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Am heiligen Abend des Jahres 1905 hatte ich bei Mr. und Mrs. Grant Duff in der gastfreien englischen Gesandtschaft diniert, dann beim Grafen D'Apchier in der französischen Gesandtschaft soupiert und schließlich noch beim Grafen Rex in der deutschen Gesandtschaft Weihnachten gefeiert – alles in dem jetzt so unruhigen Teheran. Im folgenden Jahr hatte ich am selben Tag noch Muhamed Isa und Robert bei mir, und wir befanden uns in bewohnten Gegenden. Wie wenig ahnte ich heute, daß das alte Asien mir noch einen heiligen Abend bescheren, und ich am 24. Dezember 1908 mit einem Kreise heiterer, liebenswürdiger und intelligenter Japaner im fernen Mukden, wo vor einigen Jahren der Kriegsdonner über die Gräber der unsterblichen Mandschukaiser rollte, zu Tisch sitzen würde! In diesem Jahr aber, 1907, war ich ganz allein und mit zwölf Trabanten auf dem Weg nach meiner – Ukraine.
Der Morgen begann mit strahlendem Sonnenschein und windstillem Wetter, und die Karawane schritt langsam nach den Höhen des Dapsang hinauf, während ich und Kutus ihr in dem knarrenden Schnee nachkamen. Ich hatte Abdul Kerim befohlen, oben zu warten. Nachdem ich die Instrumente abgelesen und eine Höhe von 5428 Meter gefunden hatte, untersuchte ich mit dem Fernglas den Horizont – ein Gewirr beschneiter Berge. Nur nach Nordosten fiel eine breite Erosionsrinne allmählich ab, und ich entschied mich daher für diese Richtung.
»Jetzt verlassen wir die Kara-korum-Straße und reiten nach Osten«, sagte ich. »Folgt meinen Spuren, ich reite an der Spitze.« Die Männer machten erstaunte Gesichter; sie hatten sich nach den Gärten und Weintrauben Chotans gesehnt, und ich bot ihnen statt dessen die Granitblöcke und Schneefelder von Tschang-tang. Doch sie sagten nichts, sondern folgten stumm und geduldig meinen Spuren. Leicht war es diesmal nicht, den Lotsen zu spielen, denn das Land lag unter tiefem Schnee. Ich zeigte Kutus die Richtung, und er mußte vor meinem Pferde hergehen und die Tiefe des Schnees feststellen. Das Terrain war ziemlich flach, aber in Vertiefungen lagen 1–2 Meter Schnee. Die Schneedecke, die manchmal so fest war, daß sie das Pferd trug, war außerordentlich tückisch, denn sie barst alle Augenblicke; ich wurde dann aus dem Sattel geworfen, das Pferd sprang und hüpfte wie ein Delphin und ertrank beinahe in dem mehlfeinen, trocknen Schnee. Wir mußten daher umkehren und anderswo unser Glück versuchen.
Lobsang, der stets achtsam war, wenn wir uns in einer kritischen Lage befanden, suchte einen besseren Übergang. Wir mußten auf jeden Fall über die Rinne, die Männer traten daher einen Pfad im Schnee aus, auf dem die Tiere einzeln geführt wurden. Mit den Pferden ging es am besten, aber die Maulesel fielen oft ungeschickt um und waren schuld, daß wir lange aufgehalten wurden. Wie weit erstreckten sich diese Schneefelder? Sie kosteten uns viel Zeit und verdeckten das bißchen Gras, das vielleicht noch in irgendeiner Schlucht stehen konnte. Langsam wie Schnecken kamen wir vorwärts. Ich ging, durch den Schnee stampfend, zu Fuß; mein Pelz war so schwer wie Blei. Aber nach mehrstündiger, anstrengender Arbeit erreichten wir doch die rechte Uferterrasse der Erosionsrinne, wo nicht soviel Schnee lag, und kamen dort schneller vorwärts.
Lager 287 war das ödeste, dessen ich mich von allen meinen Reisen erinnere – das Sandmeer der Takla-makan-Wüste ausgenommen! Hinter uns schlängelte sich unser Weg wie eine kreideweiße Linie durch den weißen Schnee und auch vor uns war alles mit Schnee bedeckt. Die Tiere wurden möglichst dicht aneinander gebunden und erhielten abends Gerste.
Nachdem die Tagesarbeit getan war, zündete ich mir zwei Lichter an – sonst hatte ich nur eines – und stellte die Bilder meiner Eltern und Geschwister auf eine der Kisten in einer Reihe auf, wie ich es schon so manchen Weihnachtsabend in Asien getan hatte. Halb neun Uhr ging der Mond prachtvoll über den Gebirgen im Ostnordosten auf, und um neun Uhr war die Kälte auf 27,1 Grad hinuntergegangen. Im Zelt konnte ich das Quecksilber nicht dazu bringen, über -20 Grad zu steigen! Meine Hände wurden so klamm, daß ich kein Buch halten konnte, sondern zu Bett gehen mußte. Und das war auch das beste, was ich tun konnte – so vergaß ich das Weihnachtsfest mit all seinen teuern Erinnerungen und seine einsame Wehmut.
Aber die Kälte sank auf 38,6 Grad! Ein Pferd lag hartgefroren auf seinem Platz in der Reihe; die anderen standen schlaff mit hängendem Kopf und großen Eiszapfen am Maul. Auch der erste Feiertag brachte uns gutes Wetter. Ich aber sehnte mich beinahe nach einem Schneesturm. Verfolgung hatte ich zwar hier nicht zu fürchten, aber falls etwa eine turkestanische Karawane nach Kisil-unkur hinabzog, konnte sie unsere Spuren im Schnee finden und erzählen, daß wir doch den Weg nach Tibet eingeschlagen hätten! Schneetreiben dagegen hätte alle Spuren verwischt.
Indessen arbeiteten wir uns in östlicher Richtung durch den Schnee weiter. Eine Quelle hatte da, wo sie entsprang, offenes Wasser, so daß alle Tiere getränkt werden konnten. In einer Schlucht mit Japkakstauden machten wir halt. Die Tiere fielen gierig über die dürren, harten Kräuter her, die auch uns herrliches Feuer schenkten; in meinem Zelt war es diesen Abend schön warm. Ich freute mich bei dem Gedanken, daß die Tage jetzt wieder länger würden, und subtrahierte die Länge der zurückgelegten Strecke jedes Tages von der Entfernung, die uns noch von dem Tong-tso trennt. Ach, wären wir doch erst dort! – Aber auch dort sind wir erst am Nordrand des weißen Fleckes! Wie unendlich weit müssen wir noch marschieren!
Am zweiten Feiertag zogen wir in demselben ebenen Tal zwischen mittelhohen Bergen nach Osten hinauf und benutzten einen Pfad, den Pantholopsantilopen ausgetreten hatten. Die Schneemenge nahm ab; nur stellenweise verursachte der Schnee uns Arbeit, während er sonst mit einer pergamentartig zähen Kruste bedeckt war. Nachdem wir das Lager in einer völlig sterilen Gegend aufgeschlagen hatten, hielt ich mit Abdul Kerim Rat. Wir hatten nur noch zwei Sack Gerste! Ich sah es dem Karawanenführer an, daß er geweint hatte, und mein Zorn machte sich infolgedessen nicht Luft; auch die anderen waren betrübt und verwundert; noch hatte ich mich nicht ausgesprochen, aber sie sagten sich selbst, daß Chotan nicht unser Reiseziel sein könne. Die Leute hatten noch Tsamba auf drei und Reis auf zwei Monate. Ich erteilte infolgedessen Befehl, die Tiere auch damit zu füttern, sobald die Gerste verzehrt sei; nur ein zwei Monate reichender Vorrat müsse für die Leute unberührt bleiben. Bei solchen Beratungen versammelten sich die anderen draußen vor dem Zelt. Nur Lobsang war so ruhig, als gehe ihn die ganze Sache nichts an; wenn er die Tiere hütete, hörte man ihn pfeifen und singen. Ich hatte ihn am liebsten, vielleicht lag das daran, daß er ein Tibeter war. Aber auch alle die anderen hatte ich gern, es waren prächtige Menschen. Abends wurden wieder Hymnen an Allah gesungen; die Leute begriffen jetzt, daß unsere Lage mehr als kritisch war!
Am nächsten Tag brachen wir zeitig auf, und ich ritt wieder an der Spitze. Wir hatten alle entsetzliche Kopfschmerzen, die Höhe war ja auch kolossal, 5378 Meter! Wir hatten erst 2 Kilometer zurückgelegt, als ein schwacher Schimmer auf den Abhängen im Norden dünnen Graswuchs anzeigte. Das war ein Weihnachtsgeschenk! Hier wurde das Lager aufgeschlagen. Die Tiere liefen schon nach dem Gras hin, als sie noch gar nicht von den Lasten befreit waren. Und wie fraßen sie! Es war eine Freude, ihnen zuzuschauen. Suän führte einen komischen Tanz zwischen den Zelten auf. Alle waren gehobener Stimmung. Diesmal hörte ich keine Hymne an Allah; der Karawan-baschi, der eine gewisse Verantwortung für das Seelenheil aller seiner Mohammedaner zu haben glaubte, betete abends, wenn die Sonne unterging, nur eines der fünf täglichen Gebete. Unser Brennholzvorrat war zu Ende, aber Lobsang entdeckte ein holziges Moos, das lange glühte und herrlich wärmte. Schon jetzt sah ich, daß, wenn wir uns dereinst trennen müßten, ich Lobsang am meisten vermissen würde.
Am 28. Dezember hingen bleischwere Wolken über dem Land, und wir hatten daher keine so strenge Kälte. Wir zogen direkt östlich weiter und allmählich bergab, bis wir an eine Quellader gelangten, deren Temperatur +0,9 Grad betrug; das Wasser erschien uns warm; es bildete in dem flachen Tal gewaltige Eisschollen, aus der Ferne hatten sie wie ein See ausgesehen. Während die Männer am Rand des Eises die Zelte aufschlugen, mußte Puppy sich, wie gewöhnlich, auf einer zusammengelegten Filzdecke mit ihren Kleinen beschäftigen. Der eine kleine Hund hatte einen weißen Fleck auf der Stirn und war mein besonderer Liebling, denn er jaulte nie, wenn es nicht nötig war. Gerade heute hatte er die Augen geöffnet und einen flüchtigen Blick geworfen auf die unwirtliche Welt, die ihn umgab. Da starb er uns ganz plötzlich, noch ehe mein Zelt fertig war, und wir begruben ihn unter einigen Steinen, damit er nicht von dem gelben Hund gefressen würde. Mama Puppy suchte ihn eine Weile, beruhigte sich aber bald und gab sich mit dem letzten der Vier zufrieden. Hoffentlich behielten wir wenigstens dies kleine Vieh.
Auf dem Weg nach dem nächsten Lagerplatz, Nr. 292, zogen wir noch immer in dem bequemen Längstal, das uns seit dem heiligen Abend einen so vorzüglichen Weg geboten hatte, weiter. Das Minimum war wieder auf -29,9 Grad gesunken; es hatte den Anschein, als zögen bisweilen Kältewellen über das Land. An einer Stelle hatten wilde Yaks ihre Visitenkarten hinterlassen, und die Männer sammelten uns einen Sack voll. Augenscheinlich kommen diese Tiere nur im Sommer hierher; der Winter hier ist auch ihnen zu kalt. Ein Maulesel starb, noch ehe wir eine von leidlicher Weide umgebene, zugefrorene Quelle erreichten. Bisher war alles noch gut gegangen, aber schnell ging es nicht. In den letzten sechs Tagen hatten wir nur 75 Kilometer zurückgelegt.
30. Dezember. Wenn das Minimum -18 Grad und die Temperatur mittags um eins -16 Grad beträgt, ist der Unterschied zwischen Tag und Nacht nicht groß. Jetzt aber war der Himmel außerdem mit undurchdringlichen Wolken bedeckt; es schneite und war halb dunkel, die Leute hatten keine Ahnung von der Marschrichtung und fragten wiederholt, wo die Sonne aufgehe. Noch eine Tagereise weit half uns das Längstal, in dem wir nun abwärts zogen bis an einen Talknoten, wo eine riesige Eisscholle lag. Unterwegs sahen wir eine Herde von 22 Wildschafen, die, fett und gewandt, einen Geröllabhang hinauf flüchteten und ein polterndes Herabrollen lockerer Steine verursachten.
Am Abend teilte ich Abdul Kerim, Gulam und Kutus mit, daß wir unseren Weg nach dem Innern Tibets fortsetzen und über den Arport-tso nach dem oberen Brahmaputra ziehen würden! Ich eröffnete ihnen jetzt auch meine Absicht, die Reise in Verkleidung zu machen, um ganz unbemerkt zu bleiben. Bestürzt fragten sie, ob ich mich nicht zweifelloser Lebensgefahr aussetze? Aber ich beruhigte sie, es werde schon alles gut gehen, wenn nur sie meinen Befehlen in jeder Hinsicht gehorchten! Die Hauptsache sei, daß wir alles täten, um unsere Tiere zu retten; gehe die Karawane verloren, so werde es uns nicht möglich sein, unser Ziel zu erreichen. »Ja,« antwortete der Karawanenführer, »wenn wir nur so gute Weide finden, daß die Tiere sich satt fressen und ausruhen können, halten sie es gut und gern noch zwei Monate aus; lange Tagesmärsche können sie aber nicht machen.«
Gerade hier standen wir an einem Scheideweg. Unser Tal ging in ein anderes über, das von den südlichen hohen Jochen, einem Teil des Kara-korum-Kammes, herabführte. Der vereinigte Fluß strömte nordwärts und mußte der Oberlauf des Kara-kasch-darja sein, in dessen unterem Tal, am Chotan-darja, ich vor vielen Jahren einmal beinahe das Leben eingebüßt hatte! Jetzt handelte es sich darum, ob wir bergauf oder bergab ziehen sollten, und um zu erforschen, welche Richtung die beste sei, beschloß ich, den letzten Tag des Jahres zu opfern und Abdullah nach Südosten, Tubges aber nach Nordosten hin auf Rekognoszierung auszuschicken. Da wir in jedem Fall über das Eisfeld hinübermußten, wurde ein Sandweg gestreut.
Die 6000 Rupien, die Oberst Dunlop Smith mir aus Indien geschickt hatte, wurden nun in zwei Säcke gepackt, weil diese sich leichter tragen ließen als die Holzkisten, die, wenn wir einmal gar nichts anderes mehr hatten, ja auch als Brennholz hätten dienen müssen. In jedem Lager wurde unsere Last sowieso leichter, da der Proviant zusammenschrumpfte und ich von Zeit zu Zeit ein ausgelesenes Buch fortwarf. Aus meinem Elternhaus hatte ich den halben Jahrgang einer schwedischen Zeitung erhalten, die uns nun sehr zustatten kam, wenn unsere Lagerfeuer angezündet werden sollten. Noch besaßen wir neun Schafe, aber wir sahen die Zeit kommen, wo das Fleisch zu Ende sein mußte. Auf Wild konnten wir einstweilen kaum rechnen.
Der Neujahrstag 1908 brachte strahlenden Sonnenschein – ein gutes Omen für all die dunkeln Rätsel, die dieses Jahr in seinem Schoße trug. Die beiden Kundschafter brachten die gleiche Meldung: keinerlei Hindernisse. Ich ließ sie daher miteinander beraten und selbst entscheiden, welcher Weg der beste sei. Sie stimmten für Abdullahs Weg, der aufwärts nach Südosten führte. Der Weg war ausgezeichnet. Am Eingang des Tales fanden wir sogar zwei kleine runde Steinmauern, die aber schon viele hundert Jahre alt sein konnten. Ein toter Yak wirkte sehr belebend, so seltsam dies klingen mag. Immer höher ging es, bis an einen Punkt, von dem aus wir im Hintergrund des Tales hohe Schneeberge mit Gletschern erblickten. Dort machten wir halt, und ich schickte Kundschafter talaufwärts. Sie erklärten den Weg für unmöglich und verlangten, daß Abdullah Prügel erhalten solle! Da dieses Verfahren aber unsere Lage nicht verbessert hätte, kam er mit mündlicher Strafe davon. Er gestand, gar nicht soweit, wie wir jetzt, in das Tal hineingegangen zu sein; aber bei seiner Rückkehr hatte er sich als Lohn für seine Rekognoszierung sogar noch eine Handvoll Tabak ausgebeten und auch erhalten. Ich sagte ihm, daß dies eine schlechte Spekulation gewesen sei und er den Rauch meines Tabaks nie wieder sehen werde!
Es blieb uns jetzt nichts weiter übrig als zu lagern. Heftiger Südwestwind wehte und von allen Kämmen und Gipfeln stäubten förmliche Büschel mehlfeinen Schnees herab. Als die Männer nach Brennmaterial suchten, waren sie wie Polarvölker angezogen. Genau besehen, hatte der Neujahrstag uns also kein gutes Omen gebracht, eher das Gegenteil – einen Rückzug.
Dieser begann früh am 2. Januar und führte uns wieder abwärts, am Lager 293 vorbei und über die Geröllabhänge am Ostrand des Eisfeldes weiter. An einer Stelle bildete das Quellwasser mitten im Eis einen gemütlich sprudelnden Springbrunnen. Nachdem das Tal eine Biegung nach Ostnordosten gemacht hatte, lagerten wir an einer Ecke, wo der Flugsand sich zu kleinen Dünen angehäuft hatte.
Ich sehnte mich aus diesem Labyrinth von Bergen und Tälern, deren Wasser noch nach Ostturkestan hinunterströmt, hinaus. Noch befanden wir uns im Gebiet des Kara-kasch-Flusses und mußten früher oder später über einen Paß hinüber, der dieses Gebiet von den abflußlosen Salzseebecken des Tschang-tang scheidet. Am 3. Januar gingen wir wieder eines der Quelltäler des Kara-kasch hinauf und lagerten in seinem oberen Teil, wo heftiges Schneetreiben die ganze Landschaft verhüllte. Dies Wetter hielt bis in die Nacht hinein an; das Merkwürdigste war, daß wir die Sterne durch den dichten Schnee funkeln sahen. Vorher hatten wir blauschwarze Wolken über uns gehabt, ohne eine einzige Schneeflocke. Seltsames Land!
Der nächste Tag war ein Ruhetag. Die Tiere hatten lange nicht getrunken, Brennmaterial war überreichlich vorhanden, und das Bachbett lieferte Eis, das in den Kesseln aufgetaut wurde.
In dieser Gegend ist das Gebirge nicht zusammenhängend, es bildet scharfe Nadeln und Pyramiden, die keine große relative Höhe haben. Die ganze Nacht hindurch schneite es, aber als wir am Morgen des 5. Januar auf einem von Kutus rekognoszierten Weg nach Osten hin weiterzogen, wurde das Wetter schön. Auf schneebedecktem Boden ging es einen kleinen Paß (5485 Meter) hinauf, an dessen anderer Seite aber noch ein Arm des Kara-kasch unsern Weg kreuzte. Wir mußten heraus aus diesem ewigen Gewirr, das uns nur Zeit raubte und unsere Kräfte mitnahm. Solange die Tiere sich hielten, hatten wir allerdings noch keine Veranlassung zum Klagen. Ich freute mich über jeden Tag, der uns dem Frühling einen Schritt näher brachte und uns von der Winterkälte entfernte. Sie durchdringt alles. Meine Füße sind gefühllos. Gulam knetet sie und massiert mich jeden Abend über dem Feuer, aber es gelingt ihm nicht, wieder Leben hineinzubringen. Der Inhalt des Tintenfasses gefriert zu einem Eisklumpen, der am Feuer aufgetaut werden muß. Wenn ich schreibe, muß ich über das Kohlenbecken gebeugt sitzen, und trotzdem erstarrt mir die Tinte in der Feder, die ihrerseits wieder am Papier festfriert! Seltsamerweise habe ich ein unwiderstehliches Verlangen nach eiskaltem Wasser und trinke es viel lieber als heißen Tee, aber das Wasser, das sich uns gewöhnlich bietet, ist durchaus nicht von der besten Sorte. Gewöhnlich schaufelt Tubges mit einem Spaten in einen leeren Sack Schnee, der dann geschmolzen wird. Gulam versucht mich zu überreden, doch lieber Tee zu trinken, und kann es nicht begreifen, daß ich von dem Wasser nicht krank werde. In der Nacht hat das Durstigsein jedoch keinen Zweck; ein Becher Wasser, der unmittelbar neben dem Kohlenbecken steht, gefriert innerhalb einer Viertelstunde bis auf den Grund.
Nach 33,4 Grad Kälte und einer windigen Nacht, die einige unserer Tiere veranlaßte, im Leutezelt Schutz zu suchen, durchzogen wir das weite Tal, in das viele andere einmünden, auf dem Weg nach dem nächsten Paß. Auf der Südseite ließen wir mächtige, schneebedeckte Berge hinter uns zurück. Am Fuß eines Hügels ging ein wilder Yak in Gedanken versunken spazieren. Als er unseren schwarzen Zug auf dem weißen Schnee bemerkte, stürmte er auf uns los, aber bald witterte er Gefahr und schwenkte in wilder Flucht mit beiden Hunden auf den Fersen nach Norden ab. Es war ordentlich ermunternd, in dieser gottverlassenen Gegend einmal wieder ein Zeichen von Leben zu sehen. Denn jetzt hatten wir auch unseren bisherigen Begleiter, den Raben, verloren.
Steil und langsam ging es nach dem Paß hinauf; seine Höhe betrug 5488 Meter. Unerwarteterweise stellte er sich als eine Schneegrenze heraus, d. h. auf der Ostseite des Passes gab es keinen Schnee. Daher mußten wir, als wir an der anderen Seite nach einem weiten offenen Talkessel hinabzogen, vor allem darauf bedacht sein, daß uns am Abend das Wasser nicht fehle. Fern im Süden zeigte sich eine Eisscholle, aber sie lag zu weit außerhalb unseres Kurses. Wir füllten daher bei der letzten Schneewehe zwei Säcke mit Schnee, lagerten, wo spärliche Stauden uns Brennstoff gaben, und ließen fünf Leute mit allen Tieren südwärts nach dem Eis gehen und sich dort Wasser und Weide suchen.
Die Wasserfrage war jetzt die gefährlichste. Denn es hatte den Anschein, daß wir weiter ostwärts auf Schnee nicht würden rechnen können. Und wir konnten nicht, wie das vorige Mal, nach Wasser graben, denn jetzt war die Erde steinhart gefroren. Ich mußte vorsichtig zuwegegehen; wir hatten das große offene Meer vor uns; wir mußten uns von einem Nothafen nach dem anderen hintasten und scharfen Ausguck halten, um uns nicht einer Katastrophe auszusetzen. Ich befahl daher, daß nun, da unsere Lasten so bedeutend zusammengeschrumpft waren, stets zwei Tiere Säcke mit Schnee oder Eis tragen sollten. In jedem Lager blieb eine leere Konservendose zurück; ich dachte dabei weniger an die bald bevorstehende Zeit, da die herrlichen Sachen aus Simla alle verspeist sein würden, als daran, daß unsere Tiere mit jedem Tag leichtere Lasten haben müßten. Die Gesteinproben, die ich sammelte, wogen nicht schwer. Leider war der Gerstevorrat längst zu Ende, aber da, wo es schlechtes oder gar kein Gras gab, wurden für unsere Tiere Klöße von geröstetem Mehl geknetet.
Die andern sollten am 7. wiederkommen, so war ihnen gesagt worden, und wir warteten bis Mittag. Endlich kamen sie, man sah deutlich ihre schwarze Schar; sie marschierte unausgesetzt, näherte sich uns aber nicht! Es waren nur einige schwarze Steinblöcke, die sich in der Luftspiegelung bewegten! Eine Weile später erschien jedoch Suän mit der Meldung, daß einige der Tiere ausgerissen seien; die Folge davon war, daß wir den ganzen Tag in diesem erbärmlichen Lager bleiben mußten.
Wie langsam schreiten an einem solchen Tag die Stunden dahin! Ich sitze in meinem eigenen Zelt wie ein Gefangener. Die Kälte und der Wind machen jegliches Arbeiten im Freien unmöglich. Solange die Sonne am Himmel steht, geht es noch, da sehe ich die Gebirge, diese stillen, öden, einsamen Gebirge, die nie von Menschen durchwandert werden, und ich sehe, wie die Sandsäulen wirbelnd im Winde tanzen. Wenn aber die Sonne untergegangen ist, beginnt der endlose Winterabend, und dann höre ich nur den Sturm draußen heulen. Geduld! Einmal wird es auch wieder Frühling! Die braune Puppy und ihr Sohn leisten mir Gesellschaft, meine Unglücksgefährten. Sie haben ihre Matte in einer Ecke meines Zeltes und erhalten ihre Mahlzeiten zur selben Zeit, wie ich die meinen. Der Kleine, den wir den schwarzen Puppy nennen, macht mir unbeschreiblich viel Spaß. Er hat angefangen, die Welt und das Leben um ihn herum zu beobachten. Wenn die großen Hunde vor dem Zelt bellen, dreht er den Kopf und knurrt leise. Wenn die Mutter ihn in der Kälte auf der Matte allein läßt, jault er und findet das sehr unfreundlich. Er trabt im Zelt umher, obgleich er noch so unsicher auf den Füßen ist, daß er unaufhörlich hinpurzelt. Vor dem Kohlenbecken hat er bereits einen höchst notwendigen Respekt und zieht schnaubend das Näschen kraus, wenn er ihm einmal zu nahe gekommen ist. Manchmal kommt es vor, daß er mitten in der Nacht, wenn es im Zelt gegen 30 Grad kalt ist, seine Mutter nicht findet; dann weckt mich sein jämmerliches Gequiek, und ich nehme ihn zu mir unter die Pelze, eine Aufmerksamkeit, die er sehr zu schätzen weiß. Eines Morgens weckte er mich dadurch, daß er aus eigenem Antrieb auf mein Kopfkissen geklettert war und nun in mein Bett zu kommen suchte; seitdem war mir um seine Zukunft nicht mehr bange, er würde sich schon durch diese Welt zu bringen wissen, und das tat er auch.
Am 8. gingen wir über einen kleinen, 5355 Meter hohen Paß. Auf dem Weg dorthin zahlten ein Pferd und ein Maulesel der Vergänglichkeit ihren Tribut. Da, wo wir das erste Gras fanden, in einem Tal jenseits des Passes, wurde das Lager 299 in 5165 Meter Höhe aufgeschlagen. Wasser gab es nicht, aber wir hatten vier Säcke Eis. Sieben Schafe waren noch vorhanden, und der Rabe hatte sich jetzt wieder eingefunden.
Das Hauptziel der nächsten Tagereise war also eine Stelle, wo wir Wasser für die Tiere fänden. Mein bewährter Ladakischimmel, den ich noch immer ritt, pflegte jeden Morgen mein Waschwasser zu erhalten, und um es ihm nicht ungenießbar zu machen, verzichtete ich auf die Seife. Von einer ganz kleinen Schwelle konnten wir endlich die Aussicht genießen, nach der ich mich schon solange gesehnt: die große, offene Hochebene, die wir im Herbst 1906 durchzogen hatten! Im Ostsüdosten erkannte ich leicht den vorspringenden Berg wieder, an dem wir damals entlanggezogen waren. Wir konnten daher nicht mehr als zwei Tagereisen vom Aksai-tschin-See entfernt sein. Während einiger Tagereisen war ich jetzt ungefähr demselben Weg gefolgt wie Crosby; am See mußte ich nun meine eigene Route vom Jahre 1906 überschreiten, dann mußten wir nach dem Arport-tso ziehen und wie im vorigen Jahr Bowers, Deasys, Rawlings und Zugmayers Wege kreuzen.
Das ganze Land lag unter einem tiefhängenden Wolkendach. Nach einem nur 5 Kilometer langen Marsch fanden wir die ersehnte offene Quelle mit herrlichem Wasser (+0,6 Grad), an der das Lager Nr. 300 (!) in einer Höhe von 4977 Meter aufgeschlagen wurde. An diesem Abend sangen meine Leute wieder fröhliche Lieder, und Suän tanzte ihnen seinen allerverrücktesten Tanz vor (Abb. 302, 303). Wir waren wieder oben auf dem » Dach der Welt«, und das ganze öde Tibet lag vor uns.
302, 303. Suän, der maître de plaisir der Karawane, tanzend.