen zinnoberroten Hügel, der auf der Nordseite einer wenig eingeschnittenen Bucht des Westufers lag. Frische südliche Brise herrschte, wir hißten das Segel und flogen mit sausender Geschwindigkeit über den See. Die Pilger am Ufer sahen unserer Fahrt mit dem größten Erstaunen zu; die Mönche von Gossul waren uns vorsichtig auf den Hügeln nachgekommen und zerbrachen sich wohl den Kopf über das Ende, das eine solche Heiligtumsentweihung nehmen mußte. Auch die Wildgänse schwammen mit ihren Jungen eilfertig in den See hinaus, andere Schwimmvögel wieder begaben sich einige hundert Meter landeinwärts – sie hielten das Boot wohl für einen sonderbaren Seevogel von ungewöhnlichen Dimensionen.
Bei der roten Spitze gingen wir an Land, und während Brennmaterial gesammelt und das Nachtlager hergerichtet wurde, rekognoszierte ich auf den oberhalb des Landungsplatzes liegenden Höhen die Gegend. An der inneren Seite der flachen Bucht fand ich eine Mulde, deren Boden tiefer liegt als der Seespiegel und die mit salzigem Wasser gefüllt ist, und auf der Westseite dieses Salzsumpfes ist der niedrigste Sattel der Landenge, die beide Schwesterseen trennt. Droben zieht sich die Pilgerstraße hin, die Hunderttausende von müden Schritten ausgetreten haben. Drei bewaffnete Reiter ritten den Weg entlang. Sie näherten sich mir, ohne abzusteigen, und wußten entschieden nicht, was sie aus mir machen sollten. Sie hätten mich jetzt, da ich von den Meinen getrennt war, leicht fangen können, aber sie dachten gar nicht daran und ritten weiter. Ein rasender Südoststurm fuhr über den See hin; sein Spiegel geriet in wilden Aufruhr und zeigte kreideweiße Schaumkämme. Der hintere, östliche Teil des Sees war intensiv dunkelgrün, wurde aber nach unserem Westufer zu immer heller. Das Wasser der Uferlagunen erschien durch den Widerschein der dichten Wolkenmassen dunkelviolett. Gegen vier Uhr wurde die Luft beängstigend ruhig, dann sprang der Wind um, und ein ebenso heftiger Nordweststurm kam mit Sausen und Brausen herangezogen. Die wilden Südostwellen wurden von ihm gedämpft, und der Seegang blieb so lange unbestimmt, bis das neue Wellensystem fertig war. Um den See herum regnete es an mehreren Stellen, aber wir bekamen nur einige Tropfen. Um sechs Uhr sah der Himmel unheimlich aus, überall pechschwarze Wolken und vom Ostufer keine Spur sichtbar; es war, als lägen wir an der Küste des Weltmeers. Bald darauf sprang der Wind nach Ostsüdost um, und dann toste die Brandung den ganzen Abend gegen unser Ufer. Welch ein Glück, daß wir dieses Wetter nicht gestern abend gehabt hatten!
Wir saßen noch zwei Stunden am offenen Feuer und plauderten. Seine Flammen flackerten und loderten nach allen Seiten hin, so daß Schukkur Alis weißer Ziegenbart angesengt wurde. Das Wetter war noch immer so drohend, daß wir aus dem Boot eine Hütte herstellten, in der ich mich früh schlafen legte. Vor dem Einschlafen lauschte ich im Liegen dem Rauschen der Wellen und glaubte alle möglichen geheimnisvollen Töne in der Nacht zu hören; aber es war nur das Geschrei der Seevögel und das Heulen des Windes zwischen den Hügeln.
Die Männer hatten Befehl, mich vor Sonnenaufgang zu wecken, denn, falls wir das Lager 212 noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder erreichen wollten, mußten wir uns sputen. Es war kaum hell geworden, als ich ins Freie trat. Beim Morgenfeuer wurde der letzte Proviant als Frühstück verzehrt, und dann stießen wir um einhalbfünf Uhr in trübem, häßlichem Wetter vom Lande ab. Der starke Westwind trieb uns schnell vom Ufer fort, ja, er war eigentlich viel zu stark für unser Segel und unsern Mast, aber er brachte uns doch vorwärts und verdoppelte die Fahrgeschwindigkeit. Unter den Hügeln hatten wir noch Schutz gehabt, aber schon einige Minuten vom Ufer ging der See ungemütlich hohl. Das machte jedoch wenig aus, wir fuhren ja mit den Wellen, das Boot schaukelte weich und behaglich zwischen ihnen, und wir nahmen kein Spritzwasser ein.
Jetzt war auch in den Leuten ein anderer Zug als auf der ersten, nächtlichen Fahrt! Sie hatten sich sichtlich in den Kopf gesetzt, das Ziel noch vor der Dunkelheit zu erreichen, sie ruderten wie Galeerensklaven, über denen die Peitsche schwebt; es war, als wollten sie mit dem Westwind um die Wette laufen und sich schnell davonmachen, ehe die Wogen gar zu toll anschwollen. Das Wasser zischte und schäumte um das Boot, im Kielwasser siedete es mit Tönen, wie man sie beim Bräunen der Butter in einer Bratpfanne hört, und unter uns kochte der dunkelgrüne See. Es war eine schöne Fahrt, als wir so in sausender Eile über seine heiligen Wellen hinschaukelten.
Schukkur Alis Refrain zu den Ruderschlägen lautete jetzt: » Ja, paté, parvardigar, Rabel alehmin« oder » Ilallah«, während Rehim Ali den Ausruf des Kameraden » Haap« – das p kam am Ende so schnell und laut wie eine Explosion heraus – mit dem Refrain: » Ilallah« oder » Svalallah« sekundierte. Die arabischen Worte waren, wie gewöhnlich in Ladak, bös verstümmelt, aber sie erleichterten das Rudern, und nachdem Schukkur Ali neun Stunden lang fünfunddreißigmal in der Minute so laut gerufen, als es seine Stimmbänder nur irgend erlaubten, war er abends denn auch gründlich heiser.
Jetzt wurde gelotet: 40, 52, 52, 54, 54, 56, 57 und 54 Meter. Wenn man erst über die Abrasionsterrassen und ihre ziemlich steile Abdachung hinausgekommen ist, dann ist der Seeboden so gut wie eben. Auf mehreren Seiten verkünden niederhängende Wolkenfransen, daß der Regen wie Gerten niedersaust, aber wir bleiben von ihm verschont. Meine prächtigen Matrosen rudern doppelt so schnell als in der ersten Nacht, aber sie dazu zu bringen, daß sie im Takt rudern, ist unmöglich. Wenn ich das Steuer eine Minute loslasse, treibt mein Boot nach Norden oder Süden, anstatt nach Osten, wo das Lager 212 liegt. Wenn es dunkel wird, ehe wir das Ufer erreichen, sollen die Unseren einen flammenden Holzstoß anzünden, nach dem wir uns richten können.
Der Tag verrinnt, es wird im Zenit hell, der Wind fegt die Wolken fort, und sie scheinen sich um die Berge zu sammeln, die einen großartigen Kranz um diese Perle unter den Seen der Erde bilden. Der Wind flaut nun ganz ab, die Sonne brennt auf meinem vom Wetter hart mitgenommenen Gesicht, und es strengt den Kopf an, wenn einem das funkelnde Gold der Sonnenstrahlen gerade in die Augen scheint. Sie macht durch ihr Blenden auch über das Ziel irre, aber ich habe den Kompaß zur Hand. Die Wellen fallen und werden schlaffer, und der See ist wieder spiegelblank. Jetzt geht es langsamer, da der Wind nicht mehr von hinten schiebt, aber die Männer ermüden nicht; ihr Ruderlied verhallt ungehört auf dem Wasser und sucht vergeblich sein Echo. Von einer Stelle, an der gelotet wird, bis zur nächsten vergrößern sich die Hügel des Ostufers nicht merklich. Ich sitze träumend, der rhythmische Gesang und das Plätschern der Ruder wirken einschläfernd. Ich glaube die Hufschläge eines Rosses zu hören, das einen Reiter in silberner Rüstung über die Granitberge des Transhimalaja durch ein unbekanntes Land trägt, und im Traum glaube ich zu gewahren, daß die Gesichtszüge des Reiters meine eigenen sind. Da werde ich traurig, denn das Traumgesicht ist unwahr. Wohl habe ich den Transhimalaja auf drei Pässen überschritten, aber das wichtigste ist noch nicht geschehen! Daß ich sowohl bei den Tibetern wie bei den Chinesen alles, was in meiner Macht stand, versucht habe, um in das Land im Norden des oberen Tsangpo ziehen zu dürfen, ist mir kein Trost. Wenn man die hindernden Bollwerke der Natur besiegen kann, müßte man auch den Eigensinn der Menschen bezwingen können. Dort droben im Norden, hinter dem Kailas, streckt der Transhimalaja seine Granitwälle aus, ich muß hin und sollte es mein Leben gelten! Ich muß hin, und wenn ich mich auch in die Lumpen eines Bettellamas kleiden und mich von einem schwarzen Zelt nach dem andern hinbetteln soll!
Doch jetzt sind wir noch auf dem heiligen See, es ist Ruhetag und ein Sommertag! Ich fühle, wie mir die Gesichtshaut im Sonnenbrand einreißt. Die Stunden kriechen so langsam über den See! Geduld, Geduld! Die Wolken erzeugen wundervolle Farbenwirkungen; weiß und grau, scharf begrenzt, liegen sie in verschiedenen Etagen vor den Bergen, und hinter ihnen glaubt man dunkelblaue und violette Vorhänge herabhängen zu sehen. Es war, als glitten wir über den blanken Fußboden eines Tempelsaales, dessen Wände reich mit Fahnen und Standarten dekoriert seien, die von goldenen Haken an der Himmelsdecke herabhingen und mit ihren Fransen den Staub der Erde berührten. Es war, als ob die Genien das Paradies Schiwas umflatterten.
Jetzt ist Schukkur Ali auf einen neuen Ausruf » Ja aferin adétt« verfallen, dem er, wenn er das Ruder wieder hebt, den Refrain » Ja, Allah« hinzufügt, wozu dann Rehim Alis Filialrefrain » Schupp« ertönt. Die Tiefe bleibt immer noch um 55 Meter herum. Im Südosten spiegeln sich eigentümliche Wolken im See; es sieht aus, als ob ein Nebeldunst über das Wasser krieche. Alle Töne sind so leicht, luftig und hellgrau, daß man die Landschaft, die uns, wo das Wasser endet, wie ein Ring umgibt, kaum als Wirklichkeit auffassen kann. Sie gleicht einem Traumbild. Die geringe Dünung, die noch vorhanden war, hat sich gelegt, und es ist so vollständig windstill, daß der Rauch meiner Zigarette genau da, wo er ausgestoßen wurde, in der Luft stehen bleibt. Dunkel und feierlich erhebt sich der zweiköpfige Pundiberg im Nordosten, und ebenso dunkel und feierlich ist sein Spiegelbild im See. Silberperlen tropfen von den Rudern und spielen glitzernd wie Diamanten in der Sonne. Ich könnte auf diesem himmlischen See leben und sterben, ohne seiner staunenerregenden, immer wieder überraschenden Schauspiele je überdrüssig zu werden!
Eine leichte südöstliche Brise zerstört indessen dann wieder alle die Spiegelbilder. Die Täler Patschen und Patschung öffnen ihre Tore immer weiter und lassen uns immer tiefer in die Schlupfwinkel des Gebirges hineinblicken. Wir erkennen die Hügel über dem Lager 212 wieder, aber die Zelte sind nicht zu sehen. Dagegen sehen wir auf dem Nordufer einen weißen Punkt, den wir für ein Gumpa halten. Die Tiefe beträgt etwas mehr als 60 Meter. » Ja Bismillah hum« ist jetzt Schukkur Alis Losung. Beim 16. Punkt hat die Tiefe wieder abgenommen, die Südostbrise hat aufgehört und der See sich in eine Spiegelscheibe verwandelt. Jetzt zeigen sich die Zelte als minimale Pünktchen, und wir hoffen, auch diese Linie ohne Sturm abschließen zu können. Eine langgestreckte, niedrige, blanke Dünung von dicht aufeinanderfolgenden Wellen, wie die Schlagwellen eines entfernten Dampfers, kommt uns entgegen. Wie ist sie nur entstanden, da der See ja ganz ruhig liegt – vielleicht durch eine kleine Erschütterung der Erdrinde, die das Ufer hat erzittern lassen? Der Wellengang ist auf diesem runden See gar seltsam. Am Punkt Nr. 20 ergeben sich nur 39 Meter Tiefe, und nun haben wir es nicht mehr weit.
Krach! Mit einem Knall brach Schukkur Alis Ruder in der Mitte durch, und das Boot entfernte sich schnell von dem Blattende, das wir doch wieder auffischen mußten. Der gute Mann war so verdutzt und bestürzt, daß er stammelte: »Das schadet nichts« und fortfuhr, mit dem Schafte in der Luft zu rudern. Jetzt, wo die Zelte so nahe waren, hatte er zu viel Kraft entwickelt! »Ein Glück, daß der Alte nicht selber geplatzt ist!« dachte ich. Mit einem Strickende banden wir die Stücke aneinander. Am Ufer war Leben, als wir landeten! Die Wartenden waren sichtbar und hörbar erfreut, uns wiederzuhaben, nachdem sie sich schon alle möglichen trüben Gedanken über unser trauriges Ende gemacht hatten. Gerade als sie das Boot draußen auf dem See erblickt hatten, hatte Robert Patrouillen nordwärts und südwärts am Ufer entlang schicken wollen. Im Lager stand alles gut, nur unsere Tibeter waren betrübt, denn ihr Proviant war aufgezehrt. Ich gab ihnen daher Geld, damit sie sich im Kloster Tsamba kaufen könnten. Und am Abend besprach ich mit Robert den Plan, nach Süden zu rudern, um den See Stück für Stück zu untersuchen. In Serolung kauften wir ein Brett und zwei Stangen, und während des ersten Ruhetages verfertigte Schukkur Ali daraus mit der Axt zwei vortreffliche Ruder nach einem Modell, das ich ihm aus dem Deckel einer Zigarrenkiste geschnitzt hatte.
Am nächsten Tag, dem Jahrestag unserer Ankunft in Leh, begann ein neuer Monat. Jedesmal, wenn ich in mein Tagebuch einschrieb »der Erste«, fragte ich mich, was der neue Monat wohl in seinem Schoße bergen werde: neue Entdeckungen oder neue Enttäuschungen? Aber ich hoffte stets und glaubte, daß ich schließlich doch Glück haben würde. Rabsang und Tundup Sonam ruderten, Robert steuerte, einer Einmeterlinie mit etwa 50 Meter Abstand vom Lande folgend; ich selber saß im Vorderteil mit dem Kompaß in der Hand und zeichnete die Karte der Uferlinie, ihrer Hügel und Täler und alles dessen, was sonst noch zur Charakteristik eines Sees gehört. Charles A. Sherring berichtet in seinem Buch über Westtibet, daß der Commissioner von Bareilly, Mr. Drummond, im Jahre 1855 in einem Boot auf dem Manasarovar gefahren sei, aber irgendwelche Resultate sind mir nicht bekannt geworden; ich fand im Gegenteil, daß auch die allerneueste Karte des Sees gründlicher Richtigstellung bedurfte. Tiefenlotungen aber waren bisher noch nie vorgenommen worden, und der Zweck meiner Fahrten war das Sammeln von Material zu einer detaillierten Isobathenkarte, einer Karte, auf der konzentrische Linien die Tiefen und die Gestalt des Seebeckens angeben. Schon als wir auf dem Tamlungpaß das Becken des Brahmaputra hinter uns zurückließen, hatte ich geargwöhnt, daß der Manasarovar vielleicht ein Glied des hydrographischen Systems des Satledsch sei. Und jetzt galt es zu versuchen, ob ich nicht einen Beitrag zur Lösung dieses Problems liefern könne. Ich weiß, daß meine Untersuchungen unzureichend sein mußten, aber sie gaben doch eine Anzahl bisher unbekannter Tatsachen. Dahin gehörten die systematischen Tiefenlotungen des Sees, mit deren Hilfe man Schlüsse über die Entstehung und Bildung des Beckens ziehen kann. Bald überzeugte ich mich, daß die Seedepressionen von alten Gletschern der südlichen Gebirge ausgehöhlt und nicht, wie ich erst geglaubt hatte, von Moränenwällen in dem breiten Tal aufgedämmt worden sind. Aber der Mangel an Raum verbietet mir, hier ausführlich auf diese höchst interessanten Fragen einzugehen.
Inzwischen gleiten wir in einem schwachen Bogen nach Südwesten und müssen den Abstand vom Ufer vergrößern, um nicht in dem sandigen Seeboden stecken zu bleiben. Das Wasser hat in dieser Jahreszeit die ziemlich beständige Temperatur von etwa 10 Grad. Nun erreichten wir die Mündung des Tage-tsangpo. Wohl einen Kilometer lang strömt der Fluß mit dem Seeufer parallel, wird aber von ihm durch einen vier Meter hohen Uferwall, den Wellen und Eisdruck aufgeworfen haben, getrennt. Hier lagerten wir zwischen Flugsand und Gesträuch, und ich maß den Tage-tsangpo. Seine Breite belief sich auf 17,3 Meter, seine Maximaltiefe war 1,05 Meter, und die Wassermenge betrug 11,26 Kubikmeter in der Sekunde, oder drei Kubikmeter mehr als an der Stelle oberhalb seines Nebenflusses Na-marden, wo ich ihn zuletzt gemessen hatte. Ich habe schon früher erwähnt, daß wir auf dem Tamlung-la zuerst mit diesem Fluß in Berührung kamen, dessen Quellarm Gang-lung-tschu oder »das Wasser des Eistales« von den Gang-lung-bergen im Süden kommt. Also ist die Quelle des Tage-tsangpo ein Gletscher oder »Eistal« jenes Gebirges. Man sieht ihn vom Tam-lung-la aus. Dieser Gletscher ist es, den ich mir erlaube die genetische Quelle, das heißt die ursprüngliche, wirkliche Quelle des Satledsch, zu nennen. Später werden wir auf dieses verlockende Problem noch zurückkommen.
Von jedem Lagerplatz aus mußte Robert mit zwei Leuten rechtwinklig vom Ufer hinausrudern und alle fünf Minuten die Tiefe messen. Auf Grund dieser Radien ergab sich die Schalenform des Beckens. Denn, wie ich schon erwähnt habe, ist der Seegrund im ganzen sehr eben. Jetzt, vom Lager Nr. 215, ruderte Robert bis zu 37 Meter Tiefe hinaus.
Am 2. August fuhren wir im Boot weiter, während die Karawane am Ufer entlang zog. Alles lief vortrefflich ab, wir hatten keinen Ton von irgendwelchen uns verfolgenden Beamten gehört, und die Tibeter stellten uns mit größter Bereitwilligkeit Yaks und Esel zur Verfügung. Ein paar Regenschauer fielen, der Donner rollte laut im Gurla Mandatta, eine heftige Südwestbrise zwang uns, haltzumachen und an einer Stelle des Ufers zu warten, wo das Nima-pendi-Tal mit einem Bach mündet, der innerhalb einer durchbrochenen Barre ein Delta bildet. Der Bach ist sehr fischreich, aber auch hier baten die Tibeter uns, die Fische nicht zu fangen, und wir respektierten ihre Wünsche – nur Dummheit und Roheit kränkt die religiösen Gefühle anderer Menschen. Durch diesen Bach erhält der See einen Zuschuß von 1,4 Kubikmeter in der Sekunde, während der westsüdwestlich von diesem Bach mündende Ri-tschung-tschu ihm 1,8 Kubikmeter liefert.
Unter Segel passierten wir Janggo-gumpa in ziemlich kurzem Abstand und steuerten gerade auf Tugu-gumpa zu, das malerisch auf einer Uferterrasse liegt. Hier beginnt die lange Lagune und der Schlammdamm, die wir vom Westufer her kennen; ich wurde hübsch ans Land getragen und von einer Hinduschar, die aus Pilgern und Wollhändlern bestand, höflich begrüßt. Eine Menge tibetischer Hirten aus dem Norden hielt sich auch hier auf, wo jeden Sommer ein nicht unbedeutender Wollmarkt abgehalten wird. Auf dem Dach stand eine Gruppe von Mönchen; unser Lager war unmittelbar am Fuß des Klosters auf der Uferstraße aufgeschlagen worden und hatte eine herrliche Aussicht auf den See und den dahinterliegenden Kailas. An der südlichen Klosterwand ist ein von einer Steinmauer umgebener Hof, wo 500 Schafe eng, wie Heringe in einer Tonne, standen, um der Reihe nach von Hindus und Botias, die aus Almora und dem Grenzland im Süden hierherkommen, geschoren zu werden (Abb. 253). Die Nomaden erhalten acht Anna (69 Pfennig) für jedes Schaf, also gute Zinsen von ihrem lebenden Kapital. Die Wolle, die man von 500 Schafen erhält, soll 16 Yaklasten ausmachen.
253. Schafschur in Tugu-gumpa am Manasarovar.
Ich besuchte sofort das Kloster, dessen 13 Mönche mit dem Abt Tabga Rintschen an der Spitze mich mit der größten Höflichkeit und Freundlichkeit empfingen, uns alles zeigten und die verschiedenen Tempelsäle erklärten. Sie hatten von meinen Fahrten über den See reden hören und mich nun mit eigenen Augen bei günstigem Wind mit dem Boot heransausen sehen, und erklärten mir mit aufrichtiger Überzeugung, daß ich, ihrer Meinung nach, über geheime Kräfte verfügen müsse, da ich dem heiligen See des Seegottes ungestraft trotzen könne. Aber sie begriffen, daß dies ginge, weil ich so befreundet mit dem Taschi-Lama sei und er mir seinen heiligen Segen mitgegeben habe. Das Kloster Tugu-gumpa steht unter Schibeling-gumpa in Purang, und die meisten Mönche kommen von dorther, um drei Jahre am See zu bleiben. Sie besitzen Herden in Tschang-tang, treiben Handel und scheinen wohlhabend zu sein, wenigstens helfen sie armen Pilgern, die auf ihrer Wanderung um den Tso-mavang nichts zu essen haben. Von wohlhabenden Pilgern erhalten sie selber Geschenke. Die Tempelsäle sind pittoresk, vornehm und sehr gut erhalten (Abb. 254, 255, 257). Von einem oberen Altan tritt man in eine Vorhalle mit Wandgemälden, unter denen sich auch ein Bild des Tso-mavang mit dem aus den Wellen aufsteigenden »Fischgott« Madö Gemo befindet. Im Haar hat er sieben Wasserschlangen, und sein Unterkörper gleicht einem grünen Delphin. Der See ist ebenso breit als tief gezeichnet, und da, wo der Gott emporsteigt, bilden sich konzentrische Ringe. Der Abt sagte, daß der Fischgott heraufkomme, um den Gott des Tso-mavang, Hlabsen Dortsche Barva, zu begrüßen, der in einer Wolke von grauen Feuerzungen und Rauch auf einem hellrosa Pferde im Galopp heransprengt, mit Speer, Bogen und Köcher bewaffnet. Im Hintergrund erhebt sich der Kang-rinpotsche, der heilige Berg. Dem Bild fehlt es an Perspektive und Proportion, aber es ist drollig und ansprechend, und man freut sich des lamaistischen Künstlers, der sein Bestes getan hat, um den heiligen See und den heiligen Berg in Farben zu verherrlichen. Ich kopierte dieses Kunstwerk (Abb. 259), dem einige Verwandtschaft mit unseren alten Dalmalereien immerhin nicht abzustreiten ist.
254. Tempelsaal, Lhakang, in Tugu-gumpa. Skizze des Verfassers.
255. Tempelinneres in Tugu-gumpa.
Skizze des Verfassers.
257. Tschenresis Bild in Tugu-gumpa. Skizze des Verfassers.
259. Der Gott des Tso-mavang zu Pferd, von dem aus den Wellen des Sees emporsteigenden Fischgotte begrüßt, links im Hintergrund der heilige Berg Kang-rinpotsche.
Flüchtige Skizze des Verfassers nach einem Wandgemälde in Tugu-gumpa.
Von der Vorhalle führt eine Miniaturtür (Abb. 260) in das allerheiligste Tempelnest in ganz Tugu-gumpa, nämlich in den Saal des Seegottes. Er ist nur als Maske dargestellt und überall von Kadachs umrahmt; es sieht aus, als luge er zwischen zwei Gardinen hervor. Vor ihm brennen ein paar Flammen, auf einem Schemeltisch sind die gewöhnlichen Schalen aufgestellt. Kein anderer Mensch als die Mönche selber darf in diese kleine Kammer hinein, doch erhielt ich die Erlaubnis, auf der Schwelle zu sitzen und eine Skizze davon zu zeichnen (Abb. 261). Ich betrachtete diesen unbekannten Hlabsen Dortsche Barva beinahe mit Ehrfurcht, er herrschte ja über den See meiner Sehnsucht und war mir so aufrichtig gewogen gewesen.
260. Lama vor der Tempelpforte in Tugu-gumpa.
Skizze des Verfassers.
261. Tempelsaal des Seegottes des Tso-mavang.
Skizze des Verfassers.
Das Allerschönste ist jedoch die Aussicht vom Klosterdach. Die höchsten Partien des Gurla Mandatta, den sie hier Mama-nani oder Mamo-nani nannten, werden von den Abhängen des Gebirges verdeckt, da wir ihm hier viel zu nahe sind, aber der spiegelnde See dehnt sich unendlich weit nach Norden aus. Ein Lama, der in mehreren verschieden langen Zwischenräumen im Kloster gedient hatte, sagte, der See steige nach einem regnerischen Sommer 60–70 Zentimeter, und behauptete, daß vor 18 Jahren die Seefläche bis an den Fuß der roten Fassade des Klosters gereicht habe. Dies klingt unwahrscheinlich, denn die Entfernung zwischen See und Kloster betrug jetzt 98,45 Meter, und der Fuß der Klosterfassade (die rechte Ecke, vom Ufer aus gesehen) lag 6,30 Meter über dem jetzigen Seespiegel; ich teile diese Werte aber mit, um einem künftigen Forscher Gelegenheit zur Feststellung zu geben, ob der See seit dem 2. August 1907 wieder gestiegen oder gefallen ist.
Die folgenden Tage brachte ich im Kloster zu, zeichnete Lamas bei verschiedenartigen Tempeldienstarbeiten (Abb. 258) und verliebte mich in dieses freundliche, hübsche Tugu-gumpa. Der Lama Punso, ein junger Mönch, wurde mein besonderer Freund und zeigte mir alles mit der unerschöpflichen Sachkenntnis eines geübten Museumsdieners. In der Klostervorhalle hatten sich in Gesellschaft der vier Geisterkönige drei Beamte des Devaschung häuslich eingerichtet, Matratzen, Bündel, Schemeltische, Säbel und Flinten lagen und standen in profaner Unordnung am Eingang zur Wohnung hoher Götter.
258. Lama mit Gebetstrommel.
Skizze des Verfassers.
Robert ruderte inzwischen vom Südufer hinaus und maß die Tiefen bis zur 63-Meter-Kurve. Am 5. August machten wir einen Besuch in Janggo-gumpa, das zehn Mönche und eine Nonne hat. Sie sagten mir, daß sie aus dem Lande Hor, im Norden des innersten Tibet, seien, und nennen sich daher Horpa, aber auch Dokpa; Tschangpa heißen die Nomaden in Tschang-tang. Der Abt ist aus Sekija-gumpa. Im »Gunkang« des Klosters, einer finsteren, unterirdischen Krypta (Abb. 256), hängen Masken, Kadachs, Trommeln, Speere und Flinten. Ich fragte, wozu die Mönche die Schußwaffen benutzten, da ihnen doch eines ihrer Fundamentaldogmen verbiete, ein Lebenslicht auszulöschen; sie erwiderten, daß mit diesen Flinten viele wilde Yaks erlegt worden seien, deren Fleisch Menschen als Nahrung gedient habe; die Flinten hätten deshalb einen Ehrenplatz im Kloster erhalten. Jamba Tsering, ein zweiundzwanzigjähriger Mönch, saß, das Haupt an eine hölzerne Säule gelehnt, stumm da und blickte zu dem spärlichen Licht empor, das durch das Impluvium in die Krypta fiel; ein Träumer, ein Sucher der verborgenen Wahrheit (Abb. 262). Neben ihm saß die runzelige Nonne; beide kamen in mein Skizzenbuch (Abb. 263). Der Fuß der Klosterfassade liegt genau 4,5 Meter über dem Seespiegel; der hinter dem Kloster nach dem See hinabströmende Fluß Ri-tschung-tschu hatte 1,76 Kubikmeter Wasser.
256. Krypta in Janggo-gumpa. Skizze des Verfassers.
262. Ein Träumer. Lama in Janggo-gumpa am Manasarovar.
Nach einer Skizze des Verfassers von T. Macfarlane gezeichnet.
263. Die alte Nonne in Janggo-gumpa am Manasarovar.
Skizze des Verfassers.
Janggo-gumpa war das dritte der acht Klöster des heiligen Sees, das ich besuchte; ich wollte sie alle ohne Ausnahme sehen. Und ich wollte all das Wasser messen, das sich in den See ergießt. Seine Menge wechselt von Tag zu Tag, je nachdem Niederschläge erfolgen oder die Sonne scheint; nur durch gewissenhafte Messungen werde ich von der Größe der Wassermasse, die sich während eines Sommertags in die klaren Wellen des Tso-mavang ergießt, einen Begriff erhalten können.