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Ich habe die Schilderung meines Lebens an dem ehrenreichen See nicht mit Berichten über unsere politischen Besorgnisse gestört. Es genügt zu sagen, daß es mir gelang, uns dort einen ganzen Monat zu halten. Oft kamen Reiter und andere Boten, um sich über mich zu beschweren, und dann antworteten meine Leute ganz einfach: »Der Sahib ist draußen auf dem See, versucht ihn zu fangen, wenn ihr könnt; er ist der Freund des Seegottes und kann so lange zwischen den Zweigen des heiligen Baumes bleiben, wie er will.« Und wenn ich dann zurückkam, waren sie schon abgezogen. Infolge der Bootfahrten hatten sie kein Mittel, meine Bewegungen zu kontrollieren. Aber als wir bei Tschiu-gumpa lagerten, wurden sie energischer. Während meiner Abwesenheit kam ein Bote nach dem anderen mit dem Befehl, daß ich mich sofort nach Parka begeben und von dort die Reise nach Ladak fortsetzen solle. Am 23. August schickte ich Robert und Rabsang nach Parka, um mich mit den Behörden zunächst vernünftig auseinanderzusetzen; man wollte mich jedoch den Langak-tso, mein nächstes Ziel, unter keiner Bedingung besuchen lassen; wollte ich einen Monat oder ein Jahr in Tschiu-gumpa bleiben, so gehe das sie nichts an, da das Kloster nicht in ihrem Distrikte liege, aber der westliche See stehe unter ihrer Aufsicht. Sie rieten mir jedoch, um meiner selbst willen schleunigst nach Parka zu kommen; sie würden gleich morgen 15 Yaks schicken, die mein Gepäck tragen sollten!
Aber den Langak-tso wollte ich sehen, was es auch kostete! Als daher am folgenden Morgen die 15 Yaks eintrafen, entschloß ich mich schnell dazu, Tsering, Rabsang und vier Mann mit der Bagage nach Parka zu schicken, während Robert und die anderen sechs mich nach dem Langak-tso begleiteten. Das Boot und das bißchen Gepäck, das wir mitnahmen, konnten unsere sechs eigenen Pferde und der letzte Maulesel aus Poonch leicht tragen. Die Yaks wurden beladen, und meine Leute verschwanden hinter den Hügeln. Meine eigene kleine Karawane hatte Befehl, gerade da am Ufer des Langak-tso zu lagern, wo der alte Kanal mündet. Ich selbst ging mit Robert und zwei Mann zu Fuß und führte eine Präzisionsnivellierung der Landenge zwischen den beiden Seen aus. Zugleich nahm ich eine Karte über den Lauf des Kanals auf. Das Maßband wurde an einem Ruder, das Robert trug, festgenagelt; das Universalinstrument trug ich selbst. Der Abstand zwischen Stange und Instrument belief sich auf 50 Meter und wurde von unseren beiden Gehilfen mit Meßbändern aufgemessen. Die Stange wurde auf eine eiserne Schüssel gestellt, damit sie nicht in den weichen Boden einsinken konnte.
Im Jahre 1812 wurden die Seen von Moorcroft besucht, der noch keinen Kanal zwischen ihnen fand. Im Oktober 1846 fand Henry Strachey dort einen 100 Fuß breiten und 3 Fuß tiefen Seearm. Landor (1897) erklärt, daß an irgendwelche Verbindung gar nicht zu denken sei, weil, nach ihm, die niedrigste Stelle der Landenge 300 Fuß hoch ist! Ryder fand im Spätherbst des Jahres 1904 kein vom Manasarovar ausströmendes Wasser, hörte aber von den Eingeborenen, daß während der Regenzeit ein wenig Wasser durch den Kanal abfließe. Sherring sah ebenfalls kein fließendes Wasser, hält es aber für wahrscheinlich, daß der See nach regenreichen Sommern übertritt. Ich selbst folgte dem Kanalbett von einem See zum anderen und fand, daß im Jahre 1907 kein Wasser von dem östlichen nach dem westlichen See abfloß und ebensowenig war dies nachher, im Jahre 1908, der Fall, obwohl meine beiden Besuche in die Regenzeit fielen. Es würde auch gehöriger Regengüsse bedürfen, um den Manasarovar übertreten zu lassen, denn der höchste Punkt des Kanalbettes liegt etwas mehr als 2 Meter über dem Spiegel des östlichen Sees.
Der Umstand, daß verschiedene Reisende in verschiedenen Jahren verschiedene Angaben geliefert haben, ist indessen sehr leicht zu erklären. Es hängt alles von den Niederschlägen ab; sind diese reichlich, so steigt der Spiegel des Manasarovar, sind sie sehr reichlich, so fließt sein Wasser nach dem Langak-tso ( Rakas-tal) ab. Ist der Sommer, wie im Jahre 1907, trocken, so erhält der Langak-tso keinen Zufluß durch den Kanal, wohl aber auf unterirdischem Wege. Im großen ganzen aber sinken auch diese beiden Seen, wie alle anderen Seen in Tibet, und es naht die Zeit, in der auch der unterirdische Zufluß abgeschnürt sein wird und die beiden Seen salzig werden.
Als wir beim langsamen Nivellieren des Kanals an seinen höchsten Punkt kamen, von dem aus sein Bett nach Westen abfällt, warf ich noch einen letzten Abschiedsblick auf den Tso-mavang und hatte ein Gefühl des Verlustes bei dem Gedanken, seine Ufer jetzt, und aller Wahrscheinlichkeit nach für immer, verlassen zu müssen. Denn ich hatte diese Krone der Seen aller Erde im Lichte des Morgenrots und im Purpur des Sonnenuntergangs, im Sturm, im heulenden Orkan, wenn die Wellen sich haushoch auftürmten, in frischen südlichen Brisen, wenn die Wogen wie Smaragd glänzten, im vollen Sonnenschein, wenn der See wie ein Spiegel dalag, im silbernen Mondesglanz, wenn die Berge, nachdem der dunkelgelbe Schein des Abendrotes erloschen war, wie weiße Gespenster dastanden, und in stillen Nächten, wenn die Sterne ebenso klar in der spiegelblanken Seefläche wie droben am Himmelszelte funkelten, kennen gelernt. Ich hatte einen unvergeßlichen Monat meines Lebens auf diesem See zugebracht und war der Freund der Wellen und der Vertraute der großen Tiefen geworden. Noch heute höre ich das melodische Plätschern der rauschenden Brandungswellen, und noch jetzt steht der Tso-mavang vor meiner Erinnerung wie ein Märchen, eine Sage, ein Lied! –
Wir gingen in westlicher Richtung weiter, an schmalen Wasserarmen und Tümpeln mit stagnierendem Wasser entlang; als aber der Abend so dämmerig geworden war, daß ich die Zahlen der Meßstange nicht mehr lesen konnte, gaben wir die Arbeit auf, markierten den letzten Fixpunkt und gingen nach dem Lager, das wir müde in nächtlichem Dunkel erreichten.
Am nächsten Morgen wurde die Arbeit fortgesetzt. In der Nacht hatten wir 5,2 Grad Kälte gehabt, und heftiger Südweststurm erschwerte uns das Ablesen. Der 104. Fixpunkt stand endlich am Wasserspiegel des Langak-tso – und die Nivellierung war fertig! Es fehlt mir hier an Raum, ihre Ergebnisse zu analysieren. Der Kanal geht nach Westnordwest, und die nivellierte Linie ist 9366 Meter lang, also doppelt so lang, als auf den allerneuesten Karten angegeben ist. Der Spiegel des Langak-tso lag 13,45 Meter, 44 Fuß, niedriger als der des Tso-mavang, was mit dem Höhenunterschied auf Ryders Karte, der 50 Fuß beträgt, gut übereinstimmt. Beim 94. Fixpunkt hörte alles Wasser im Bett auf.
Von der Entstehung des Kanals erzählten die Tibeter eine Legende. Zwei große Fische im Tso-mavang waren Todfeinde und jagten einander. Der eine wurde besiegt und, um sich zu retten, rannte er quer durch die Landenge an der Westseite des Sees. Die Krümmungen des Kanalbettes zeigen den Weg, den der fliehende Fisch zurückgelegt hat.
Am 26. August war der Morgen trübe und naßkalt. Schwere Wolkenmassen segelten über die Erde hin als Herolde des Monsunregens, und der Langak-tso lud nicht zum Befahren ein. Aber wir hatten den ganzen langen Tag vor uns, und jeden Augenblick konnten Reiter aus Parka kommen, mich beim Kragen packen und uns, gutwillig oder böswillig, auf den Weg der Pflicht zurückführen!
Der Langak-tso hat eine sehr unregelmäßige Form. Sein Hauptbecken im Süden ist von Felsen umgeben, im Norden hat er eine kleinere Anschwellung, und zwischen beiden läuft ein abgeschnürter Kanal. Was wir immerhin wagen konnten, war über das schmale Wasser in westlicher Richtung und von dort wieder nach Südosten zu rudern, nach einer Stelle am Ostufer, wohin das Lager unterdessen verlegt werden konnte. Es ließ sich in einigen Stunden abmachen, wir nahmen daher nichts anderes mit als Mast und Segel.
Tundup Sonam und Ische waren meine Ruderer, und um ½6 Uhr fuhren wir ab. Ein vorspringender Berg im Süden gewährte uns Schutz vor dem Wind. Als wir ihn aber passiert hatten, drang plötzlich das ganze Wasser des Sees mit schäumenden, rollenden Wellen, Spritzwasser und drohenden Sturzseen auf uns ein! In dem schmalen Hals, der auf der Backbordseite gähnte, wurden die Wellen zusammengepreßt und nahmen unregelmäßige, ganz überraschende Formen an. Zwischen ihnen schaukelten Haufen von Seegras; das Wasser war hellgrün und ebenso klar und süß wie das des Tso-mavang. Wir waren erst ein kleines Stück hinter dem Vorgebirge; wäre es nicht besser, umzukehren? Nein, nie umkehren, nie kapitulieren, immer vorwärts! Naß wurden wir, aber wir hielten uns gut im Gleichgewicht und parierten die hinterlistigen Angriffe der rollenden Wellen. Frisch drauf losgerudert, bald werden wir unter der großen Landspitze des Westufers Schutz finden! Ich konnte sogar loten und fand, daß die größte Tiefe 16,6 Meter betrug; der Seegrund war beinah eben. Vier Stunden hatten wir gegen den See gekämpft, als wir vor dem Winde geschützt auf der Nordseite der Landspitze landeten.
Hier zogen wir das Boot aufs Land und rekognoszierten. Die Landzunge zeigt nach Nordosten und ist mit Flugsand bedeckt, der in beständiger Bewegung ist. Auf der Uferebene im Südwesten wandern gelbe Tromben, sich wie Korkzieher drehend mit der Windrichtung, und unsere Landspitze erhält ihre angemessene Portion von dieser Sandbelastung. Nach Norden ist die Düne sehr steil; von Zeit zu Zeit stürzt neuer Sand ihre Wand herab und gleitet etwas in den See hinein, wo ihn die Wellen wie nichts fortschwemmen. Von dem scharfen Kulminationskamm der Düne weht der Flugsand wie ein dichter Federbusch nach dem See hin, dessen Wasser wohl 200 Meter weit in der Windrichtung gelb schimmert, von Myriaden Sandkörnern, die zu Boden sinken, um einen Unterwassersockel zu bilden, auf dem die Landzunge dann weiter in den See hineinwachsen kann. Noch eben war der Wind heftig, jetzt haben wir Sturm. Geduld! Zurückgehen ist unmöglich. Der Flugsand liegt jetzt so dicht über dem See, daß das östliche und nördliche Ufer nicht zu sehen sind; wir könnten ebensogut auf einer Düne im Herzen der Wüste Taklamakan wartend sitzen!
Wir rutschten auf der geschützten Seite der Düne hinunter. Aber dort, vom Winde abgekehrt, war es noch schlimmer. Wir wurden in Wolken von Sand eingehüllt, der überall eindrang, in Augen, Ohren und Nase, und die Haut auf dem Rücken reizte, wenn er mit dem Körper in Berührung kam. Über uns und seitlich ertönte ununterbrochen das klagende Heulen des Sturmes. Meine Ruderer schliefen oder streiften umher; unsere Fußspuren aber wehte der Wind sofort wieder zu. Ich spielte wie ein Kind im Sand, ließ ihn auf der Leeseite hinabrollen, baute eine kleine Halbinsel, welche die Wellen bald wieder zerstörten und einen Hafendamm, den der See sofort überflutete und durchbrach, und sah zu, wie neue Schichten und Wülste von Seegras am Sandabhange auftauchten und wie der trockne Sand Wasserfälle und Kaskaden bildete, wenn er über sie hinwegrollte. Aber der Sturm wurde nicht schwächer.
Vier Stunden lagen wir dort und warteten. Auf dem Ostufer hatten die Unseren das Lager ein wenig mehr nach Süden verlegt. Wir sahen die Zelte ganz deutlich. Ob wir es doch wagen sollten, uns längs des Ufers nach Süden zu schleichen, um nach der Stelle gegenüber dem Lager zu gelangen? Draußen vor der Landspitze ging der dunkelgrüne See unangenehm hoch, aber wir wurden ja mit den Wellen fertig, die Männer mußten sich nur tüchtig beim Rudern anstrengen. Wir schlichen uns also längs der Küste hin, wo wir etwas Schutz hatten, aber es galt aufzupassen, daß wir nicht in den rasenden Wellengang hinaustrieben. Nachdem wir um zwei Sandspitzen herumgerudert waren, landeten wir auf der geschützten Seite einer dritten, wo das Boot wieder an Land gezogen wurde. Die Südseite der Spitze bedrängte der ganze See mit schweren, donnernden, hochaufspritzenden Wellen. Weiter konnten wir also nicht kommen, kein Lotse würde mit einem Zeugboot solchen Sturzseen gerade entgegengegangen sein. Ich stand oben auf der Landspitze und genoß das herrliche Schauspiel. Roberts Zelt glänzte blendend in der sinkenden Sonne. Wir sahen die Männer, die am Ufer grasenden Pferde und den Rauch des Lagerfeuers, den der Sturm auf die Erde hinabdrückte; die Fahrt dorthin mochte eine knappe Stunde in Anspruch nehmen, aber zwischen uns und ihnen gähnte dieser dunkelgrüne Abgrund von tyrannischen, siegesgewissen Wogen!
Die Sonne geht unter, wir sitzen und warten weiter, betäubt von dem Wettlauf der Luft- und der Wassergeister. Diesmal spielen sie uns einen bösen Streich, und wir fallen darauf hinein. Im Norden erhebt sich der Kang-rinpotsche, klar und hoch wie die Krone eines Königs. Sein Gipfel gleicht dem Tschorten auf dem Grabe eines Großlama. Schnee und Eis, die in vertikalen und schwach geneigten Spalten und auf Absätzen liegen, bilden ein Netzgewebe, das dem weißen Netze einer Riesenspinne auf schwarzen Felswänden gleicht.
Und der Tag, ein langer Tag des Wartens, näherte sich erbarmungslos seinem Ende. Lange Schatten strichen über die weißschäumenden Wogenkämme, die Sonne ging unter und der Pundiberg, unser alter Freund vom Tso-mavang her, glühte wie Feuer im Scheine des Abendrots, als ob die Erde sich geöffnet habe und vulkanische Kräfte am Ufer erwacht seien. Die Stunden schritten dahin, die Wolkenglut erlosch, die Umrisse des Pundi wurden undeutlicher, und zuletzt verschlang sie der dunkle Nachthimmel. Uns umgab Dunkelheit, während auf dem Ostufer das Lagerfeuer der anderen loderte. Unsere Hoffnung ruhte jetzt auf der Nacht und dem Monde. Der Sturm hatte dreimal 24 Stunden getobt, einmal mußte er doch genug haben! Aber er wurde nicht schwächer, und da mein Warten vergeblich blieb und ich mir die Zeit und den nagenden Hunger nicht einmal mit einem Stück Brot und einer Tasse Tee vertreiben konnte, wickelte ich mich in das Segel, bohrte mich in den Sand ein und fiel in einen schweren Schlaf.
Ein paarmal weckte mich der Regen, der auf das Segel herabschmetterte; um vier Uhr erwachte ich infolge der Morgenkälte. Da lag das Land grau in grau und regenschwer. Aber Ische machte trotzdem den Vorschlag, uns hinüberzuwagen, denn der Sturm hatte infolge des Regens ein wenig abgenommen. Wir vergewisserten uns erst, daß alle Geräte in gutem Zustand waren, stiegen dann ins Boot und ruderten nun längs des geschützten Ufers der Landspitze hinaus. Aber kaum hatte das Boot seine Nase über die Spitze, hinausgesteckt, als es einen solchen Stoß erhielt, daß es in den Fugen knackte. »Rudert, rudert so stark ihr nur könnt,« brüllte ich durch den heulenden Sturm, »wir kommen hinüber, ehe das Boot voll ist. Besser naß, als noch 24 Stunden am Daumen zu lutschen!« In S 52° O glänzte die Zeltleinwand weiß im Morgengrauen. Wir kamen bedeutend vom Kurse ab, teilten aber endlich die Sturzseen und steuerten gegen die Schaumkränze auf. Und hinüber kamen wir mit knapper Not! Drüben wurden wir von den anderen empfangen, die uns das Boot an Land ziehen halfen und Frühstück und Feuer bereit hatten.
Namgjal war gerade aus Parka angelangt und brachte die Nachricht, daß der Gova gedroht habe, meine Männer auf den Schub bringen zu lassen, um mich dadurch zu zwingen, den Langak-tso zu verlassen. Schreckschüsse wirken jedoch nicht auf mich! Schlimmer war, daß Puppy seit 48 Stunden verschwunden war und daß auch Schukkur Ali, der gestern morgen nach Tschiu-gumpa zurückgegangen war, um sie zu suchen, seitdem nichts hatte von sich hören lassen. Indessen fand sich Puppy schließlich von selbst wieder im Lager ein, und nun war es Schukkur Ali, welcher verloren war!
Am 28. stürmte es ebenso wie bisher. Wir hörten später von mehreren Tibetern, daß über dem Langak-tso gewöhnlich stürmisches Wetter herrsche und daß er oft vom Sturm aufgewühlt werde, wenn der Tso-mavang ruhig und glatt daliege. Tundup Sonam meinte, daß eben der Tso-mavang ein Liebling der Götter sei, während über den Langak-tso Dämonen und Teufel herrschten. In Gossul-gumpa hatten wir auch erzählen hören, daß letzten Winter, als der See mit blankem Eis bedeckt gewesen, fünf mit Säbeln und Flinten bewaffnete Tibeter schräge über den Eisspiegel gegangen seien, um auf kürzerem Wege nach Parka zu gelangen. Aber mitten auf dem See sei das Eis geborsten, und alle fünf seien von ihren Waffen in die Tiefe hinabgezogen worden.
Ich selbst sehnte mich nach gutem Wetter, um über den See nach den Inseln fahren zu können. Da ich jetzt aber den Gedanken an eine Seefahrt aufgeben mußte, beschloß ich, um den See herumzugehen, um wenigstens eine Karte seiner Uferlinie zu erhalten. Wir nahmen daher sofort das ganze östliche Ufer, das einen regelmäßigen Bogen nach Osten bildet, in Angriff. Der weiße Maulesel aus Poonch trug das Boot. Auf dem Felsen zeigten sich einige Ammonschafe, die Tundup Sonam vergeblich verfolgte. Auch Schukkur Ali erschien in aller Ruhe wieder, nachdem er Puppy vergeblich gesucht hatte, die im wünschenswertesten Wohlbefinden in meinem Zelte schnarchte.
29. August. Man schläft bei Wellenrauschen und Sturmgeheul ein und erwacht wieder bei Sturmgeheul und Wellenrauschen! Wenn man am Ufer entlangreitet, hat man es unausgesetzt in den Ohren. Es ist als ob man am Fuße eines Wasserfalls wohnt. Jetzt folgen wir dem Südufer nach Westen. Hier stürzen die Felsen beinahe überall steil ab, die Gesteinarten sind Porphyr, Granit und Schiefer; der Ufersaum ist außerordentlich schmal und abschüssig und in scharf ausgeprägte Terrassen geteilt. Es geht kopfüber in große Tiefen hinunter, seichte, allmählich abfallende Stellen sieht man nicht. In einer Bucht lag ein Menschenschädel im Wasser und nickte im Wellengeplätscher, nicht weit davon andere Skeletteile. War es einer der Männer, die im Winter ertrunken waren? Bei diesem Fund wurde der Abscheu meiner Leute vor dem Langak-tso, der sogar Menschenleben nahm, noch größer. Ich merkte, daß sie sich fragten, auf was für Tollheiten ich nächstens noch verfallen würde!
Eine scharfe, spitze, nach Nordwesten gerichtete Halbinsel hielt uns auf. Im Hintergrunde der Bucht lagerte eine Karawane, und es freute uns, wieder Tibeter zu treffen, nachdem alle anderen ihre Hand von uns abgezogen hatten. Sie ihrerseits freuten sich, einem Europäer zu begegnen, der am Luma-ring-tso, in ihrer Heimat, gewesen war. Aber es war ihnen unbegreiflich, daß wir auf alle Vorsprünge hinaus- und in alle Buchten hineingingen anstatt auf dem geraden Wege zu marschieren, der sich ein wenig weiter südlich hinzog. Einer von ihnen hielt mir seine Hand mit weitgespreizten Fingern hin und sagte dabei, daß das Südufer des Sees genau so voller Einschnitte sei. Als ich ihnen sagte, daß ich eine Karte des Ufers haben wolle, meinten sie, es sei doch ganz gleichgültig, wie das Ufer aussehe, da außer Eiersammlern niemand hinkomme.
Nachdem wir noch zwei Ausläufer passiert hatten, lagerten wir mitten auf der Spitze des steilen Vorgebirges, in dessen Verlängerung die südlichste der Inseln liegt. Es stürmte, aber hier fanden wir Schutz unter der Felswand, auf deren Gipfel eine Wimpelstange errichtet war. Steinmauern, Lumpen und Eierschalen zeugten von menschlichen Besuchen. Im Osten und Westen des Vorgebirges hatten wir offene Buchten mit hohem Seegang, und in N 19° O sah man die südlichste Spitze der Insel, einen abschüssigen dunkeln Felsen, der sich wie ein gewaltiges Brötchen aus den Wellen erhebt. Wir hatten von dieser Insel, Latsche-to, schon gehört; im Mai legen die Wildgänse hier ihre Eier, und Leute aus Parka kommen über das Eis, um sie zu sammeln. Ich konnte es daher nicht gut unterlassen, sie zu besuchen. Die Insel lag ganz nahe. Wir würden gleich wiederkommen, und Adul könne schon mit dem Braten der Wildgans beginnen, die Tundup während des heutigen Marsches geschossen hatte. Proviant brauchten wir also nicht, aber Robert riet Ische, doch lieber einen Beutel Tsamba mitzunehmen, damit er nicht gar zu lange auf das Mittagessen warten müsse.
Diese beiden saßen an den Rudern, als wir abfuhren. Aber unter dem Vorgebirge war der Schutz trügerisch. Nur zwei Minuten vom Ufer versuchte ich zu loten, das Lot erreichte den Grund jedoch erst, als die Leine einen Bogen bildete, da der Sturm das Boot nordwärts jagte. Dann kam ich auf einen anderen Gedanken. Die Ruderer brauchten die Ruder nur in die Luft zu halten, um das Boot schon vorwärtssausen zu lassen. Aber so leicht ging es ein bißchen weiter schon nicht mehr, da wir dahin kamen, wo das Wellensystem des östlichen offenen Seeteils dem des westlichen begegnete. Hier erhoben sich die Wogen zu Bergen und Pyramiden, und es galt, sie mit den Rudern zu parieren. Wir näherten uns schnell der Insel; ihr Felsen wurde immer höher und sah unheimlich schwarz und drohend aus. Wir waren schon dicht an der Südspitze, als ich einsah, daß es unmöglich sei, hier zu landen. Das aus Schutt und Felsblöcken bestehende Ufer war sehr steil, und in seiner schäumenden Brandung wären wir und das Boot kurz und klein geschlagen worden. Die Lage war kritisch. Robert wollte unter der Nordspitze an der geschützten Seite landen, aber das wäre riskant gewesen, denn der Sturm fegte ungehindert längs der Seiten der Insel hin, und wenn wir nicht im richtigen Augenblick unter Land kämen, würde das Boot auf den großen offenen See hinausgetrieben werden, wo wir vom Nordufer zwei Tagereisen weit entfernt gewesen wären.
Wir schaukelten auf weichstem grünem Kristall auf und nieder; ich steuerte dicht ans Ostufer, wo aber ebenso heftiger Wellengang war. Nun blieb uns keine Wahl. Ich drehte das Boot dem Lande zu und ließ die Männer rudern, als ob es hinter ihnen brenne. Ein unheimlicher Wellenkamm schleuderte uns ans Land. Robert sprang ins Wasser, glitt aus und nahm ein Bad. Ische eilte ihm zu Hilfe. Ich selbst wurde von dem Wasser dreier zerstiebenden Wellen überschüttet, ehe auch ich das Land erreichte. Alle drei waren wir gründlich naß, freuten uns aber, festen Boden unter den Füßen zu haben und trotz des tückischen Sturmes, der uns leicht an der offenen Reede vorbeitreiben konnte, doch nach der Insel hingelangt zu sein.
Nun gingen Robert und ich auf der Insel umher, während Ische Brennmaterial sammelte. Obgleich wir im Schutt langsam gehen mußten, dauerte es doch nur 25 Minuten, um die Insel herumzugehen und ihre Gestalt mit dem Kompaß auszupeilen. Sie ist länglich, zieht sich in nordsüdlicher Richtung hin und besteht aus einer einzigen Klippe, die überall steil nach dem Wasser abfällt. Während des Spazierganges trockneten wir im Wind. Dann zeichnete ich ein Panorama des Gurla Mandatta. Und nachher mußte sich das Fleckchen Erde, auf das uns das Schicksal als Gefangene geführt hatte, eine genauere Untersuchung gefallen lassen. Am nordöstlichen Fuße des Berges ist ein ziemlich flaches Geröllplateau. Hier nisten im Frühling die Wildgänse, und hier lagen noch mehrere Tausend Eier, zu zweien, dreien oder vieren in einem Nest von Steinen und Sand.
Das war ein Fund! Ische hatte zwar einen Beutel Tsamba, aber das war auch alles. Wir hatten Aussicht, hier, wie neulich, die Nacht über bleiben zu müssen, und nun hatten wir ganz unerwartet Proviant für mehrere Monate gefunden! Und einmal würde dieser ewige Wind doch wohl aufhören. Wir spielten Robinson Crusoe und fanden unsere Lage höchst vorteilhaft. Die Eiersammlung war jedoch das Allerinteressanteste. Die Eier sahen so hübsch und appetitlich aus, wie sie zur Hälfte in den Sand eingebettet lagen, und ich stellte mir das friedliche und glückliche Geschnatter vor, das hier im Frühling herrscht, wenn die Gänsemütter sehnsüchtigen Herzens auf ihren harten Nestern sitzen und jeden Morgen die Sonne den Gurla Mandatta mit einem Lichtmeere umfließen sehen.
Wir schlugen zwei Eier auf. Sie waren faul! Wir versuchten es mit anderen, die im Schatten und tiefer im Sande lagen. Sie verbreiteten einen widerlichen Gestank, als die Schale mit einem Knall an dem Steine zersprang. Aber unter etwa 200 Eiern, die wir aufschlugen, fanden wir doch schließlich noch acht, die sich essen ließen, und mehr brauchten wir nicht! Dann halfen wir Ische beim Einsammeln dürrer Pflanzen, die auf den Abhängen standen, und als die Sonne unterging, hatten wir einen gewaltigen Haufen, den wir bei einer kleinen Ringmauer auftürmten. In ihrer Mitte wurde das Feuer angezündet, und wir saßen an die Mauer gelehnt, die uns gegen den Wind schützte. Wir hatten es warm und schön, und die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als Isches Tsambavorrat in drei gleich große Teile geteilt und mit der hohlen Hand statt eines Löffels aus seiner Holzschale gegessen wurde. Unterdessen wurden die Eier in der Glut erhitzt und gedreht und schmeckten dann auch nicht übel. Das schlimmste war aber, daß wir weiter kein Gefäß hatten als Isches kleine Holzschale und er daher jedesmal nach dem Ufer hinuntertraben mußte, wenn einer trinken wollte.
Der Sturm heulte weiter in dem Felsen über uns und in den Löchern und Ritzen der Mauer. Da durchfuhr mich wie ein Blitz der Gedanke: »ist das Boot auch festgemacht?« Wenn es abgetrieben wäre! Dann sind wir verloren. Ja, aber es treibt vielleicht am Nordostufer ans Land, wo die Unseren es abholen und damit nach der Insel herüberkommen können! Nein, es wird von den Wellen gefüllt und von den Zinkscheiben der Bootsschwerter in die Tiefe gezogen! Aber dann können wir ja immer noch morgen früh auf das südlichste Vorgebirge steigen und den Unseren durch Zeichen zu verstehen geben, daß wir Proviant haben müssen. Wir sind in 18 Minuten nach der Insel hingetrieben. Sie können aus den Zeltstangen und Zeltrippen ein kleines Floß bauen, das sie mit etwas Eßbarem beladen und mit dem Winde nach der Insel hintreiben lassen. Und noch können wir auch frische Eier finden.
Das waren die Gedanken, die Robert und ich austauschten, während Ische sich im Stockfinstern nach dem Landungsplatz hinuntertappte. »Wenn wir hier bleiben müssen, bis der See zufriert,« sagte ich, »das dauert noch vier Monate!« Doch in diesem Moment hörten wir Isches Schritte im Sande, und er beruhigte uns mit der Versicherung, daß sowohl das Boot wie auch die Ruder noch da seien.
Nun plauderten wir wieder und unterhielten das Feuer. Aber allmählich schlief Ische ein, und Robert folgte seinem Beispiel. Eine Weile noch saß ich mit meinen Gedanken allein und lauschte dem Donnern der Wellen draußen auf dem weiten offenen See und schaute dem flackernden Spiel der Flammen zu. Dann schlummerte auch ich ein. Hier auf der Insel konnte man sich dem Schlaf mit dem behaglichen Gefühle hingeben, allen Wegelagerern und Wölfen absolut unerreichbar zu sein.
Früh, als es noch dunkel war, regten wir uns schon. Der Sturm hatte sich gelegt, aber unentschiedene Windstöße kamen noch aus verschiedenen Richtungen. Wir rekognoszierten das Fahrwasser und fanden, daß wir ohne Risiko nach dem Festlande gelangen könnten. Vorher aber nahmen wir alles übrige Brennmaterial und stapelten es zu einem hochauflodernden Scheiterhaufen auf, dessen Flammen wie ein riesenhaftes Leuchtfeuer über den See hinstrahlten. Wenn irgendein Tibeter hierhersah, mußte er glauben, daß auf der wüsten Insel ein Spukfeuer brenne.
Der Mond stand hoch, als wir abstießen, und der See war noch wellig. Bald schimmerte aber das schwarze Kap der Lagerspitze aus dem verschwommenen Gebirgshintergrund des Südufers hervor. Mitten im Sunde betrug die Tiefe 34,5 Meter. Wir schrien so laut wir konnten, so daß unser Lärm bald durch ein Feuer auf der Landspitze, nach der unsere Leute hinabgestiegen waren, beantwortet wurde. Und der Wildgansbraten, der so lange auf uns hatte warten müssen, und ein Becher heißen Tees in aller Herrgottsfrühe schmeckten ganz vorzüglich. Aber noch schöner war es, nach dem flüchtigen Besuch der Gänseinsel, die geheimnisvoll und schwarz ihren Delphinrücken im Mondenlicht erhob, ins Bett kriechen zu können! Nie wieder wird mein Fuß ihren friedlichen Strand betreten!